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Informationen zum Dokument  BGE 147 IV 379  Materielle Begründung
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Regeste
Sachverhalt
Aus den Erwägungen:
Erwägung 1
Erwägung 1.2
Erwägung 1.6
Bearbeitung, zuletzt am 02.02.2022, durch: DFR-Server (automatisch)  
 
39. Auszug aus dem Urteil der Strafrechtlichen Abteilung i.S A. gegen Staatsanwaltschaft des Kantons St. Gallen (Beschwerde in Strafsachen)
 
 
6B_195/2020 vom 23. Juni 2021
 
 
Regeste
 
Art. 127 Abs. 5 StPO; Geltungsbereich des Anwaltsmonopols bei der Verteidigung der beschuldigten Person; abweichende kantonale Bestimmung für die Verteidigung im Übertretungsstrafverfahren.  
 
Sachverhalt
 
BGE 147 IV 379 (380)A. Die Zollverwaltung fing am 2. und 25. November 2016 im Briefpostzentrum in U. eine an A. adressierte Postsendung mit der Kräutermischung "Black Diamonds" ab. Die Kräutermischung enthielt ein synthetisches Cannabinoid, welches im Anhang 6 der Verordnung über die Betäubungsmittel und die psychotropen Stoffe (Betäubungsmittelverordnung, BetmV; SR 812.121.1) aufgelistet war. Anlässlich der polizeilichen Befragung vom 25. November 2016 gab A. an, seit 2008 Cannabis und seit Mai 2016 regelmässig die abgefangene Kräutermischung zusammen mit Cannabis konsumiert zu haben.
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B. Am 20. September 2018 stellte das Kreisgericht Rheintal das Verfahren gegen A. wegen mehrfacher Übertretung des Betäubungsmittelgesetzes (BetmG; SR 812.121) in der Zeit vom 17. Januar 2014 bis 20. September 2015 ein. Es sprach ihn der mehrfachen Übertretung des BetmG in der Zeit vom 21. September 2015 bis 25. November 2016 schuldig und bestrafte ihn mit einer Busse von Fr. 150.-.
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C. Auf Berufung von A. hin sprach das Kantonsgericht St. Gallen am 21. Oktober 2019 A. wegen mehrfacher Übertretung des BetmG in der Zeit vom 21. September 2015 bis 8. Februar 2016 schuldig und bestrafte ihn mit einer Busse von Fr. 150.-. Von der Anklage der mehrfachen Übertretung des BetmG im Zeitraum vom 9. Februar 2016 bis 25. November 2016 sprach das Kantonsgericht A. frei. Das Strafverfahren wegen mehrfacher Übertretung gegen das BetmG in der Zeit vom 17. Januar 2014 bis 20. September 2015 stellte es ein.
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D. A. beantragt mit Beschwerde in Strafsachen, er sei freizusprechen. Eventualiter sei das Verfahren gegen ihn einzustellen. Subeventualiter seien die Entscheide des Kantonsgerichts und des Kreisgerichts aufzuheben und die Sache zu neuem Entscheid an das Kreisgericht zurückzuweisen. A. ersucht um unentgeltliche Rechtspflege.
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Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab, soweit darauf einzutreten ist. BGE 147 IV 379 (380)
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BGE 147 IV 379 (381)Aus den Erwägungen:
 
 
Erwägung 1
 
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Erwägung 1.2
 
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1.2.2 Nach Art. 127 Abs. 5 StPO ist die Verteidigung der beschuldigten Person Anwältinnen und Anwälten vorbehalten, die nach dem Anwaltsgesetz vom 23. Juni 2000 (BGFA; SR 935.61) berechtigt sind, Parteien vor Gerichtsbehörden zu vertreten; vorbehalten bleiben abweichende Bestimmungen der Kantone für die Verteidigung im Übertretungsstrafverfahren. Die nach dem ersten Teilsatz von Art. 127 Abs. 5 StPO zur Verteidigung berechtigten Anwältinnen und Anwälte sind Anwältinnen und Anwälte, die in einem kantonalen Anwaltsregister eingetragen sind (Art. 4 BGFA) sowie nach den Vorgaben von Art. 21 ff. BGFA Anwältinnen und Anwälte aus den Mitgliedsstaaten der EU oder der EFTA. Ferner bleibt nach Art. 3 Abs. 2 BGFA das Recht der Kantone gewahrt, Inhaberinnen und Inhaber ihres kantonalen Anwaltspatentes vor den eigenen Gerichtsbehörden Parteien vertreten zu lassen.
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1.2.3 Während die zivilprozessuale Regelung den Monopolbereich gemäss Art. 68 Abs. 2 ZPO auf die berufsmässige Parteivertretung begrenzt, ist eine entsprechende Beschränkung nach Art. 127 Abs. 5 StPO für die Verteidigung der beschuldigten Person nicht vorgesehen. Selbst wenn keine berufsmässige Vertretung vorliegt, kann die beschuldigte Person nicht irgendeine Person zu ihrer Verteidigung bestimmen (WALTER FELLMANN, Anwaltsrecht, 2. Aufl. 2017, Rz. 824). BGE 147 IV 379 (381) BGE 147 IV 379 (382) Der in Art. 127 Abs. 5 erster Teilsatz StPO definierte strafprozessuale Monopolbereich gilt für die berufsmässige sowie die nicht berufsmässige Verteidigung. Der Vorbehalt zugunsten nach BGFA zugelassener Anwälte ergibt sich aus der Wichtigkeit der Funktion der Verteidigung (vgl. Botschaft vom 21. Dezember 2005 zur Vereinheitlichung des Strafprozessrechts, BBl 2006 1085, 1177) und dient dem Interesse des Publikums wie auch der Rechtspflege (vgl. BGE 120 Ia 247 E. 3b S. 251).
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1.2.4 Der im zweiten Teilsatz von Art. 127 Abs. 5 StPO vorgesehene Vorbehalt zugunsten des kantonalen Rechts im Bereich des Übertretungsstrafrechts ermöglicht es den Kantonen, in diesem Bereich auch Nichtanwälte zuzulassen (BBl 2006 1085, 1177). Der zweite Teilsatz knüpft an frühere kantonale Regelungen an, die zum Beispiel den Vertretern von Rechtsschutzversicherungen ermöglichten, ihre Klienten in Übertretungsstrafsachen vor Gericht zu vertreten (SCHMID/JOSITSCH, Schweizerische Strafprozessordnung [StPO], Praxiskommentar, 3. Aufl. 2018, N. 7 zu Art. 127 StPO). Abweichende kantonale Bestimmungen können die Verteidigung durch andere Auftragnehmer oder kein Monopol vorsehen, sofern die Anforderungen von Art. 127 Abs. 4 StPO gewahrt sind (BOHNET/MARTENET, Droit de la profession d'avocat, 2009, Rz. 973).
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1.2.5 Im Kanton St. Gallen ist die den Rechtsanwälten und Rechtsagenten vorbehaltene Tätigkeit in Art. 10 f. AnwG/SG geregelt. Gemäss Art. 10 Abs. 1 AnwG/SG ist die berufsmässige Vertretung vor Strafuntersuchungsbehörde und Gericht dem in einem kantonalen Anwaltsregister eingetragenen Rechtsanwalt vorbehalten, soweit das AnwG/SG nichts anderes bestimmt. Der Rechtsagent mit Bewilligung zur Berufsausübung ist insbesondere als Vertreter im Strafprozess zugelassen, wenn ein Strafbescheid zulässig ist (Art. 11 Abs. 1 lit. b Ziff. 1 AnwG/SG). In Art. 12 Abs. 1 AnwG/SG werden die Ausnahmen zur vorbehaltenen Tätigkeit geregelt. Nach lit. a-d dieser Bestimmung sind als Vertreter Verbands- und Berufssekretäre in Streitigkeiten aus dem Arbeitsverhältnis vor dem Einzelrichter des Kreisgerichtes sowie im entsprechenden Schlichtungs- und Rechtsmittelverfahren, Vertreter von Selbsthilfe- und gemeinnützigen Organisationen im Rekursfall vor Versicherungsgericht und handlungsfähige Personen vor Verwaltungsbehörden sowie in Streitigkeiten über Schätzungen und öffentliche Abgaben zugelassen.
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1.3 Die Vorinstanz stellt zunächst das Rechtsschutzinteresse des Beschwerdeführers an der Überprüfung der geltend gemachten BGE 147 IV 379 (382) BGE 147 IV 379 (383) Verletzung des Rechts auf Wahlverteidigung in Frage, prüft aber nichtsdestotrotz die erhobenen Rügen in der Sache. Sie erwägt, es liege kein Übertretungsstrafverfahren im Sinne von Art. 127 Abs. 5 StPO vor. Im Übrigen sei B. weder im Anwaltsregister als Rechtsanwalt eingetragen, noch verfüge er über eine Berufsbewilligung als Rechtsagent. Er sei daher nicht berechtigt, im Strafprozess beschuldigte Personen zu verteidigen. Unerheblich sei, dass die Vertretung unentgeltlich und nicht berufsmässig erfolgt sei.
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Erwägung 1.6
 
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1.6.2 Bis zum Inkrafttreten der ZPO und StPO bestimmten ausschliesslich die Kantone den Monopolbereich in Zivil- und Strafsachen. Mehrere Kantone beschränkten diesen Monopolbereich auf die berufsmässige Vertretung vor ihren Gerichten (BOHNET/MARTENET, a.a.O., Rz. 975, die 14 Deutschschweizer Kantone, unter anderem den Kanton St. Gallen, mit entsprechenden Regelungen aufführen). In diesen Kantonen war die Vertretung durch eine nahestehende BGE 147 IV 379 (383) BGE 147 IV 379 (384) Person vor Gericht zulässig (BOHNET/MARTENET, a.a.O., Rz. 975). Seit dem Inkrafttreten der StPO besteht für die Vertretung vor Gericht in Strafsachen kraft eidgenössischem Prozessrecht dem Grundsatz nach ein Anwaltsmonopol (HANS NATER, in: Kommentar zum Anwaltsgesetz, Fellmann/Zindel [Hrsg.], 2. Aufl. 2011, N. 6a zu Art. 3 BGFA). Gemäss NATER sind die Kantone befugt, Nichtanwälten die berufsmässige Parteivertretung im Übertretungsstrafverfahren zu erlauben. Der Gestaltungsspielraum der Kantone in Strafsachen sei somit aufgrund der bundesrechtlichen Vorgaben eng begrenzt (NATER, a.a.O., N. 6b zu Art. 3 BGFA). Aus den bundesrechtlichen Vorgaben ergibt sich indes nicht, weswegen der Gestaltungsspielraum der Kantone auf die berufsmässige Parteivertretung durch Nichtanwälte im Übertretungsstrafverfahren beschränkt sein soll. Der Gestaltungsspielraum der Kantone wird nach den bundesrechtlichen Vorgaben lediglich auf die Anforderungen nach Art. 127 Abs. 4 StPO beschränkt (vgl. BOHNET/MARTENET, a.a.O., Rz. 973).
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1.6.3 Vor dem Hintergrund des dargelegten Gestaltungsspielraums ist die in Frage kommende kantonale Regelung zu prüfen. Der vom Beschwerdeführer angeführte Art. 10 Abs. 1 AnwG/SG nimmt weder auf das Übertretungsstrafverfahren noch auf die nicht berufsmässige Vertretung Bezug. Eine Regelung für die nicht berufsmässige Vertretung im Übertretungsstrafverfahren würde sich allenfalls aus einem Umkehrschluss und einer Eingrenzung des Geltungsbereichs von Art. 10 Abs. 1 AnwG/SG in Strafsachen auf das Übertretungsstrafverfahren ergeben. Mit der Nichtregelung der nicht berufsmäsigen Vertretung liegt jedoch keine hinreichend klare Regelung vor, um von einer im Sinne von Art. 127 Abs. 5 StPO vom bundesrechtlich definierten Monopolbereich abweichenden kantonalen Bestimmung auszugehen (vgl. beispielsweise § 11 Abs. 3 des Anwaltsgesetzes des Kantons Zürich vom 17. November 2003 [AnwG/ZH; LS 215.1], der Folgendes vorsieht: "Vom Anwaltsmonopol ausgenommen ist die nicht berufsmässige Verteidigung im Übertretungstrafverfahren."). Demnach liegt entgegen den Ausführungen des Beschwerdeführers mit der Regelung von Art. 10 Abs. 1 AnwG/SG keine abweichende Bestimmung im Sinne von Art. 127 Abs. 5 StPO vor, welche die Verteidigung des Beschwerdeführers durch B. im vorinstanzlichen Verfahren zulassen würde. Ebenfalls keine abweichende Bestimmung für die Verteidigung im Übertretungsstrafverfahren ist in den in Art. 12 AnwG/SG ausdrücklich genannten Ausnahmen oder im Einführungsgesetz des Kantons St. Gallen vom BGE 147 IV 379 (384) BGE 147 IV 379 (385) 3. August 2010 zur Schweizerischen Straf- und Jugendstrafprozessordnung (EG-StPO/SG; sGS 962.1) vorgesehen und der Beschwerdeführer macht auch nicht geltend, dass in anderen kantonalen Erlassen eine entsprechende Bestimmung zu finden wäre.
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