Beschluß | |
des Ersten Senats vom 27. Juli 1966
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- 1 BvR 296/66 - | |
in dem Verfahren über die Verfassungsbeschwerde des Kriminalsekretärs ... - Bevollmächtigte: Rechtsanwälte ... - gegen den Beschluß des Oberlandesgerichts Köln vom 5. April 1966 - 2 Ws 156-157/66.
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Entscheidungsformel:
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Die Verfassungsbeschwerde wird zurückgewiesen.
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Gründe | |
I.
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1. Der Beschwerdeführer ist teils wegen vollendeten, teils wegen versuchten Mordes in zahlreichen Fällen angeklagt, die er als SS-Führer im Konzentrationslager Mauthausen in den Jahren von 1940 bis 1945 begangen haben soll. Er ist in dieser Sache in Untersuchungshaft gewesen:
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Am 10. September 1965 ist er erneut in Untersuchungshaft genommen worden, die noch andauert.
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Das seit Anfang des Jahres 1955 anhängige Ermittlungsverfahren gegen den Beschwerdeführer und einige weitere Beschuldigte wurde zunächst von der Staatsanwaltschaft beim Landgericht München I geführt, im Dezember 1956 an die Staatsanwaltschaft Köln zuständigkeitshalber abgegeben. Gemäß § 143 Abs. 3 GVG bestimmte der Generalbundesanwalt durch Verfügung vom 27. März 1958 für den Beschwerdeführer und den Beschuldigten S ... die Staatsanwaltschaft in Köln als zuständige Strafverfolgungsbehörde. Die am 30. Juli 1958 eröffnete Voruntersuchung wurde am 14. November 1962 geschlossen. Am 31. März 1965 hat die Staatsanwaltschaft gegen den Beschwerdeführer Anklage wegen Mordes in 435 Fällen, versuchten Mordes in 52 Fällen und Beihilfe zum Mord in 15 Fällen erhoben. Gleichzeitig hat sie beantragt, das Verfahren gegen den Beschwerdeführer in 16 Fällen gemäß § 154 StPO vorläufig einzustellen und ihn in 243 Fällen außer Verfolgung zu setzen.
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Das Landgericht Köln hat im Frühjahr 1966 das Hauptverfahren gegen den Beschwerdeführer wegen versuchten Mordes in einem Fall. vollendeten Mordes in 3 Fällen an 4 Menschen und Beihilfe zum Mord in 17 Fällen an insgesamt 6757 Menschen eröffnet. Die Hauptverhandlung soll am 21. November 1966 beginnen.
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2. Durch Beschluß vom 5. April 1966 - HEs 75/65 - 68 - 69 - hat das Oberlandesgericht Köln die weitere Untersuchungshaft gegen den Beschwerdeführer angeordnet. Dabei hat es unter anderem ausgeführt, die Dauer der Untersuchungshaft stehe nicht außer Verhältnis zu der Bedeutung der Sache; die für ein Mordverfahren dieses Ausmaßes unumgänglichen Schwierigkeiten der Vorbereitung des Hauptverfahrens bildeten einen wichtigen Grund für die Haftfortdauer.
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1. Mit der gegen diesen Beschluß erhobenen Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer Verletzung seines Grundrechts auf persönliche Freiheit. Er hat beantragt, im Wege einstweiliger Anordnung zu entscheiden, daß er aus der Untersuchungshaft zu entlassen sei. Zur Begründung hat er ausgeführt:
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a) Die Dauer der von ihm erlittenen Untersuchungshaft verstoße schlechthin gegen Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG in Verbindung mit Art. 5 der Europäischen Menschenrechtskonvention, weil sie geeignet sei, die Widerstandskraft und Verteidigungsbereitschaft weitgehend zu untergraben und den Beschwerdeführer zu einem willenlosen Objekt der Strafverfolgung zu machen.
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b) Das Verfahren sei nicht mit der gebotenen Beschleunigung durchgeführt, sondern durch Verschulden der Justizorgane erheblich verzögert worden. Durch den Zuständigkeitsstreit zwischen den Staatsanwaltschaften München und Köln sei das Verfahren über ein Jahr lang nicht gefördert worden. Die viereinhalb Jahre dauernde gerichtliche Voruntersuchung hätte um die Hälfte verkürzt werden können, wenn das Verfahren gegen den Beschwerdeführer von dem Verfahren gegen den Mitangeschuldigten S ... abgetrennt worden und für jedes Verfahren ein besonderer Untersuchungsrichter bestellt worden wäre.
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c) Zu Unrecht nehme das Oberlandesgericht an, daß Fluchtgefahr sich nicht ausschließen lasse. Das Verhalten des Beschwerdeführers während der Haftverschonung zeige vielmehr, daß er nicht zu fliehen gedenke.
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2. Der Justizminister des Landes Nordrhein-Westfalen hält die Verfassungsbeschwerde für unbegründet. Er hat ausgeführt:
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a) Unter Berücksichtigung der Grundsätze der Strafprozeßordnung und der Europäischen Menschenrechtskonvention sei die Untersuchungshaft trotz ihrer langen Dauer noch nicht unzulässig.
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Die Verteidigungsbereitschaft des Beschwerdeführers werde durch die Fortdauer der Untersuchungshaft nicht gebrochen, weil er sich mehrmals für längere Zeit auf freiem Fuß befunden habe.
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Die Erörterungen über die zweckmäßige Durchführung der Ermittlungen hätten dazu geführt, daß das Verfahren aufgeteilt und in Köln nur gegen den Beschwerdeführer und den Mitbeschuldigten S ... weiter ermittelt worden sei. Dadurch habe das Verfahren wesentlich schneller durchgeführt werden können.
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Eine Trennung des Verfahrens gegen den Beschwerdeführer und gegen den Mitangeklagten S ... hätte zu keiner Verkürzung der Untersuchungshaft geführt, da die meisten Zeugen zu beiden Angeschuldigten zu vernehmen gewesen seien. Ein zweiter Untersuchungsrichter hätte vermeidbare Doppelermittlungen führen müssen. Eine Aufteilung unter zwei Sachbearbeiter sei daher erst nach Abschluß der Voruntersuchung möglich gewesen und auch erfolgt.
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Die Verfassungsbeschwerde ist unbegründet.
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1. In dem Rechtsinstitut der Untersuchungshaft wird das Spannungsverhältnis zwischen dem Recht des Einzelnen auf persönliche Freiheit (Art. 2 Abs. 2 und Art. 104 GG) und den Bedürfnissen einer wirksamen Verbrechensbekämpfung deutlich sichtbar. Ein gerechter Ausgleich dieser Spannung läßt sich im Rechtsstaat nur dadurch erreichen, daß den vom Standpunkt der Strafverfolgung aus erforderlich und zweckmäßig erscheinenden Freiheitsbeschränkungen der grundrechtlich verbürgte Freiheitsanspruch des noch nicht verurteilten und daher noch als unschuldig geltenden Beschuldigten als Korrektiv ständig entgegengehalten wird. Das bedeutet, daß der Eingriff in die Freiheit nur hinzunehmen ist, wenn und soweit der legitime Anspruch der staatlichen Gemeinschaft auf vollständige Aufklärung der Tat und rasche Bestrafung des Täters nicht anders gesichert werden kann als durch vorläufige Inhaftierung eines Verdächtigen (BVerfGE 19, 342 [347 f.]; BVerfG, NJW 1966 S. 1259).
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2. Dieser verfassungsrechtliche Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ist nicht nur für die Anordnung, sondern auch für die Dauer der Untersuchungshaft von Bedeutung. Vor allem darf die Untersuchungshaft hinsichtlich ihrer Dauer nicht außer Verhältnis zu der voraussichtlich zu erwartenden Strafe stehen. Unabhängig von der zu erwartenden Strafe setzt aber der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit der Haftdauer Grenzen.
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Ob das Grundgesetz - wie der Beschwerdeführer meint - eine absolute Grenze für die Untersuchungshaft fordert, die nach Ablauf einer kalendermäßig bestimmten Zeit eine Fortdauer der Inhaftierung schlechthin verbietet, braucht nicht entschieden zu werden; denn diese Grenze wäre im vorliegenden Fall jedenfalls noch nicht überschritten. Bei der Prüfung, ob die gegen einen Beschuldigten verhängte Untersuchungshaft unzumutbar lange andauert, kann nicht unberücksichtigt bleiben, daß der Vollzug der Haft für nicht ganz unerhebliche Zeiträume unterbrochen worden ist.
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Der Beschwerdeführer ist seit der erstmaligen Festnahme dreimal jeweils über ein Jahr auf freiem Fuß gewesen und hat sich insbesondere in der Zeit vom Januar 1963 bis September 1965 nur knapp drei Monate in Haft befunden. Deshalb könnte bei der Bemessung der absoluten Höchstgrenze einer zumutbaren Haft die vorher erlittene Untersuchungshaft nicht in vollem Umfange berücksichtigt werden, weil durch diese Unterbrechungen die mit der Untersuchungshaft verbundenen Belastungen erheblich gemildert werden. Im Hinblick darauf kann davon ausgegangen werden, daß diese Höchstgrenze, falls man sie aus dem Grundgesetz herleitet, jedenfalls hier noch nicht überschritten ist.
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3. Das gegen den Beschwerdeführer geführte Ermittlungsverfahren ist auch mit der gebotenen Beschleunigung durchgeführt worden. Der weitere Vollzug von Untersuchungshaft, welche die in § 121 Abs. 1 StPO bestimmte Frist erheblich überschreitet, verstößt dann gegen Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG, wenn die Überschreitung dadurch verursacht ist, daß die Strafverfolgungsbehörden und die Gerichte nicht alle möglichen und zumutbaren Maßnahmen ergriffen haben, um die notwendigen Ermittlungen mit der gebotenen Schnelligkeit abzuschließen. Denn zur Durchführung eines geordneten Strafverfahrens und Sicherstellung der späteren Strafvollstreckung im Sinne des vorgenannten Beschlusses des Bundesverfassungsgerichts kann die Untersuchungshaft dann nicht mehr als notwendig anerkannt werden, wenn ihre Fortdauer durch vermeidbare Verzögerung der Ermittlungen verursacht ist (BVerfG, NJW 1966 S. 1259).
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Eine solche Verzögerung der Ermittlungen gegen den Beschwerdeführer ist nicht erkennbar. Wenn die Ermittlungen durch Meinungsverschiedenheiten über die Zuständigkeit zwischen den Staatsanwaltschaften in Köln und München eine gewisse Zeit lang nicht weitergeführt worden sind, so bedeutet dies nicht notwendig eine vermeidbare Verzögerung des Verfahrens. Die Pflicht, die Ermittlungen möglichst schnell durchzuführen, entbindet die Strafverfolgungsbehörden im Rechtsstaat nicht von der Notwendigkeit, ihre Zuständigkeit zu prüfen. Daß diese Prüfung und Entscheidung unnötig verzögert worden sei, hat der Beschwerdeführer nicht dargelegt. Im Gegenteil hat der Justizminister des Landes Nordrhein-Westfalen mit Recht darauf hingewiesen, daß die Erörterungen über die Zuständigkeit im Ergebnis zu einer Beschleunigung des Verfahrens beigetragen haben, weil sie zur Abtrennung der Verfahren gegen eine erhebliche Zahl weiterer Beschuldigter führten.
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Das Verfahren gegen den Beschwerdeführer wäre auch nicht wesentlich beschleunigt worden, wenn das Verfahren gegen den jetzigen Mitangeklagten S ... abgetrennt und für jedes Verfahren ein besonderer Untersuchungsrichter bestellt worden wäre. Wie der Justizminister des Landes Nordrhein-Westfalen ausgeführt hat, bestand zwischen den Vorwürfen gegen beide Angeschuldigte ein enger Zusammenhang, so daß die meisten Zeugen über die beiden Angeschuldigten zur Last gelegten Straftaten vernommen werden mußten. Wenn deshalb von einer Trennung der beiden Verfahren abgesehen worden ist, so ist dies nicht zu beanstanden.
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4. Soweit der Beschwerdeführer geltend macht, das Oberlandesgericht habe zu Unrecht angenommen, daß Fluchtverdacht sich nicht ausschließen lasse, wendet er sich gegen die tatsächliche Würdigung des Sachverhalts, die vom Bundesverfassungsgericht grundsätzlich nicht auf ihre Richtigkeit nachgeprüft wird (BVerfGE 15, 245 [247]; 18, 85 [92]). Verfassungsverstöße läßt diese Feststellung nicht erkennen.
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