BGHSt 36, 210 - Nichteinhaltung einer Strafmaßzusicherung | |||
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Bearbeitung, zuletzt am 16.03.2020, durch: Rainer M. Christmann | |||
GG Art. 2 Abs. 1, Art. 20 Abs. 3; MRK Art. 6 Abs. 1; StPO § 265 Abs. 4 |
2. Strafsenat |
Urteil |
vom 7. Juni 1989 g.S.u.a. |
- 2 StR 66/89 - |
Landgericht Frankfurt/Main |
Aus den Gründen: | |
I. | |
Das Landgericht hat die Angeklagten der Einfuhr von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in Tateinheit mit Handeltreiben schuldig gesprochen. Gegen die Angeklagten S. und R. hat es auf Freiheitsstrafen von je 4 Jahren und 6 Monaten erkannt, gegen die Angeklagte M. eine Freiheitsstrafe von 5 Jahren und 6 Monaten verhängt. Darüber hinaus hat es eine Reihe von Gegenständen eingezogen.
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II. | |
Die Rechtsmittel haben zum Teil Erfolg. Soweit sie sich gegen die Schuldsprüche und die Einziehungsanordnungen richten, sind sie offensichtlich unbegründet (§ 349 Abs. 2 StPO). Dagegen können die Strafaussprüche nicht bestehen bleiben. Sie sind von einem Verfahrensfehler betroffen, den die Beschwerdeführer übereinstimmend rügen. Verletzt ist der Anspruch der Angeklagten auf ein faires Verfahren.
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1. Dieser Verfahrensverstoß ergibt sich aus folgenden Vorgängen:
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Am zweiten von insgesamt drei Hauptverhandlungstagen unterbrach der Vorsitzende die Verhandlung von 14.40 bis 14.50 Uhr, um den Verteidigern Gelegenheit zur Prüfung zu geben, ob sie Beweisanträge stellen wollten. In dieser Pause nahmen die Verteidiger Rücksprache mit dem Sitzungsvertreter der Staatsanwaltschaft. Dieser sagte ihnen, daß er beabsichtige, gegen die Angeklagten S. und R. Freiheitsstrafen von je 3 Jahren und 6 Monten sowie gegen die Angeklagte M. eine Freiheitsstrafe von 4 Jahren zu beantragen.
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Wenig später wandte sich der Vorsitzende vor dem Sitzungssaal an die Verteidiger und erklärte sinngemäß: "Na, woran hängt's denn noch, haben Sie sich mit dem Staatsanwalt geeinigt?" Daraufhin fragte ihn der Verteidiger der Angeklagten M., ob die Verteidigung davon ausgehen könne, daß nach Übung der Kammer Anträge des Staatsanwalts nicht überschritten würden. Der Vorsitzende antwortete. "Davon können Sie ausgehen".
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Kurz nach Wiederaufruf der Sache bat der Verteidiger der Angeklagten M. erneut um eine Pause, da er sich noch nicht schlüssig sei, ob er nicht doch Anträge stellen solle. Die Verhandlung wurde daraufhin von 14.52 bis 15.05 Uhr unterbrochen. Während dieser Pause erschien der Vorsitzende im Sitzungssaal und trat an den Verteidiger der Angeklagten M. heran, der gerade in der Verteidigerbank saß, um Anträge vorzubereiten. Ihn fragte er sinngemäß, ob dies denn nötig sei, er habe gedacht, man habe sich mit dem Staatsanwalt geeinigt. Der so angesprochene Verteidiger und auch der mitanwesende Verteidiger des Angeklagten S. teilten nun mit, daß der Staatsanwalt die beabsichtigten Anträge offengelegt habe. Darauf erklärte der Vorsitzende - was auch der Verteidiger des Angeklagten R. beim Verlassen des Sitzungssaales noch hörte - sinngemäß: "Na also, dann können wir doch weitermachen".
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Danach wurde die Verhandlung fortgesetzt. Die Verteidigung stellte keine Beweisanträge; sie gab auch keine Erklärungen mehr ab. Nach Schluß der Beweisaufnahme plädierte der Staatsanwalt auf die seiner Ankündigung entsprechenden Strafen. Mit dem angefochtenen Urteil hat das Landgericht jedoch höhere Strafen verhängt.
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Das Landgericht hat höhere Strafen als die vom Staatsanwalt beantragten verhängt, obwohl der Vorsitzende der Kammer bei den Verteidigern und den Angeklagten die Erwartung geweckt hatte, das Gericht werde im Strafmaß nicht über den Antrag des Staatsanwaltes hinausgehen. Zwar brauchte die Strafkammer dieser Erwartung nicht zu entsprechen; doch hätte der Vorsitzende, als sich herausstellte, daß auf höhere Strafen erkannt werden würde, den Verteidigern und den Angeklagten einen Hinweis auf diese Möglichkeit geben müssen, um ihrem Anspruch auf ein faires Verfahren Genüge zu tun.
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a) Der Vorsitzende hatte durch seine Erklärungen bei den Verteidigern und den Angeklagten die Erwartung begründet, daß die Kammer keine höheren Strafen als die vom Staatsanwalt beantragten verhängen werde.
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Bereits seine erste Erklärung war geeignet, diesen Eindruck hervorzurufen. Zwar hatte der Verteidiger der Angeklagten M. ihn nur gefragt, ob die Verteidigung davon ausgehen könne, daß "nach Übung der Kammer" Anträge des Staatsanwalts nicht überschritten würden. Dabei würde die Wendung "nach Übung der Kammer" für sich gesehen die Deutung gestatten, der Verteidiger habe sich nur nach der allgemeinen Spruchpraxis der Kammer erkundigt; die bejahende Antwort des Vorsitzenden wäre dann, da die Möglichkeit von Ausnahmen offenblieb, nicht als Zusage des Inhalts zu werten, daß die Kammer auch im vorliegenden Fall entsprechend der Übung verfahren werde. Doch führt die Berücksichtigung der Umstände des Gesprächs zu einem anderen Ergebnis. Maßgebend dafür ist, daß die Frage des Verteidigers durch eine eigene Initiative des Vorsitzenden ausgelöst worden war, der von sich aus gefragt hatte, woran es denn noch "hänge", ob er, der Verteidiger, sich mit dem Staatsanwalt "geeinigt" habe. Wenn der Verteidiger ihm darauf die Gegenfrage stellte, ob die Kammer sich nach ihrer Übung im Rahmen der Anträge des Staatsanwalts halte, so ging es ihm - für den Vorsitzenden auch erkennbar - nicht um die Befriedigung eines allgemeinen, "fallunabhängigen" Interesses, sondern darum, sich darüber zu vergewissern, ob das Gericht hier einer "Einigung", nach der sich der Vorsitzende selber erkundigt hatte, entsprechen werde. Danach hat der Vorsitzende den Eindruck erweckt, daß die Kammer nicht über die Anträge des Staatsanwalts hinausgehen werde und daß die Verteidigung sich in ihrem Prozeßverhalten darauf einrichten könne.
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Diese Zusicherung hat der Vorsitzende durch seine zweite Erklärung wiederholt und bekräftigt. Anlaß dafür war, daß der Verteidiger der Angeklagten M. sich nicht auf dessen erste Erklärung verlassen hatte, was darin zum Ausdruck gekommen war, daß er erneut um eine Verhandlungspause bat und, als ihm diese gewährt wurde, Anträge vorzubereiten begann. Wenn der Vorsitzende daraufhin an ihn herantrat, ihn fragte, ob das denn "notig" sei, weiter erklärte, er habe gedacht, die Verteidigung habe sich mit dem Staatsanwalt "geeinigt", anschließend erfuhr, daß den Verteidigern die beabsichtigten Anträge des Staatsanwalts offengelegt worden waren, und jetzt die Äußerung tat "na also, dann können wir doch weitermachen", so lag darin die - nach den gegebenen Umständen, insbesondere dem Gesprächszusammenhang - eindeutige und unmißverständliche Zusicherung, daß die Kammer keine höheren Strafen als die vom Staatsanwalt beantragten verhängen werde und die Verteidigung sich darauf einstellen dürfe.
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Dies haben die Verteidiger denn auch getan. Sie haben sich auf die Zusicherung des Vorsitzenden verlassen und ihr Prozeßverhalten danach eingerichtet, indem sie im weiteren Verlauf der Verhandlung keine Beweisanträge, insbesondere zur Darlegung der tatsächlichen Voraussetzungen des § 31 BtMG, stellten.
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b) Die hieran geknüpfte Verfahrensrüge der Beschwerdeführer ist begründet. Dabei kommt es nicht darauf an, ob das beiderseitige Verhalten von Vorsitzendem und Verteidiger als Absprache (Begrenzung der Strafhöhe gegen Unterlassung verfahrensverzögernder Beweisanträge) zu werten ist und wie die Zulässigkeit einer solchen Absprache zu beurteilen wäre. Entscheidend ist vielmehr allein, ob die Verteidigung - wie sie es getan hat - auf die Zusicherung des Vorsitzenden vertrauen durfte. Das aber ist zu bejahen.
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aa) Dem steht nicht entgegen, daß die Erklärungen des Vorsitzenden außerhalb der Hauptverhandlung abgegeben worden waren. Der Bundesgerichtshof hat - wenn auch in anderem Zusammenhang - wiederholt anerkannt, daß es dem Richter, namentlich dem Vorsitzenden, grundsätzlich nicht verwehrt ist, auch außerhalb der Verhandlung Kontakt zu Verfahrensbeteiligten aufzunehmen (BGH StV 1984, 449 f.; 1988, 417 f.). Soweit der Vorsitzende dabei verfahrensbezogene Erklärungen abgibt, ist kein Grund ersichtlich, der es rechtfertigten könnte, die Verläßlichkeit seines Wortes - als Grundlage für ein entsprechendes Prozeßverhalten der Verfahrensbeteiligten - nur um deswillen in Zweifel zu ziehen, weil es nicht während der Verhandlung gesagt worden ist. Freilich sind Fälle denkbar, in denen Anlaß, Form, Ort oder sonstige Umstände einer vom Vorsitzenden außerhalb der Verhandlung gemachten Äußerung es von vornherein ausschließen, ihr die Eignung zuzuerkennen, als Vertrauensgrundlage für das Prozeßverhalten Verfahrensbeteiligter zu dienen. So verhielt es sich hier aber nicht. Im vorliegenden Fall hatte der Vorsitzende die Zusicherung zwar außerhalb der Verhandlung gegeben; doch war dies in engem zeitlichem und örtlichem Zusammenhang mit der Verhandlung, nämlich während zweier kurzer Verhandlungspausen, das erste Mal vor dem Sitzungssaal, das zweite Mal im Sitzungssaal selbst geschehen.
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bb) Als Vertauensgrundlage für das weitere Prozeßverhalten der Verteidigung war die Zusicherung auch nicht etwa deshalb untauglich, weil es sich nur um Erklärungen des Vorsitzenden handelte, jedoch ein künftiges Entscheidungsverhalten der Kammer in Aussicht gestellt worden war. Ob und gegebenenfalls inwieweit der Vorsitzende Vertreter des Spruchkörpers ist, dem er angehört (vgl. dazu: Gollwitzer in Löwe/Rosenberg, StPO 24. Aufl. vor § 226 Rn. 34, § 23 8 Rn. 2; RGSt 44, 65 f.), bedarf dabei keiner grundsätzlichen Klärung. Denn jedenfalls besteht angesichts der Stellung, die der Vorsitzende während des Hauptverfahrens einnimmt, für die Verfahrensbeteiligten in der Regel kein Anlaß, daran zu zweifeln, daß Erklärungen, die er in diesem Verfahrensstadium abgibt, ihrem weiteren prozessualen Verhalten zugrunde gelegt werden dürfen. So reicht etwa - wie der Bundesgerichtshof entschieden hat - eine vom Vorsitzenden allein gegebene Wahrunterstellungszusage aus, um bei dem Angeklagten die schutzwürdige Erwartung zu begründen, daß sich das Gericht daran halten werde (BGHSt 1, 51 [53 ff.]; 21, 38 f.).
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So liegt es auch hier. Anders wäre der Fall zu beurteilen, wenn sich die Erklärung des Vorsitzenden über die künftige Entscheidung der Kammer lediglich als seine persönliche Einschätzung darstellen würde, etwa mit dem Vorbehalt der (noch ausstehenden) Bestätigung durch die Kammer versehen worden wäre. Das war jedoch nicht der Fall.
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Die Verteidigung hätte sich freilich auch dann nicht auf die Zusicherung des Vorsitzenden verlassen dürfen, wenn ihr etwa im Laufe der weiteren Verhandlung bekannt oder erkennbar geworden wäre, daß die Kammer trotzdem im Strafmaß über den Antrag des Staatsanwaltes hinausgehen werde; dies hätte die Vertrauensgrundlage wieder beseitigt. Dafür läßt sich dem Sachverhalt jedoch nichts entnehmen.
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cc) Bedenken dagegen, die Zusicherung des Vorsitzenden als Grundlage eines entsprechenden Vertrauensschutzes anzuerkennen, ergeben sich auch nicht aus der Art ihres Gegenstandes. Schutzwürdige Erwartungen der Verfahrensbeteiligten werden allerdings nicht durch Zusicherungen begründet, deren Erfüllung (wie etwa eine bestimmte Gestaltung des Strafvollzugs) außerhalb der Kompetenz des Tatgerichts läge oder (wie etwa die Unterschreitung einer für das Delikt zwingend vorgeschriebenen Mindeststrafe) offensichtlich rechtswidrig wäre. Auf Kompetenzüberschreitung oder evidenten Rechtsverstoß darf selbst bei entsprechender Zusicherung niemand vertrauen; werden solche Erwartungen dennoch geweckt oder gehegt, so verdienen sie jedenfalls keinen rechtlichen Schutz. Ein solcher Fall ist aber hier nicht gegeben.
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c) Bei dieser Sach- und Rechtslage erwuchs dem Vorsitzenden, als er (spätestens bei der Beratung) erkannte, daß sich die von ihm gegebene Zusicherung nicht einhalten ließ, die verfahrensrechtliche Pflicht, die Verteidiger und die Angeklagten (erforderlichenfalls unter Wiedereintritt in die Verhandlung) darauf hinzuweisen, daß nun doch die Verurteilung zu höheren als den vom Staatsanwalt beantragten Strafen in Betracht komme. Dies war geboten, um die bei den Verteidigern wie auch den Angeklagten geweckte Erwartung, das vom Staatsanwalt geforderte Strafmaß werde nicht überschritten, rechtzeitig zu beseitigen, ihnen damit Gelegenheit zu geben, sich auf die insoweit veränderte Sachlage einzustellen und alle sich unter diesem Gesichtspunkt bietenden Verteidigungsmöglichkeiten zu nutzen. Die Pflicht zur Erteilung des Hinweises ergab sich dabei aus dem Gebot des falten Verfahrens, wie dies der Bundesgerichtshof für vergleichbare Hinweispflichten anerkannt hat (für das Abrücken von einer zugesagten Wahrunterstellung: BGHSt 32, 44 [47 f.]; für den Wechsel in der Beurteilung einer zunächst als bedeutungslos eingestuften Beweistatsache: BGHStV 1988, 9 f.; für die Verwertung des nach §§ 154, 154a StPO ausgeschiedenen Verfahrensstoffes: BGH NStZ 1981, 100; StV 1982, 523; 1985, 221; BGHR StPO § 154 Abs. 2 Hinweispflicht 1; vgl. im übrigen noch BGH StV 1987,427 f.). Dem liegt hier wie dort der Gedanke des Vertrauensschutzes zugrunde: Der Angeklagte - und gleiches gilt für seinen Verteidiger - darf nicht in einer Erwartung enttäuscht werden, die das Gericht selbst erst geweckt hat.
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