BGE 130 II 281 - Faktisches Anwesenheitsrecht | |||
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Bearbeitung, zuletzt am 15.03.2020, durch: DFR-Server, A. Tschentscher | |||
26. Auszug aus dem Urteil der II. öffentlichrechtlichen Abteilung i.S. X. gegen Justiz- und Sicherheitsdepartement sowie Verwaltungsgericht des Kantons Luzern (Verwaltungsgerichtsbeschwerde) |
2A.472/2003 vom 1. Juni 2004 | |
Regeste |
Art. 8 EMRK; Art. 100 Abs. 1 lit. b Ziff. 3 OG; Art. 4 und 17 Abs. 2 ANAG; Art. 38 und 39 BVO; Familiennachzug; gefestigtes Anwesenheitsrecht im kombinierten Schutzbereich von Privat- und Familienleben. |
Weder aus Art. 17 Abs. 2 ANAG noch aus Art. 38 f. BVO ergibt sich für den hier bloss über eine Aufenthaltsbewilligung verfügenden Ausländer ein Anspruch auf Familiennachzug (E. 2). |
Art. 8 EMRK und Art. 13 BV setzen ihrerseits das Bestehen eines gefestigten Anwesenheitsrechts zumindest eines der Betroffenen voraus (Bestätigung der Rechtsprechung; E. 3.1). Vorliegen eines solchen in einem Fall bejaht, in dem sich der Ausländer seit zwanzig Jahren mit einer Aufenthaltsbewilligung in der Schweiz befindet und das Privat- und Familienleben praktisch nirgendwo anders in zumutbarer Weise gelebt werden kann (E. 3.2 und 3.3). | |
Sachverhalt | |
Der aus der heutigen Union Serbien/Montenegro stammende X. wurde 1971 in Wien geboren und gehört der ethnischen Gruppe der Roma an. Er kam am 23. September 1983 im Familiennachzug in die Schweiz und verfügt hier seither über eine Aufenthaltsbewilligung. Am 3. August 1992 heiratete er in Kriens die am 3. Juli 1991 eingereiste, ebenfalls in Österreich aufgewachsene Landsmännin und Roma Y. (geb. 1972). Am 26. April 1993 wies die Fremdenpolizei des Kantons Luzern (heute: Amt für Migration) das für sie und die inzwischen hier geborene gemeinsame Tochter A. (geb. 1993) eingereichte Gesuch um Familiennachzug ab. Der Regierungsrat des Kantons Luzern bestätigte diesen Entscheid auf Beschwerde hin am 6. Juni 1995. Während der mehrmals verlängerten Ausreisefrist wurde am 24. Juli 1995 die Tochter B. geboren. Anfangs Dezember 1995 verliessen Y. und ihre beiden Töchter die Schweiz.
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Am 17. bzw. 22. März 1999 ersuchte X. erneut darum, seiner Gattin und seinen Kindern, die seit Ende Januar 1999 wieder bei ihm lebten, den Aufenthalt zu bewilligen, was die Fremdenpolizei des Kantons Luzern am 4. Mai bzw. 28. Juni 2000 (Wiedererwägungsgesuch) ablehnte, da sein Einkommen für den Lebensunterhalt der Familie nicht ausreiche, erhebliche Betreibungen gegen ihn bestünden und sein Verhalten zu Strafverfügungen Anlass gegeben habe (Widerhandlungen gegen das Strassenverkehrsgesetz). Das Sicherheitsdepartement (ehemals Militär-, Polizei- und Umweltschutzdepartement) des Kantons Luzern wies die hiergegen gerichtete Beschwerde am 6. November 2001 ab. Da die Aufenthaltsbewilligung von X. im September 2000 abgelaufen war und das Amt für Migration es am 3. Mai 2002 abgelehnt hatte, diese zu erneuern, sistierte das Verwaltungsgericht des Kantons Luzern das gegen die Verweigerung des Familiennachzugs bei ihm eingeleitete Verfahren. Am 16. September 2002 wies das Wirtschaftsdepartement des Kantons Luzern in Gutheissung der Beschwerde von X. das Amt für Migration an, diesem die Aufenthaltsbewilligung zu erneuern. Mit Urteil vom 27. August 2003 trat das Verwaltungsgericht in der Folge auf die Beschwerde bezüglich des Familiennachzugs nicht ein, da X. über keinen Rechtsanspruch hierauf verfüge.
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Das Bundesgericht heisst die von X. hiergegen eingereichte Verwaltungsgerichtsbeschwerde gut, hebt das angefochtene Urteil auf und hält das Verwaltungsgericht an, auf die bei ihm erhobene Beschwerde einzutreten.
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Aus den Erwägungen: | |
1. Die beim Bundesgericht eingereichte Rechtsschrift richtet sich gegen den Entscheid einer nach Art. 98a OG zuständigen kantonalen Gerichtsinstanz, die aufgrund einer zu Art. 100 Abs. 1 lit. b Ziff. 3 OG analogen kantonalen Zugangsregelung auf ein bei ihr erhobenes Rechtsmittel nicht eingetreten ist, da sie einen Rechtsanspruch auf die strittige fremdenpolizeiliche Bewilligung verneint hat (vgl. § 19 Abs. 1 lit. a des Luzerner Gesetzes vom 1. Dezember 1948 über die Niederlassung und den Aufenthalt sowie über die Zwangsmassnahmen im Ausländerrecht). Soweit der Beschwerdeführer das Bestehen eines Bewilligungsanspruchs behauptet, ist seine Eingabe als Verwaltungsgerichtsbeschwerde zu behandeln (BGE 127 II 161 E. 3a S. 167). Weil deren Zulässigkeit ihrerseits vom Vorhandensein eines entsprechenden Rechtsanspruchs abhängt (BGE 127 II 60 E. 1a S. 62 f., BGE 127 II 161 E. 1a S. 164), ist die Frage nach dem Bestehen eines solchen im Rahmen der Eintretensvoraussetzungen zu prüfen (BGE 127 II 161 E. 1b S. 165; Urteile 2A.425/ 2003 vom 5. März 2004, E. 1, bzw. 2A.471/2001 vom 29. Januar 2002, E. 2).
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Erwägung 2 | |
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2.2 Vorliegend ergibt sich - wie das Verwaltungsgericht zu Recht festgestellt hat - aus dem Gesetzes- und Verordnungsrecht kein solcher Anspruch: Art. 17 Abs. 2 ANAG setzt für den Familiennachzug das Vorliegen einer Niederlassungsbewilligung voraus (BGE 119 Ib 91 E. 1b S. 93). Zwar befindet sich der Beschwerdeführer nunmehr seit über 20 Jahren in der Schweiz, doch hat er hier nie über eine solche verfügt, weshalb er aus dieser Bestimmung nichts zu seinen Gunsten abzuleiten vermag (BGE 126 II 377 E. 2a S. 382). Dasselbe gilt für Art. 38 der Verordnung vom 6. Oktober 1986 über die Begrenzung der Zahl der Ausländer (Begrenzungsverordnung, BVO; SR 823.21), wonach die kantonalen Fremdenpolizeibehörden den Familiennachzug bewilligen können, falls die Voraussetzungen von Art. 39 BVO erfüllt sind (gefestigter Aufenthalt bzw. gefestigte Erwerbstätigkeit, angemessene gemeinsame Wohnung, finanziell gesicherter Unterhalt, gesicherte Betreuung der Kinder). Die Begrenzungsverordnung vermag keine über das Gesetz hinausgehenden Bewilligungsansprüche zu begründen; die kantonale Behörde bleibt bei ihrem Entscheid frei (Art. 4 ANAG), selbst wenn die entsprechenden Voraussetzungen gegeben sind (vgl. BGE 119 Ib 81 E. 2b S. 86, BGE 119 Ib 91 E. 1d S. 95; BGE 122 II 186 ff.). Gestützt auf Art. 18 Abs. 4 und Art. 25 Abs. 1 ANAG kann der Bundesrat lediglich Vorschriften erlassen, welche die Kantone bei der Erteilung von Aufenthaltsbewilligungen in ihrer Freiheit beschränken; er kann sie indessen nicht über das Gesetz hinaus auch zur Gewährung von solchen verpflichten (BGE 129 II 249 E. 5.5 S. 266 f.; BGE 122 I 44 E. 3b/aa S. 46; BGE 115 Ib 1 E. 1b S. 3).
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3. Es stellt sich deshalb die Frage, ob ein Anspruch auf die beantragte Bewilligung - wie der Beschwerdeführer geltend macht - allenfalls unmittelbar gestützt auf Garantien der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK; SR 0.101) oder der Bundesverfassung (BV) besteht.
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3.1 Art. 8 EMRK - sowie seit dem 1. Januar 2000 auch Art. 13 Abs. 1 BV (vgl. BGE 126 II 377 E. 7 S. 394) - gewährleisten das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens. Es kann diese Garantien verletzen, wenn einem Ausländer, dessen Familienangehörige hier weilen, die Anwesenheit untersagt und damit das Familienleben vereitelt wird (BGE 127 II 60 E. 1d/aa S. 64 f.; BGE 126 II 335 E. 2a S. 339, BGE 118 Ib 377 E. 2b S. 382 ff.; BGE 118 Ib 145 E. 4 S. 152, BGE 118 Ib 153 E. 1c S. 157; BGE 109 Ib 183 E. 2 S. 185 ff.). Der sich hier aufhaltende Angehörige muss dabei aber über ein gefestigtes Anwesenheitsrecht verfügen. Dies ist der Fall, wenn er das Schweizer Bürgerrecht oder eine Niederlassungsbewilligung besitzt oder über eine Aufenthaltsbewilligung verfügt, die ihrerseits auf einem gefestigten Rechtsanspruch beruht (BGE 126 II 335 E. 2a S. 339 f. mit Hinweisen). Trotz der in der Doktrin an dieser Praxis geübten Kritik (vgl. die Übersicht bei PETER UEBERSAX, Einreise und Anwesenheit, in: Uebersax/Münch/Geiser/Arnold, Ausländerrecht, Basel/Genf/ München 2002, Rz. 5.158, und bei BERTSCHI/GÄCHTER, Der Anwesenheitsanspruch aufgrund der Garantie des Privat- und Familienlebens, in: ZBl 104/2003 S. 225 ff., dort S. 228 f.; Simon BANGERTER, Die Reneja-Praxis des Bundesgerichtes - Zeit für den nächsten Schritt, in: AJP 2003 S. 1364 ff.), wonach es zu restriktiv und mit der Praxis der Konventionsorgane unvereinbar sei, die Zulässigkeit der Verwaltungsgerichtsbeschwerde vom Vorhandensein eines gefestigten Anwesenheitsrechts in der Schweiz abhängig zu machen, hat es das Bundesgericht unter Bezugnahme auf den Entscheid Gül des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (Urteil i.S. Gül gegen Schweiz vom 19. Februar 1996, Recueil CourEDH 1996-I S. 159, Ziff. 41 in fine) abgelehnt, hierauf zurückzukommen (BGE 126 II 377 E. 2b/cc S. 384; BGE 119 Ib 91 E. 1c S. 94). Daran ist festzuhalten: Art. 8 EMRK und Art. 13 BV gelten nicht absolut. Es ergibt sich daraus weder ein Recht auf Einreise oder Aufenthalt in einem bestimmten Staat noch auf Wahl des für das Familienleben am geeignetsten erscheinenden Orts (BGE 126 II 335 E. 3a S. 342 mit Hinweisen; Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte [EGMR] i.S. Slivenko gegen Lettland vom 9. Oktober 2003 [Nr. 48321/99], Rz. 94 mit Hinweisen). Es genügt nicht, dass ein ausländerrechtlicher Entscheid lediglich geeignet ist, die Gestaltung des Familienlebens irgendwie zu beeinflussen. Erforderlich ist vielmehr ein in der Bewilligungsverweigerung liegender behördlicher Eingriff in dieses, was das (Vor-)Bestehen eines gesicherten Anwesenheitsrechts zumindest eines der Familienmitglieder voraussetzt. Nur wenn ein solches besteht, ist der Bezug zur Schweiz in der Regel derart eng, dass die Verweigerung des Aufenthalts oder des Verbleibs der Angehörigen das Familienleben berühren und eine Interessenabwägung im Sinne von Art. 8 Ziff. 2 EMRK gebieten kann (vgl. auch BERTSCHI/GÄCHTER, a.a.O., S. 242, 244 u. 255 f.). Wer selber keinen Anspruch auf längere Anwesenheit in der Schweiz hat, vermag einen solchen grundsätzlich auch nicht einem Dritten zu verschaffen, selbst wenn eine gelebte familiäre Beziehung zur Diskussion steht (BGE 126 II 335 E. 2a S. 340; BGE 119 Ib 91 E. 1c S. 94, je mit Hinweisen).
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3.2.1 Ein solches kann sich aus dem Schutz des Privatlebens, d.h. wiederum aus Art. 8 EMRK bzw. Art. 13 BV ergeben. Nach der Rechtsprechung bedarf es hierfür indessen besonders intensiver, über eine normale Integration hinausgehender privater Bindungen gesellschaftlicher oder beruflicher Natur bzw. entsprechender vertiefter sozialer Beziehungen zum ausserfamiliären bzw. ausserhäuslichen Bereich (BGE 126 II 425 E. 4c/aa S. 432, BGE 126 II 377 E. 2c/aa S. 385; BGE 120 Ib 16 E. 3b S. 22; Urteil 2A.471/2001 vom 29. Januar 2002, E. 2b/cc). Dabei hat es das Bundesgericht - im Gegensatz zu gewissen in der Literatur vertretenen Auffassungen (vgl. PETER UEBERSAX, a.a.O., Rz. 5.159; derselbe, Ermessen, Ansprüche und Verfahren bei der Erteilung ausländerrechtlicher Anwesenheitsbewilligungen, in: Ehrenzeller [Hrsg.], Aktuelle Fragen des schweizerischen Ausländerrechts, St. Gallen 2001, S. 31; MARTINA CARONI, Privat- und Familienleben zwischen Menschenrecht und Migration, Diss. Bern 1998, S. 305 f.) - abgelehnt, von einer bestimmten Aufenthaltsdauer an schematisierend eine solche besondere, einen Anspruch auf die Erteilung eines Anwesenheitsrechts begründende Verwurzelung in den hiesigen Verhältnissen anzunehmen (Urteil 2A.471/2001 vom 29. Januar 2002, E. 2b/ee). Es obliegt in erster Linie dem Gesetzgeber, darüber zu befinden, ob und wann das Ermessen der Fremdenpolizeibehörden nach Art. 4 ANAG allein und ausschliesslich mit Blick auf eine bestimmte Aufenthaltsdauer gerichtlich durchsetzbaren Rechtsansprüchen zu weichen hat (Urteil 2A.471/2001 vom 29. Januar 2002, E. 2b/ee; BERTSCHI/GÄCHTER, a.a.O., S. 269). Im Anwendungsbereich von Art. 8 EMRK (bzw. Art. 13 BV) ist hierüber jeweils aufgrund einer umfassenden Interessen- und Rechtsgüterabwägung zu entscheiden (BGE 120 Ib 16 E. 3b S. 22; vgl. auch das bereits zitierte Urteil des EGMR, a.a.O., Slivenko, Rz. 96), wobei die Anwesenheitsdauer ein Element unter anderen bildet und dem Umstand Rechnung getragen werden kann, dass - besondere Bestimmungen vorbehalten - eine Niederlassungsbewilligung in der Regel nach zehn Jahren erteilt wird und ein Gesuch um Einbürgerung grundsätzlich nach zwölf Jahren möglich ist (vgl. Art. 15 Abs. 1 des Bundesgesetzes vom 29. September 1952 über Erwerb und Verlust des Schweizer Bürgerrechts [Bürgerrechtsgesetz, BüG; SR 141.0]; Bertschi/Gächter, a.a.O., S. 262).
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3.2.2 Diese Rechtsprechung ist in erster Linie zu Fällen entwickelt worden, in denen bei der Interessenabwägung die familiären Beziehungen zum Ehegatten oder zu Kindern keine eigenständige Rolle (mehr) spielten, da die ganze Familie gehalten war, die Schweiz zu verlassen (BGE 126 II 377 E. 2b/cc S. 382; Urteil 2A.471/2001 vom 29. Januar 2002; BGE 121 I 267 E. 1 S. 268; Urteil des EGMR, a.a.O., Slivenko, Rz. 97), oder allein noch gestützt auf das Privatleben die Erneuerung einer Bewilligung zur Diskussion stand (BGE 120 Ib 16 ff.; statt vieler: Urteile 2A.105/2001 vom 26. Juni 2001, 2A.443/1997 vom 23. Dezember 1997 und 2P.253/1994 vom 3. November 1994). Differenziert behandelte das Gericht indessen jene Situationen, in denen von einem kombinierten Schutzbereich von Privat- und Familienleben auszugehen bzw. im Rahmen der Interessenabwägung zusätzlich konkreten, gefestigten partnerschaftlichen Beziehungen Rechnung zu tragen war. So hat es die Möglichkeit der Ausweisung von hier straffällig gewordenen Ausländern der zweiten Generation mit Blick auf ihre "familiären, sozialen und kulturellen Beziehungen und (...) Wurzeln" beschränkt (BGE 122 II 433 E. 2c) und gestützt auf den Schutz des Privatlebens einen Bewilligungsanspruch für gleichgeschlechtliche Paare anerkannt (BGE 126 II 425 ff.); zudem hat es bei einer Anwesenheitsberechtigung, die über viele Jahre hinweg verlängert wurde und zu einem Dauerstatus geführt hat, nicht ausgeschlossen, dass dem Betroffenen ein "faktisches" Anwesenheitsrecht zukommen könnte, das einen Familiennachzug zu rechtfertigen bzw. die Schweiz im Sinne eines Rechtsanspruchs zu verpflichten vermöchte, dem Betroffenen ein Anwesenheitsrecht einzuräumen, welches ihm erlaubt, die für den Nachzug erforderlichen gesetzlichen Voraussetzungen zu erfüllen (BGE 126 II 335 E. 2b/cc S. 341 f.; Urteil 2A.210/1995 vom 11. Januar 1996, E. 1e). Dabei verlangte es jeweils nicht, dass notwendigerweise die Bedingungen für einen allein aus dem Schutz des Privatlebens abgeleiteten Bewilligungsanspruch (überdurchschnittliche, besondere Integration) vorliegen müssten.
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3.3 Von einem solchen spezifischen Ausnahmefall ist hier auszugehen: Der Beschwerdeführer, der fliessend deutsch spricht, ist in Österreich geboren, kam im Alter von zwölf Jahren in die Schweiz und befindet sich nunmehr gestützt auf seine jeweils verlängerte Aufenthaltsbewilligung seit über zwanzig Jahren hier. Anhaltspunkte dafür, dass er zu Österreich noch irgendwelche Beziehungen unterhalten würde, bestehen nicht. Seinen Heimatstaat Serbien/ Montenegro kennt er nur von vereinzelten kürzeren Aufenthalten her; er hat indessen nie dort gelebt. Mit seiner ebenfalls in erster Linie in Österreich aufgewachsenen Gattin ist er nunmehr seit rund zwölf Jahren verheiratet, wobei die Beziehung während der Zeit von Ende 1995 bis zur Wiedereinreise und zum erneuten Gesuch um Familiennachzug anfangs 1999 im Rahmen von Touristenaufenthalten weitgehend ebenfalls in der Schweiz gelebt wurde. Insgesamt sollen sich die Ehefrau und die Kinder nicht länger als zwölf Monate in Kovacica (Serbien) aufgehalten haben. Seit 1999 geht der Beschwerdeführer einer geregelten Arbeit nach und scheint sich seine Situation auch in finanzieller Hinsicht stabilisiert zu haben. Nachdem das Wirtschaftsdepartement des Kantons Luzern in Kenntnis der familiären Lage das Amt für Migration am 16. September 2002 angewiesen hat, ihm im Hinblick auf die lange Anwesenheitsdauer trotz der ursprünglichen Probleme (berufliche Instabilität, Verschuldung, SVG-Widerhandlungen usw.) die Aufenthaltsbewilligung ein weiteres Mal zu verlängern, beruht diese heute auf einem faktischen Dauerstatus, welcher im Hinblick auf den Familiennachzug einem gesicherten Anwesenheitsrecht gleichzusetzen ist. Die Kinder des Ehepaars X. und Y. besuchen hier die Primarschule, wo sie sich mit Erfolg eingelebt haben. Die serbische Sprache kennen sie praktisch nicht, nachdem in der Familie deutsch gesprochen wird. Zwar kommt praxisgemäss der Integration während eines gestützt auf die aufschiebende Wirkung von Rechtsmitteln verbrachten Aufenthalts keine oder nur eine beschränkte Bedeutung zu (Urteile 2A.471/2001 vom 29. Januar 2002, E. 2b/cc, und 2A.105/2001 vom 26. Juni 2001, E. 3c), doch kann dies nicht unbesehen in einem Fall wie dem vorliegenden gelten, wo das Privat- und Familienleben schwergewichtig in der Schweiz gepflegt wurde und heute praktisch nirgendwo anders in zumutbarer Weise gelebt werden kann (vgl. Urteil 2P.67/1998 vom 25. Mai 1998, E. 1c/bb), nachdem sich der Beschwerdeführer und seine Familie als Angehörige der ethnischen Minderheit der Roma bei einer Übersiedlung nach Serbien einer ausgesprochen schwierigen Lebenssituation gegenüber sähen (vgl. Gesellschaft für bedrohte Völker, Minderheit ohne Stimme, Roma in der Bundesrepublik Jugoslawien, Menschenrechtslage und Perspektiven für Roma-Rückkehrer, Memorandum vom Oktober 2001 [www.gfbv.de/dokus/memo/roma/sozial.htm]; JULIANE PILZ, Bleiberecht für Romaflüchtlinge aus dem ehemaligen Jugoslawien, in: Friedensforum 2004-1). Auch wenn die entsprechenden Probleme in Serbien/Montenegro nicht so ausgeprägt sein dürften wie im Kosovo (vgl. hierzu die Entscheide der Schweizerischen Asylrekurskommission vom 8. Dezember 2000 und vom 28. Mai 2001 EMARK 2001 Nr. 1 und Nr. 13] sowie WALTER KÄLIN, Die flüchtlingsrechtliche Situation asylsuchender Roma und Ashkali in der Schweiz, Bern 1999) und für sich allein ebenso wenig einen Anspruch auf einen gefestigten Aufenthalt zu verschaffen vermöchten wie allein die lange Anwesenheit in der Schweiz ohne ausserordentliche Integration, sind die entsprechenden Schwierigkeiten bei einer Gesamtwürdigung der Situation im Lichte des Schutzes des Privat- und Familienlebens doch mit zu berücksichtigen. Aufgrund der langen legalen Aufenthaltsdauer und angesichts des Fehlens einer namhaften Beziehung zu irgendeinem anderen Staat verfügt der Beschwerdeführer hier über eine hinreichend gefestigte Anwesenheit, welche den kombinierten Schutzbereich des Privat- und Familienlebens von Art. 8 Ziff. 1 EMRK bzw. Art. 13 Abs. 1 BV berührt und die Schweiz allenfalls verpflichtet, den Familiennachzug zu gestatten, womit der Entscheid hierüber nicht mehr allein im freien Ermessen der Fremdenpolizeibehörde gemäss Art. 4 ANAG liegt und der Beschwerdeweg an das Bundesgericht bzw. bei einer Art. 100 Abs. 1 lit. b Ziff. 3 OG analogen Regelung an das kantonale Verwaltungsgericht offen steht .
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Erwägung 4 | |
4.1 Das Verwaltungsgericht des Kantons Luzern ist somit zu Unrecht auf die bei ihm eingereichte Beschwerde nicht eingetreten, weshalb die Sache unter Aufhebung seines Urteils an dieses zurückzuweisen ist. Es wird in einem neuen Entscheid zu prüfen haben, ob sich die Verweigerung des Familiennachzugs allenfalls gestützt auf Art. 8 Ziff. 2 EMRK (bzw. Art. 13 in Verbindung mit Art. 36 BV) rechtfertigt. Dabei wird es analog die gemäss Art. 17 Abs. 2 ANAG geltenden Massstäbe und Voraussetzungen - etwa hinsichtlich der Gefahr einer künftigen Fürsorgeabhängigkeit des Beschwerdeführers - beachten müssen (vgl. BGE 125 II 633 E. 3c S. 641 f.; BGE 122 II 1 E. 3c S. 8 f.; BGE 119 Ib 81 E. 2d S. 87; Urteile 2A.368/1999 vom 28. April 2000, E. 4 u. 5, publ. in: RDAT 2000 II Nr. 64 S. 241 ff., 2A.396/1996 vom 26. Februar 1997, E. 2).
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