BGE 118 Ia 462 - Drogenhändlerorganisation | |||
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Bearbeitung, zuletzt am 15.03.2020, durch: Sabiha Akagündüz, A. Tschentscher | |||
62. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlichrechtlichen Abteilung vom 8. Dezember 1992 i.S. R. gegen Staatsanwaltschaft und Kassationsgericht des Kantons Zürich (staatsrechtliche Beschwerde) | |
Regeste |
Art. 4 BV, Art. 6 Ziff. 3 lit. d und lit. e EMRK; Recht des Angeschuldigten auf Übersetzungen sowie auf ergänzende Befragung von Belastungszeugen. |
2. Werden Belastungszeugen ohne Beisein des Angeschuldigten rechtshilfeweise einvernommen, müssen dem Angeschuldigten grundsätzlich die Einvernahmeprotokolle vorgelegt werden. Auf entsprechenden Antrag hin ist ihm ausserdem Gelegenheit zu geben, nachträglich schriftliche Ergänzungsfragen an die Belastungszeugen zu stellen (E. 5). | |
Sachverhalt | |
R. ist verdächtig, als leitendes Mitglied einer kolumbianischen Drogenhändlerorganisation tätig gewesen zu sein, welche im Juli 1988 mindestens neun Kilogramm Kokain in die Schweiz einführte. Am 18. Juni 1990 verurteilte das Bezirksgericht Zürich (8. Abteilung) R. wegen qualifizierten Widerhandlungen gegen das Betäubungsmittelgesetz zu 16 Jahren Zuchthaus und 15 Jahren Landesverweisung. Die Verurteilung stützte sich insbesondere auf die belastende Zeugenaussage von Z., der am 8. März 1990 in Deutschland rechtshilfeweise einvernommen worden war.
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Im Berufungsverfahren gegen die erstinstanzliche Verurteilung stellte R. den Antrag, es sei eine Konfrontationseinvernahme mit dem Belastungszeugen Z. durchzuführen. Die II. Strafkammer des Obergerichtes des Kantons Zürich lehnte den Antrag ab und verurteilte R. am 26. August 1991 zu 15 Jahren Zuchthaus und 15 Jahren Landesverweisung. Dagegen erhob dieser kantonale Nichtigkeitsbeschwerde, welche vom Kassationsgericht des Kantons Zürich mit Beschluss vom 6. Juli 1992 abgewiesen wurde.
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Aus den Erwägungen: | |
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a) Gemäss Art. 6 Ziff. 3 lit. e EMRK hat der Angeschuldigte das Recht, die unentgeltliche Beiziehung eines Dolmetschers zu verlangen, wenn er die Verhandlungssprache des Gerichts nicht versteht oder sich nicht darin ausdrücken kann. Den gleichen Anspruch gewährt Art. 4 BV (BGE 106 Ia 216 E. a; vgl. CLAUDE ROUILLER/ ANDRÉ JOMINI, L'effet dynamique de la Convention européenne des droits de l'homme, ZStrR 109 [1992] 253 f.). Nach der Praxis der Rechtsprechungsorgane der EMRK besteht grundsätzlich ein Anspruch auf Übersetzung aller Schriftstücke und mündlichen Äusserungen, auf deren Verständnis der Angeklagte angewiesen ist, um in den Genuss eines fairen Verfahrens zu kommen. Dazu gehören in der Regel die Anklageschrift, die Instruktion des Verteidigers und die wesentlichen Vorgänge der mündlichen Hauptverhandlung (vgl. THOMAS BRAITSCH, Gerichtssprache für Sprachunkundige im Lichte des "fair trial", Bern u.a. 1991, S. 170 ff., 383 ff., 397 ff.; JOCHEN FROWEIN/WOLFGANG PEUKERT, EMRK-Kommentar, Kehl 1985, Art. 6 N 139; THEO VOGLER, Internationaler EMRK-Kommentar, Köln u.a., Art. 6 N 473, 584, je mit Hinweisen). Je nach den Umständen des konkreten Falles können aber weitere Verfahrensbestandteile hinzukommen. Zu denken ist etwa an die Befragung von Zeugen. Wichtig erscheinende prozedurale Vorgänge und Akten müssen demnach - auf entsprechenden Antrag des Angeschuldigten - übersetzt werden (Urteil des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte vom 19. Dezember 1989 i.S. Kamasinski c. A, EGMR Série A, vol. 168, Ziff. 74, 79; vgl. auch unveröffentlichtes Urteil des Bundesgerichtes vom 17. Dezember 1991 i.S. G. F., E. 3a; BRAITSCH, a.a.O., S. 171 f., 406 ff.; PATRICK WAMISTER, Die unentgeltliche Rechtspflege, die unentgeltliche Verteidigung und der unentgeltliche Dolmetscher unter dem Gesichtspunkt von Art. 4 BV und Art. 6 EMRK, Diss. Basel 1983, S. 146 f.). Dies gilt insbesondere für Verfahrensabschnitte, an denen der Angeschuldigte einen Anspruch auf aktive Teilnahme hat (vgl. ROUILLER/JOMINI, a.a.O., S. 254). Strenge prozessuale Anforderungen sind diesbezüglich insbesondere bei schwerwiegenden strafrechtlichen Anklagen wie im vorliegenden Fall zu stellen, wo eine Zuchthausstrafe von über 15 Jahren beantragt worden ist.
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b) Es ist allerdings Sache des Angeschuldigten bzw. seines Verteidigers, entsprechende Anträge auf Übersetzung von wichtig erscheinenden Teilen der Strafprozedur rechtzeitig geltend zu machen (vgl. unveröffentlichtes Urteil des Bundesgerichtes vom 22. April 1988 i.S. Y., E. 2; VOGLER, a.a.O., Art. 6 N 592). Ein pauschaler Grundrechtsanspruch auf Simultanübersetzung der ganzen Hauptverhandlung, der von Amtes wegen durchzusetzen wäre, besteht dagegen nicht. Alles zu übersetzen wäre regelmässig überflüssig und würde das Verfahren übermässig in die Länge ziehen, komplizieren und verteuern. Insofern läge eine vollständige und undifferenzierte Übersetzung aller prozessualen Vorgänge auch nicht im Interesse des Angeschuldigten.
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aa) Dem Gerichtsprotokoll ist nicht zu entnehmen, dass der Beschwerdeführer an der Hauptverhandlung geltend gemacht hätte, er könne die auf Spanisch an ihn gerichteten Fragen nicht beantworten, weil er dem Gang der Verhandlung nicht oder nur teilweise habe folgen können. Es findet sich auch kein Hinweis darauf, dass der Beschwerdeführer verlangt hätte, er wolle gewisse Teile der Hauptverhandlung vom Dolmetscher übersetzt bekommen. Genausowenig hat der Verteidiger beantragt, gewisse wichtig erscheinende Teile der Hauptverhandlung, insbesondere die mündlichen Ausführungen des Anklägers oder die Beratungen des Gerichtes, müssten dem Angeschuldigten übersetzt werden. Es wurde vom Verteidiger lediglich der Antrag gestellt, ein vom Bezirksanwalt eingereichtes Gutachten sei für den Fall zu übersetzen, dass "irgend etwas aus diesem Gutachten zu Lasten" seines Mandanten verwendet würde. Dass dies in der Folge der Fall gewesen wäre, wird vom Beschwerdeführer indessen nicht behauptet. Demgegenüber ist dem Beschwerdeführer die Anklageschrift vor Bezirksgericht übersetzt worden. Hinsichtlich der mündlichen Ausführungen des Anklägers vor Gericht gilt der Anklagegrundsatz bzw. das Prinzip der Immutabilität. Vorbehältlich zusätzlicher Beweisaufnahmen durch das Gericht ist das Hauptverfahren auf den in der Anklageschrift umschriebenen Sachverhalt begrenzt (§ 162 Abs. 1 Ziff. 2 i.V.m. § 283 Abs. 1 StPO/ZH; vgl. BGE 116 Ia 455). Sowohl die erstinstanzliche Hauptverhandlung als auch die Berufungsverhandlung sind nach den Befragungen des Angeschuldigten und den Plädoyers abgebrochen und erst mehrere Monate später nach Durchführung von Beweisergänzungen fortgesetzt worden. Während dieser Zeit lagen die Plädoyernotizen sowohl des Bezirks- als auch des Staatsanwaltes bei den Akten. Der Beschwerdeführer und sein Verteidiger hätten Gelegenheit gehabt, diese Plädoyernotizen zu studieren und notwendigenfalls dazu Stellung zu nehmen oder Übersetzungen von wichtig erscheinenden Passagen zu verlangen.
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bb) Sowohl vor Bezirksgericht wie auch vor Obergericht standen vereidigte Übersetzer zur Verfügung. Neben den einzelnen Befragungen der verschiedenen Angeschuldigten wurden auch bestimmte Vorhalte des Gerichtsvorsitzenden übersetzt. Den Gerichtsprotokollen ist nicht zu entnehmen, dass der Verteidiger im Verlauf der Verhandlungen beantragt hätte, er wolle sich über den Dolmetscher mit seinem Mandanten unterhalten, und dass ihm dies vom Gericht verweigert worden wäre. Sodann ist nicht ersichtlich, dass der Verteidiger an der Hauptverhandlung geltend gemacht hätte, es seien "zum Teil neue Aspekte des Tatsächlichen" zur Sprache gekommen, die er seinerseits mit dem Angeschuldigten besprechen müsse, bzw. dass der Angeschuldigte rechtzeitig vorgebracht hätte, er könne sich mit seinem Verteidiger nicht ausreichend verständigen. Weder hat der Beschwerdeführer einen Verteidigerwechsel anbegehrt, noch hat der Verteidiger geltend gemacht, er könne seinen Pflichten wegen mangelnden Sprachkenntnissen nicht ausreichend nachkommen, oder seine Abberufung als Offizialverteidiger beantragt. Dass entsprechende Begehren im kantonalen Verfahren gestellt worden wären, wird vom Beschwerdeführer nicht behauptet. Gegenteiliges geht auch aus den Akten nicht hervor. Somit erfolgen alle diese erst im nachhinein erhobenen Vorbringen verspätet. Den kantonalen Instanzen kann keine Grundrechtsverletzung vorgeworfen werden, wenn der Beschwerdeführer und sein Verteidiger diesbezüglich keine Verfahrensanträge gestellt haben (BGE 114 Ia 280 E. e; 111 Ia 162 f. E. 1a; vgl. JEAN-FRANÇOIS EGLI, La protection de la bonne foi dans le procès, in: Verfassungsrechtsprechung und Verwaltungsrechtsprechung, Sammlung von Beiträgen veröffentlicht von der I. öffentlichrechtlichen Abteilung des schweizerischen Bundesgerichts, Zürich 1992, S. 239 f.). Soweit die entsprechenden Rügen erst nachträglich erhoben worden sind, kann darauf im staatsrechtlichen Beschwerdeverfahren nicht eingetreten werden (Art. 86 OG). Im übrigen wird im angefochtenen Entscheid ausdrücklich darauf hingewiesen, dass die Kosten eines für die mündliche Instruktion des Verteidigers notwendigen Dolmetschers "im Rahmen der amtlichen Verteidigung zu berücksichtigen" gewesen wären. Auch ausserhalb der Gerichtsverhandlungen und der mündlichen Einvernahmen wäre dem Beschwerdeführer dafür grundsätzlich ein Übersetzer zur Verfügung gestanden. Mangelnde eigene Sprachkenntnisse des amtlichen Verteidigers schliessen somit die ausreichende Wahrung der Verteidigungsrechte nicht aus (vgl. BGE 115 Ia 65 E. c). Es erscheint zwar wünschbar, dass dem Angeschuldigten idealerweise ein Offizialverteidiger beigeordnet wird, der die Sprache seines Mandanten spricht (vgl. BRAITSCH, a.a.O., S. 466; ARTHUR HAEFLIGER, Die Sprachenfreiheit in der bundesgerichtlichen Rechtsprechung, in: Mélanges Henri Zwahlen, Lausanne 1977, S. 77 ff., 85). Ein grundrechtlicher Anspruch darauf besteht indessen nach dem Gesagten nicht, solange dem sprachunkundigen Angeschuldigten ein faires Verfahren auf andere Weise gewährleistet bleibt.
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c) Die Rüge der Verletzung von Art. 4 BV und Art. 6 Ziff. 3 lit. e EMRK erweist sich insofern als unbegründet, soweit darauf überhaupt eingetreten werden kann.
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a) Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtes und des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte besteht grundsätzlich kein Anspruch des anwaltlich vertretenen Angeschuldigten auf Übersetzung des Strafurteils in die eigene Muttersprache (BGE 115 Ia 65 E. c mit Hinweisen; Urteil des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte vom 19. Dezember 1989 i.S. Kamasinski c. A, EGMR Série A, vol. 168, Ziff. 85; FROWEIN/PEUKERT, a.a.O., Art. 6 N 140; VOGLER, a.a.O., Art. 6 N 587; a. M. und für einen obligatorischen Anspruch auf Übersetzung dagegen BRAITSCH, a.a.O., S. 177 ff.). Es kann dahingestellt bleiben, ob diese Praxis undifferenziert und auch bei Verurteilungen zu langjährigen Zuchthausstrafen zu gelten hat. Im vorliegenden Fall war nämlich die Möglichkeit gegeben, dass der amtliche Verteidiger dem Beschwerdeführer die Urteile erläutert und ein Dolmetscher dies übersetzt hätte. Auch hätte die Möglichkeit bestanden, zur Instruktion des Verteidigers hinsichtlich Ergreifung allfälliger Rechtsmittel einen Dolmetscher beizuziehen (vgl. E. 2b/bb; BGE 115 Ia 65 E. c). Falls der Beschwerdeführer und sein Verteidiger von diesen Möglichkeiten keinen Gebrauch gemacht haben, kann dies den kantonalen Instanzen nicht angelastet werden.
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b) Bei dieser Sachlage war zur Wahrnehmung der Verteidigungsrechte und zur Gewährleistung eines fairen Verfahrens keine schriftliche Übersetzung der Urteile notwendig. Wie sich aus den Akten ergibt, war der Beschwerdeführer denn auch in der Lage, gegen das angefochtene Urteil des Kassationsgerichtes in geeigneter Weise staatsrechtliche Beschwerde zu erheben. Auch die kantonalen Rechtsmittel hat er ausgeschöpft. Im übrigen ist nicht ersichtlich und wird vom Beschwerdeführer auch nicht dargelegt, dass es ihm mangels Übersetzung der Urteile ins Spanische trotz anwaltlicher Unterstützung nicht möglich gewesen sein sollte, in seinen Rechtsmitteleingaben alle geeigneten Rügen in ausreichend substantiierter Form zu erheben. Die Beschwerde erweist sich damit auch in dieser Hinsicht als unbegründet.
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a) Art. 6 Ziff. 3 lit. d EMRK räumt dem Angeschuldigten das Recht ein, Fragen an die Belastungszeugen zu stellen und die Ladung und Vernehmung von Entlastungszeugen unter denselben Bedingungen wie die der Belastungszeugen zu erwirken. Derselbe Anspruch ergibt sich schon aus Art. 4 BV (BGE 116 Ia 291 E. 3; BGE 114 Ia 181).
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aa) Gemäss der bundesgerichtlichen Rechtsprechung genügt es grundsätzlich, wenn der Angeschuldigte im Verlaufe des Strafverfahrens wenigstens einmal Gelegenheit erhält, den ihn belastenden Personen Ergänzungsfragen zu stellen (BGE 116 Ia 291 E. 3a; BGE 113 Ia 422 E. 3c mit Hinweisen). Indessen kann es unter besonderen Umständen ungenügend erscheinen, wenn dem Angeschuldigten diese Möglichkeit nur im Ermittlungsverfahren und nicht auch noch an der Hauptverhandlung vor Gericht eingeräumt wird. Insbesondere kann eine ergänzende Befragung vor Gericht dann notwendig erscheinen, wenn dem Angeschuldigten bei den Konfrontationseinvernahmen im Ermittlungsverfahren noch kein Verteidiger zur Seite stand (BGE 116 Ia 293 f. E. c mit Hinweisen). Falls der Angeschuldigte der Vernehmung des Belastungszeugen nicht persönlich beiwohnen konnte, ist ihm wenigstens Gelegenheit zu geben, nach Einsicht in die Aussagen schriftlich ergänzende Fragen anzubringen (BGE 113 Ia 422 E. c mit Hinweisen; vgl. KARL SPÜHLER, Die Europäische Menschenrechtskonvention in der bundesgerichtlichen Rechtsprechung zum Straf- und Strafprozessrecht, ZStrR 107 [1990] 313 ff., S. 315).
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bb) Nach der Praxis der Rechtsprechungsorgane der Europäischen Menschenrechtskonvention ist das Abstellen auf belastende polizeilich protokollierte Aussagen aus der Voruntersuchung zwar zulässig, der Angeschuldigte muss jedoch die Möglichkeit haben, die Aussagen spätestens an der öffentlichen und kontradiktorischen Gerichtsverhandlung zu bestreiten und die Belastungszeugen ergänzend zu befragen (vgl. Urteile des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte vom 27. September 1990 i.S. Windisch c. A, EGMR Série A, vol. 186, Ziff. 26, vom 26. April 1991 i.S. Asch c. A, EGMR Série A, vol. 203, Ziff. 27, sowie vom 19. Dezember 1990 i.S. Delta c. F, EGMR Série A, vol. 191). In einem die Schweiz betreffenden Urteil vom 15. Juni 1992 i.S. Lüdi hat sich der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte mit der Problematik des Abstellens auf belastende Aussagen anonymer Drogenfahnder, sogenannter "V-Männer", befasst. Der Gerichtshof hält fest, dass ein anonymer Gewährsmann, auf dessen Aussagen der Strafrichter abstellt, grundsätzlich wie ein Zeuge zu behandeln sei, auch wenn er seine Aussagen nicht als förmlicher Zeuge an den Schranken des Gerichts gemacht hat. Dem Angeschuldigten müsse daher ausreichend Gelegenheit gegeben werden, die belastenden Aussagen des anonymen Informanten zu bestreiten und ihn ergänzend zu befragen (EGMR Série A, vol. 238, Ziff. 44, 47; s. auch Bericht der Kommission, VPB 1991 Nr. 53). In (BGE 118 Ia 458 E. 2, 3) hat das Bundesgericht diese Praxis bestätigt (EuGRZ 1992, S. 512 ff.). Danach besteht zwar kein absoluter Anspruch des Angeschuldigten, mit dem Belastungszeugen unmittelbar konfrontiert zu werden, sofern überwiegende schutzwürdige Interessen für die Wahrung der Anonymität sprechen. Hingegen muss es dem Angeschuldigten ermöglicht sein, die Glaubwürdigkeit von belastenden Aussagen prüfen und gegebenenfalls in Frage stellen zu können. Dem Angeschuldigten steht daher auch anonymen Gewährspersonen gegenüber von Verfassungs wegen ein Befragungsrecht zu (a.a.O., E. 3b-c, in Abweichung von BGE 112 Ia 24 E. 5; vgl. auch BGE 118 Ia 329 E. 2). Sachliche Gründe, welche eine persönliche Konfrontation mit dem Belastungszeugen zumindest erschweren können, liegen auch dann vor, wenn sich der Belastungszeuge im Ausland im Strafvollzug befindet und auf dem Rechtshilfeweg einvernommen werden muss. Im Falle von sogenannten "kommissarischen" Einvernahmen von Zeugen im Ausland muss daher dem Angeschuldigten grundsätzlich das Einvernahmeprotokoll vorgelegt werden, und es ist ihm auf entsprechenden Antrag hin Gelegenheit zu geben, nachträglich schriftliche Ergänzungsfragen an den Belastungszeugen zu stellen (vgl. FROWEIN/PEUKERT, a.a.O., Art. 6 N 137 mit Hinweisen auf die Strassburger Rechtsprechung; s. auch BGE 113 Ia 422 E. c).
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b) Im vorliegenden Fall wurde der Zeuge Z. in Abwesenheit des Angeschuldigten in Deutschland kommissarisch einvernommen. Dem Angeschuldigten wurde zwar das Einvernahmeprotokoll eröffnet, danach ist er aber weder mit dem Zeugen konfrontiert worden, noch hat er dem Zeugen ergänzende Fragen zur Beantwortung vorlegen können. Der Beschwerdeführer macht geltend, dadurch sei sein gemäss Art. 6 Ziff. 3 lit. d EMRK geschützter Anspruch auf Befragung von Belastungszeugen verletzt worden.
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Es stellt sich vorab die Frage, ob der Beschwerdeführer sein Recht auf Befragung von Belastungszeugen im kantonalen Verfahren überhaupt in Anspruch genommen hat. Falls der Beschwerdeführer nicht rechtzeitig einen entsprechenden Verfahrensantrag gestellt hat, kann er den Behörden nicht nachträglich vorwerfen, sie hätten seinen diesbezüglichen Grundrechtsanspruch verletzt. Aus den Akten geht hervor, dass der Rechtsvertreter des Beschwerdeführers am 12. Dezember 1990 beim Obergericht förmlich beantragt hat, es sei eine Konfrontationseinvernahme mit dem Zeugen Z. durchzuführen. Der Beschwerdeführer hat mit direkt an das Obergericht adressiertem persönlichem Schreiben vom 19. Februar 1991 diesen Verfahrensantrag ausdrücklich bekräftigt. Der Antrag wurde schliesslich anlässlich der Berufungsverhandlung vom 1. März 1991 sowohl vom Beschwerdeführer als auch von seinem Verteidiger wiederholt. Insofern erweist sich die erhobene Rüge als zulässig. Dass dem Beschwerdeführer vor der rechtshilfeweisen Einvernahme des Zeugen Z. Gelegenheit eingeräumt worden ist, einen schriftlichen Fragenkatalog für die Zeugenbefragung zusammenzustellen und auch sein Verteidiger bei der Einvernahme anwesend war, steht fest. Indessen reicht diese Möglichkeit allein im vorliegenden Fall nicht aus. Aussagewidersprüche, welche mit der Konfrontation ausgeräumt oder erhellt werden sollen, ergeben sich naturgemäss erst nach der Befragung des Belastungszeugen bzw. anlässlich einer persönlichen Konfrontation. Dies gilt um so mehr im vorliegenden Fall, musste doch dem an der Zeugenbefragung nicht anwesenden Angeschuldigten das auf Deutsch abgefasste Einvernahmeprotokoll vorerst ins Spanische übersetzt werden. Wie dargelegt müssen daher auf Grund eines entsprechenden Antrags entweder die Beteiligten persönlich konfrontiert oder wenigstens nachträgliche schriftliche Ergänzungsfragen des Angeschuldigten an den Belastungszeugen zugelassen werden (vgl. E. 5a). Dass dem Beschwerdeführer entgegen seinem ausdrücklichen Antrag dieses Recht verweigert worden ist, verstösst grundsätzlich gegen Art. 6 Ziff. 3 lit. d EMRK. Den Akten ist auch nicht zu entnehmen, dass der Beschwerdeführer jemals klar auf seinen diesbezüglichen Anspruch verzichtet hätte.
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c) Es ist dagegen der Einwand im angefochtenen Urteil zu prüfen, die Frage einer Grundrechtsverletzung stelle sich nicht, da sich die Aussagen des Zeugen Z. bei einer "stufenweisen" Beweiswürdigung als nicht entscheidungserheblich herausgestellt hätten.
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aa) Z. ist förmlich als Belastungszeuge einvernommen worden. Dass ein Belastungszeuge ohne Befragungsmöglichkeit durch den Angeschuldigten einvernommen und die Einvernahme dieses Zeugen in der Begründung des Schuldspruches später als unerheblich deklariert wird, birgt die Gefahr einer Aushöhlung der Parteirechte des Angeschuldigten in sich und wirft erhebliche Bedenken auf. Das erkennende Gericht stand bei seinem Urteil zwangsläufig unter dem Eindruck jener belastenden Zeugenaussage. Das Kassationsgericht räumt zumindest auch ein, die belastenden Zeugenaussagen von Z. hätten "das bereits gefundene Beweisergebnis" bestätigt. Dadurch, dass dem Angeschuldigten verwehrt worden ist, Ergänzungsfragen an den Belastungszeugen zu stellen und damit allenfalls Widersprüche aufzudecken, die Glaubwürdigkeit des Zeugen anzuzweifeln oder gar entlastende Aussagen zu bewirken, wurden die Verteidigungsrechte des Angeschuldigten in schwerwiegender Weise eingeschränkt. So lässt sich nicht völlig ausschliessen, dass aufgrund der Wirkung von Ergänzungsfragen das vom Obergericht gestützt auf andere Indizien "bereits gefundene Beweisergebnis" erschüttert worden wäre. Zumindest aber wäre bei einer für den Angeschuldigten günstigen Beantwortung der Ergänzungsfragen das laut Obergericht "bereits gefundene Beweisergebnis" nicht "bestätigt" worden.
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bb) Das Vorgehen der kantonalen Instanzen birgt eine weitere Gefahr in sich. Es ist zu vermeiden, dass sich der Richter bei der Urteilsfindung direkt oder indirekt von den belastenden Aussagen eines Zeugen beeinflussen lässt und danach - in Anbetracht des Verfahrensmangels - den Schuldspruch formal auf andere, mängelfreie Beweisgründe stützt. Vorliegend hat das Obergericht in seinem Urteil sehr eingehend auf die Zeugenaussagen von Z. und dessen mutmassliche Funktion bei den Drogengeschäften Bezug genommen. Sodann sind die belastenden Aussagen materiell nicht unbedeutend. So hat der Zeuge gemäss den Erwägungen des Obergerichtes ausgesagt, beim Beschwerdeführer handle es sich um einen der "Köpfe der Drogenorganisation". Im erstinstanzlichen Urteil des Bezirksgerichtes werden die belastenden Aussagen des Zeugen Z. gar als hauptsächliches Beweismittel gewürdigt. Der Wortlaut von Art. 6 Ziff. 3 lit. d EMRK räumt das Recht auf ergänzende Befragung durch den Angeschuldigten allgemein für jede Einvernahme von Belastungszeugen ein ("interroger ou faire interroger les témoins à charge"), ohne förmlichen Unterschied hinsichtlich späterer Entscheidungsrelevanz der Zeugenaussage. Verfassung und Konvention gebieten, dass der Angeschuldigte sein Recht auf Befragung von Belastungszeugen grundsätzlich unabhängig davon ausüben kann, ob die belastenden Zeugenaussagen danach in der Urteilsbegründung als erheblich bezeichnet werden oder nicht. Dies muss zumindest dann gelten, wenn es sich wie hier um schwerwiegende belastende Aussagen handelt, die im Zeitpunkt der Urteilsfindung bei den Akten lagen und jedenfalls ergänzend gegen den Angeschuldigten verwendet wurden. Die gegenteilige Auffassung würde - wie gezeigt - zur Aushöhlung bzw. zum Unterlaufen des grundrechtlichen Anspruches auf Befragung von Belastungszeugen führen. Ein strenger Massstab drängt sich im vorliegenden Fall schliesslich auch angesichts der vom Obergericht gegen den Angeschuldigten ausgefällten schweren Strafe von 15 Jahren Zuchthaus auf.
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