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Informationen zum Dokument  BGE 137 III 470  Materielle Begründung
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Regeste
Sachverhalt
Aus den Erwägungen:
Erwägung 6
Erwägung 6.5
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70. Auszug aus dem Urteil der II. zivilrechtlichen Abteilung i.S. X. gegen Kantonsgericht Schaffhausen (Beschwerde in Zivilsachen)
 
 
5A_405/2011 vom 27. September 2011
 
 
Regeste
 
Art. 119 Abs. 6 ZPO; Kostenlosigkeit des Verfahrens um unentgeltliche Rechtspflege.  
 
Sachverhalt
 
BGE 137 III, 470 (470)Im Rahmen eines Scheidungsverfahrens vor dem Kantonsgericht Schaffhausen reichte X. am 15. November 2010 ein Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung ein. Mit Verfügung vom 20. Januar 2011 wies das Kantonsgericht das Gesuch mangels Bedürftigkeit von X. ab.
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Dagegen erhob X. am 31. Januar 2011 Beschwerde an das Obergericht des Kantons Schaffhausen. Er beantragte zudem die unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung für das Beschwerdeverfahren. Mit Entscheid vom 13. Mai 2011 wies das Obergericht die Beschwerde gegen die kantonsgerichtliche Verfügung ab. Ebenso wies es das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung für das Beschwerdeverfahren wegen Aussichtslosigkeit der BGE 137 III, 470 (471)Beschwerde ab. Die Kosten des Beschwerdeverfahrens von Fr. 500.- auferlegte es X.
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Die von X. (nachfolgend Beschwerdeführer) am 16. Juni 2011 gegen den obergerichtlichen Entscheid erhobene Beschwerde in Zivilsachen weist das Bundesgericht ab, soweit es darauf eintritt.
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(Zusammenfassung)
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Aus den Erwägungen:
 
 
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In der Lehre und kantonalen Praxis wird dies teilweise dahingehend verstanden, dass auch das Beschwerdeverfahren gegen einen Entscheid über die unentgeltliche Rechtspflege der ersten Instanz kostenlos sei (Beschluss der Zivilabteilung des Obergerichts des Kantons Bern vom 14. Juli 2011; HUBER, in: Schweizerische Zivilprozessordnung, 2011, N. 27 zu Art. 119 ZPO und N. 10 zu Art. 121 ZPO; TAPPY, in: Code de procédure civile commenté, 2011, N. 26 zu Art. 119 ZPO, wobei teilweise nicht ganz klar ist, ob sich der Hinweis auf das kostenlose Rechtsmittelverfahren auf ein neues Gesuch vor der Rechtsmittelinstanz oder das eigentliche Beschwerdeverfahren bezieht). Nach anderer Ansicht betrifft Art. 119 Abs. 6 ZPO einzig das Gesuchsverfahren (Urteil des Kantonsgerichts Graubünden vom 16. Mai 2011, Ziff. II N. 9).
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BGE 137 III, 470 (472)Ausgangspunkt jeder Auslegung bildet der Wortlaut der Bestimmung. Ist der Text nicht klar und sind verschiedene Interpretationen möglich, so muss nach seiner wahren Tragweite gesucht werden unter Berücksichtigung aller Auslegungselemente, namentlich des Zwecks, des Sinns und der dem Text zu Grunde liegenden Wertungen. Wichtig ist ebenfalls der Sinn, der einer Norm im Kontext zukommt. Vom klaren, das heisst eindeutigen und unmissverständlichen Wortlaut darf nur ausnahmsweise abgewichen werden, wenn triftige Gründe dafür vorliegen, dass der Wortlaut nicht den wahren Sinn der Bestimmung wiedergibt. Solche Gründe können sich aus der Entstehungsgeschichte der Bestimmung, aus ihrem Grund und Zweck oder aus dem Zusammenhang mit andern Vorschriften ergeben (BGE 137 V 167 E. 3.1 S. 169 f.; BGE 137 IV 99 E. 1.2 S. 100; BGE 136 III 373 E. 2.3 S. 376).
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6.5.2 Zu prüfen ist, ob die Materialien zuverlässigen Aufschluss über die Auslegung von Art. 119 Abs. 6 ZPO geben. Nach ständiger Rechtsprechung stellen sie, gerade bei jüngeren Gesetzen, ein wichtiges Erkenntnismittel dar, von dem im Rahmen der Auslegung stets Gebrauch zu machen ist (BGE 137 V 167 E. 3.2 S. 170; BGE 126 V 435 E. 3b S. 439). Im Vorentwurf der Expertenkommission vom Juni 2003 wurde die Kostenlosigkeit im Zusammenhang mit dem summarischen Verfahren, in dem der Entscheid über das Gesuch zu ergehen hat, geregelt. Der damalige Art. 108 Abs. 1 VE-ZPO lautete wie folgt: "Das Gericht entscheidet über das Gesuch um unentgeltliche Prozessführung im summarischen Verfahren; ausser bei Bös- und Mutwilligkeit werden keine Prozesskosten erhoben." Auch der Bericht zum Vorentwurf der Expertenkommission zu Art. 108 VE-ZPO spricht von der Kostenlosigkeit im Zusammenhang mit dem summarischen Verfahren.
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Der Entwurf des Bundesrats (Art. 117 Abs. 6 des Entwurfs; BBl 2006 7439) enthielt bereits den heutigen Wortlaut von Art. 119 Abs. 6 ZPO. BGE 137 III, 470 (473)Die Botschaft zur ZPO präzisiert insofern einzig, die Kostenlosigkeit gelte auch dann, wenn "das Gesuch" abgewiesen werde (Botschaft vom 28. Juni 2006 zur ZPO, BBl 2006 7303 Ziff. 5.8.4). Die vorberatende Kommission des Ständerats diskutierte den Grundsatz der Kostenlosigkeit des Gesuchsverfahrens, jedoch nicht im Zusammenhang mit dem Rechtsmittelverfahren. Dabei wurde auch auf die Rechtslage in den Kantonen hingewiesen und ausgeführt, in der Regel sähen die Kantone keine Kostenlosigkeit vor, sofern das Gesuch abgewiesen werde. Zwei Kantone sähen jedoch die Kostenlosigkeit in der Regel vor und vier Kantone hätten die gleiche Regelung wie im bundesrätlichen Entwurf.
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Die vorberatende Kommission des Nationalrats diskutierte die fragliche Bestimmung nicht weiter. In der parlamentarischen Beratung wurde die Norm unverändert und ohne Diskussionen gemäss dem bundesrätlichen Entwurf angenommen (AB 2007 S 513 sowie AB 2008 N 944).
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Aus der Entstehungsgeschichte ergeben sich damit keine klaren Rückschlüsse auf die vorliegende Frage. Festzuhalten bleibt jedoch immerhin, dass die Kostenlosigkeit einzig im Zusammenhang mit dem (summarischen) Gesuchsverfahren diskutiert wurde. Hinweise, dass die Kostenlosigkeit auch für das Beschwerdeverfahren gemäss Art. 121 ZPO gelten sollte, finden sich keine.
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Mit anderen Worten sind das Gesuch(sverfahren) gemäss Art. 119 ZPO einerseits und das Rechtsmittel(verfahren) gemäss Art. 121 ZPO andererseits in unterschiedlichen Bestimmungen und chronologisch geregelt.
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Das Beschwerdeverfahren (Art. 319 ff. ZPO) im Einzelnen beziehungsweise das Rechtsmittelverfahren im Allgemeinen (mit Ausnahme von Art. 318 Abs. 3 ZPO) enthalten keine speziellen Kostenvorschriften. Vielmehr gelten die allgemeinen Regeln gemäss Art. 104 ff. ZPO (beziehungsweise gemäss Art. 95 ff. ZPO) grundsätzlich auch BGE 137 III, 470 (474)für die Rechtsmittelinstanz (Botschaft zur ZPO, BBl 2006 7296 Ziff. 5.8.2; SEILER, Die Berufung nach der Schweizerischen Zivilprozessordnung, 2011, N. 1560; TAPPY, Les voies de droit du nouveau Code de procédure civile, JdT 2010 III S. 150 und 162; FREIBURGHAUS/AFELDT, in: Kommentar zur Schweizerischen Zivilprozessordnung, 2010, N. 24 zu Art. 327 ZPO; MEIER, Schweizerisches Zivilprozessrecht, 2010, S. 525 f.).
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Mit Blick auf diese Grundsätze dürfte sich auch die gewählte Normierung in Art. 119 Abs. 6 ZPO einordnen lassen. In der vorberatenden Kommission des Ständerats wurde darauf hingewiesen, die unentgeltliche Rechtspflege habe "mit sozialem Grundrecht zu tun" und es würden für das Verfahren um unentgeltliche Rechtspflege regelmässig nicht hohe Kosten anfallen. Die fragliche Bestimmung bezweckt damit einerseits die Wahrung des Rechts auf unentgeltliche Rechtspflege in dem Sinne, dass der Betroffene nicht soll befürchten müssen, dass ihm bereits für ein Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege Kosten auferlegt werden können. Andererseits sind wohl auch prozessökonomische und vollstreckungsrechtliche Gesichtspunkte von Bedeutung, wobei diese nur eine Rolle spielen, wenn das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege abgewiesen wird.
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Diese Betrachtungsweise könnte auch in einem Rechtsmittelverfahren gegen einen abweisenden Entscheid eine gewisse Berechtigung haben.
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6.5.5 Als Auslegungsergebnis kann festgehalten werden, dass sich aus dem Wortlaut von Art. 119 Abs. 6 ZPO nicht ergibt, ob die Kostenlosigkeit auch für das Rechtsmittelverfahren gelten soll. Aus der Entstehungsgeschichte und insbesondere der systematischen Stellung der Bestimmung folgt jedoch, dass sie einzig das Gesuchsverfahren vor der ersten oder zweiten Instanz betrifft. Daran vermag auch der Sinn und Zweck der Norm nichts zu ändern (so ist beispielsweise auch vor dem Bundesgericht unter der Geltung des BGE 137 III, 470 (475)Bundesgerichtsgesetzes das Beschwerdeverfahren gegen einen abweisenden kantonalen Entscheid betreffend unentgeltliche Rechtspflege grundsätzlich kostenpflichtig, vgl. Art. 65 BGG und CORBOZ, in: Commentaire de la LTF, 2009, N. 24 zu Art. 65 BGG; beispielsweise Urteile 5A_382/2010 vom 22. September 2010 E. 5.1; 5A_551/2008 vom 18. Dezember 2008 E. 4, nicht publ. in: BGE 135 I 102).
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