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Zitiert durch:
BVerfGE 137, 273 - Katholischer Chefarzt
BVerfGE 63, 88 - Versorgungsausgleich II
BVerfGE 53, 257 - Versorgungsausgleich I
BVerfGE 53, 224 - Ehescheidung
BVerfGE 52, 131 - Arzthaftungsprozeß
BVerfGE 47, 85 - Ehereformgesetz
BVerfGE 36, 264 - Untersuchungshaft
BVerfGE 32, 311 - Steinmetz
BVerfGE 30, 173 - Mephisto
BVerfGE 28, 104 - Rente bei DDR-Aufenthalt
BVerfGE 22, 349 - Waisenrente und Wartezeit


Zitiert selbst:
BVerfGE 18, 85 - Spezifisches Verfassungsrecht
BVerfGE 17, 1 - Waisenrente I
BVerfGE 6, 386 - Haushaltsbesteuerung
BVerfGE 6, 55 - Steuersplitting


A.
B.
1. Leben Ehegatten getrennt, so kann nach § 1361 Abs. 1 BGB  ...
2. Gegen die Verfassungsmäßigkeit des § 1361 Abs. ...
3. Auch die Auslegung und Anwendung dieser Vorschrift durch das L ...
Bearbeitung, zuletzt am 25.10.2022, durch: A. Tschentscher, Marcel Schröer
 
BVerfGE 22, 93 (93)Beschluß
 
des Ersten Senats vom 7. Juni 1967
 
-- 1 BvR 76/62 --  
in dem Verfahren über die Verfassungsbeschwerde der Ehefrau S. ... - Bevollmächtigter: Rechtsanwalt ... - gegen das Urteil des Landgerichts Nürnberg-Fürth vom 15. Dezember 1961 - 11 S 148/61.BVerfGE 22, 93 (93)
 
BVerfGE 22, 93 (94)Entscheidungsformel:
 
Die Verfassungsbeschwerde wird zurückgewiesen.
 
 
Gründe:
 
 
A.
 
Die im November 1928 geborene Beschwerdeführerin ist seit April 1948 mit einem Kommunalbeamten des gehobenen Dienstes verheiratet. Vor der Eheschließung war die Beschwerdeführerin etwa 2 1/2 Jahre als Behördenangestellte tätig. Im August 1948 gab sie diese Beschäftigung auf. Im April 1960 verließ der Ehemann die eheliche Wohnung. Seitdem leben die Ehegatten getrennt.
Auf die Unterhaltsklage der Beschwerdeführerin, mit der sie eine monatliche Zahlung von 300 DM forderte, verurteilte das Landgericht Nürnberg-Fürth in zweiter Instanz mit Urteil vom 15. Dezember 1961 (FamRZ 1962 S. 70) den Ehemann, an die Beschwerdeführerin ab Mai 1960 monatlich 300 DM, ab April 1962 monatlich 150 DM und ab Oktober 1962 monatlich 75 DM zu zahlen. Im übrigen wies es die Klage ab. Zur Begründung seiner Entscheidung führte das Landgericht im wesentlichen aus, der Ehemann habe die Trennung wenn nicht allein, so doch in erheblich überwiegendem Maße verschuldet. Es hat dahingestellt gelassen, ob die Beschwerdeführerin auch bei Fortdauer der häuslichen Gemeinschaft zu einer Erwerbstätigkeit verpflichtet gewesen wäre. Es erscheine grob unbillig, die 32 Jahre alte, gesunde, kinderlose Ehefrau schon jetzt ein Rentnerdasein auf Kosten des Mannes führen zu lassen. Die Ehefrau sei vor der Ehe und noch zu Beginn der Ehe berufstätig gewesen. Ihre späterhin dem ehelichen Haushalt gewidmete Arbeitskraft sei durch die Trennung wieder frei geworden. Ihre Vorbildung gestatte es ihr, mindestens in absehbarer Zeit eine ihrer früheren Tätigkeit etwa entsprechende Stelle zu finden, die im übrigen auch mit der wirtschaftlichen und sozialen Stellung ihres Mannes durchaus vereinbar sei. Allerdings könne der Ehefrau nicht zugemutet werden, die nächstbeste freie Stelle auf dem Arbeitsmarkt anzunehmen. Bis einBVerfGE 22, 93 (94)BVerfGE 22, 93 (95)schließlich März 1962 müsse daher der Ehemann für den Unterhalt seiner Frau voll aufkommen. Auch nach Aufnahme eigener Erwerbstätigkeit werde die Ehefrau angesichts der mehr als zwölfjährigen Beschäftigungspause eine gewisse Anlaufzeit benötigen, in der ihr Einkommen sich noch wesentlich unter dem für sie Erreichbaren halten werde. Für eine Übergangszeit von einem halben Jahr erscheine es daher billig, daß der Ehemann ihren Verdienst um 150 DM monatlich ergänze. Dadurch werde der Ehefrau die ihr wirtschaftlich und sozial zukommende Stellung erhalten, die sie jetzt als Frau eines Oberinspektors einnehme. Dieser Gesichtspunkt zwinge sogar dazu, ihr monatlich 75 DM selbst noch für die Folgezeit zuzuerkennen, in der sie voll verdienen werde. Denn auch dann müsse der Ehefrau die Möglichkeit gegeben werden, sich aus der Reihe ihrer Berufskolleginnen hervorzuheben, wie sie das bei ungetrübter Ehe könnte und wie ihr das als der Ehefrau eines städtischen Oberinspektors auch nach der vom Ehegatten verschuldeten Trennung gezieme.
Die Beschwerdeführerin trägt zur Begründung ihrer gegen das landgerichtliche Urteil erhobenen Verfassungsbeschwerde vor, die Auslegung des § 1361 Abs. 2 BGB in dieser Entscheidung sei besonders geeignet, die Auflösung ihrer Ehe zu erleichtern. Wenn ein Ehemann, der monatlich über 800 DM netto verdiene, an seine Ehefrau nach der von ihm verschuldeten Trennung nur 75 DM monatlich Unterhalt zahlen müsse, bedeute dies für ihn eine erhebliche wirtschaftliche Entlastung. Dies widerspreche aber eindeutig den Zielen des Art. 6 Abs. 1 GG, der die Aufrechterhaltung der Ehe sichern solle. Das Gericht habe auch völlig außer acht gelassen, daß sie sich ohne die Eheschließung in der Zwischenzeit hätte beruflich fortbilden und ein wesentlich höheres Einkommen hätte erzielen können, als das jetzt selbst unter Berücksichtigung des ihr vom Landgericht zugebilligten monatlichen Unterhaltsbeitrags möglich sei.
Der Bundesminister der Justiz hat von einer Äußerung abgesehen. Das Bayerische Staatsministerium der Justiz hält die Verfassungsbeschwerde für unbegründet. Der gemäß § 94 Abs. 3BVerfGE 22, 93 (95) BVerfGE 22, 93 (96)BVerfGG gehörte Ehemann ist der Auffassung, die in Art. 6 Abs. 1 GG enthaltene Institutsgarantie der Ehe werde durch die Auslegung des § 1361 BGB durch das Landgericht nicht berührt.
 
B.
 
1. Leben Ehegatten getrennt, so kann nach § 1361 Abs. 1 BGB jeder Ehegatte von dem anderen Unterhalt nur verlangen, wenn und soweit dies der Billigkeit entspricht. Eine Sonderregelung für die nichterwerbstätige Frau trifft § 1361 Abs. 2 BGB für den Fall, daß der Mann die Trennung allein oder in erheblich überwiegendem Maße verschuldet hat.
Dann kann die Ehefrau nur darauf verwiesen werden, ihren Unterhalt selbst zu verdienen, wenn sie auch bei Fortbestehen der häuslichen Gemeinschaft zu einer Erwerbstätigkeit verpflichtet gewesen wäre oder -- was hier in Frage kommt -- die Inanspruchnahme des Mannes nach den besonderen Umständen des Einzelfalles, insbesondere mit Rücksicht auf eine frühere Erwerbstätigkeit der Frau oder die kurze Dauer der Ehe grob unbillig wäre.
2. Gegen die Verfassungsmäßigkeit des § 1361 Abs. 2 BGB, der durch das Gesetz über die Gleichberechtigung von Mann und Frau auf dem Gebiet des bürgerlichen Rechts vom 18. Juni 1957 (BGBl. I S. 609) neu gefaßt worden ist, bestehen weder im Hinblick auf den durch Art. 6 Abs. 1 GG geforderten Schutz von Ehe und Familie noch im Hinblick auf die Gleichberechtigung von Mann und Frau nach Art. 3 Abs. 2 GG Bedenken. Diese Unterhaltsregelung trägt beiden Verfassungsgeboten Rechnung, indem sie in den dort geregelten Fällen einen besonderen Schutz der nichterwerbstätigen Ehefrau vorsieht (vgl. den Schriftlichen Bericht des Ausschusses für Rechtswesen und Verfassungsrecht -- 16. Ausschuß -- zu BT-Drucks. II/3409 S. 39). Sie geht davon aus, daß die Frau ihre Verpflichtung zum Unterhalt der Familie in der Regel durch die Führung des Haushalts erfüllt (§ 1360 Satz 2 BGB) und häufig im Vertrauen auf die Dauerhaftigkeit der Ehe von einer außerhäuslichen Erwerbstätigkeit AbstandBVerfGE 22, 93 (96) BVerfGE 22, 93 (97)nimmt, um sich ausschließlich dem häuslichen Bereich der Familie zu widmen. Hieraus ergeben sich im Falle einer Aufhebung der ehelichen Gemeinschaft zwangsläufig erhebliche Nachteile für die erwerbswirtschaftliche Situation der Frau, und zwar auch dann, wenn sie keine Kinder zu betreuen hat (vgl. BVerfGE 17, 1 [21 f.]). Die Hausfrau ohne andere Berufsausbildung wird in den meisten Fällen zu alt sein, um eine solche nachzuholen, und ist daher auf die Übernahme einer ungelernten, d. h. entsprechend niedrig entlohnten Arbeit angewiesen. Auch die Frau, die einen anderen Beruf erlernt, aber wegen der Ehe aufgegeben hat, wird oft schon nach kurzer Unterbrechung, sicher aber nach Jahren der Berufsentfremdung, Schwierigkeiten haben, in diesen Beruf zurückzukehren, und regelmäßig nicht mehr die Position erreichen können, die sie bei ununterbrochener beruflicher Tätigkeit voraussichtlich einnehmen würde. Deswegen verlangt § 1361 Abs. 2 BGB, daß die regelmäßig auf der übereinstimmenden Entscheidung der Ehegatten beruhende Arbeitsteilung in der Ehe bei nicht von der Frau -- allein oder überwiegend -- verschuldeten Störungen der Ehe zu ihren Gunsten berücksichtigt wird. Der Partner, der schuldhaft die Fortsetzung des ehelichen Zusammenlebens in der bisherigen Weise vereitelt, soll die Frau in der Regel nicht darauf verweisen können, ihren Unterhalt nunmehr durch eine außerhäusliche Erwerbsarbeit zu verdienen. Etwas anderes soll nur gelten, wenn nach den Umständen des Einzelfalles die unveränderte Fortdauer der vollen Unterhaltspflicht des Mannes eine grobe Unbilligkeit darstellen würde. So gesehen bildet die Regelung eine Ausprägung des richtig verstandenen Grundsatzes der Gleichberechtigung der Frau in der Ehe.
3. Auch die Auslegung und Anwendung dieser Vorschrift durch das Landgericht ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden.
a) Das Bundesverfassungsgericht kann nach seiner ständigen Rechtsprechung gerichtliche Entscheidungen nur in beschränktem Umfang nachprüfen (BVerfGE 18, 85 [92 f.]). Im vorliegenden Fall sind der verfassungsgerichtlichen Nachprüfung auch deshalb enge Grenzen gezogen, weil die Entscheidung über das VorliegenBVerfGE 22, 93 (97) BVerfGE 22, 93 (98)oder Nichtvorliegen einer groben Unbilligkeit im Sinne des § 1361 Abs. 2 BGB entscheidend von der Würdigung des einzelnen Falles, d. h. von der Feststellung und Bewertung zahlreicher Einzelumstände abhängt. Auch der Umstand, daß in Unterhaltsprozessen der vorliegenden Art wegen der Beschränkung des Rechtszuges eine richtungweisende oberstgerichtliche Rechtsprechung fehlt, kann nicht zu einer Ausweitung der Prüfungsbefugnis des Bundesverfassungsgerichts führen, die mit seiner besonderen Funktion und seiner Stellung im Verhältnis zu den anderen Trägern der rechtsprechenden Gewalt nicht vereinbar wäre.
Das Bundesverfassungsgericht kann daher im vorliegenden Fall nur prüfen, ob die angefochtene Entscheidung auf einer grundsätzlich unrichtigen Anschauung von der Bedeutung der geltend gemachten Grundrechte beruht (BVerfGE 18, 85 [92]). Art. 6 Abs. 1 und Art. 3 Abs. 2 GG stellen verbindliche Wertentscheidungen für den gesamten Bereich des Ehe und Familie betreffenden privaten und öffentlichen Rechts dar (vgl. BVerfGE 6, 55 [72 f.]; 6, 386 [388]); sie sind demgemäß bei der Auslegung und Anwendung des einfachen Rechts, insbesondere bei der Anwendung von Generalklauseln, wie hier dem Begriff der groben Unbilligkeit, zu beachten. Auch bei der Auslegung des Unterhaltsrechts muß der Richter auf den verfassungsrechtlich gebotenen Schutz der auf der Gleichberechtigung von Mann und Frau beruhenden ehelichen Gemeinschaft Bedacht nehmen und darf seine bei der Anwendung einer Billigkeitsklausel besonders weitreichende Entscheidungsbefugnis nicht in einer Weise ausüben, die geeignet ist, den Bestand der Ehe zu beeinträchtigen oder bei einer nicht mehr intakten Ehe den Auflösungsprozeß zu beschleunigen. Bei der Auslegung des § 1361 Abs. 2 BGB muß er insbesondere den oben dargelegten Grundgedanken der Vorschrift beachten, das heißt der Nachwirkung der Aufgabenteilung in der Ehe zugunsten der nichterwerbstätigen Frau Rechnung tragen.
b) Würdigt man die angefochtene Entscheidung in ihrem Gesamtzusammenhang, ohne auf einzelne Formulierungen abzuheben, so ist nicht festzustellen, daß das Landgericht diese WertBVerfGE 22, 93 (98)BVerfGE 22, 93 (99)maßstäbe außer acht gelassen hätte. Die Entscheidung läßt keine fehlerhafte Auffassung vom Wesen der in Art. 6 Abs. 1 i.V.m. Art. 3 Abs. 2 GG geschützten ehelichen Lebensgemeinschaft erkennen und beruht nicht auf einer ehefeindlichen Tendenz. Das Landgericht hat sich auch bemüht, dem Schutzgedanken des § 1361 Abs. 2 BGB Rechnung zu tragen. Es ist nicht davon ausgegangen, daß bei einer vom Mann verschuldeten Trennung die Frau ohne weiteres zur Erwerbstätigkeit verpflichtet sei; es hat nicht verkannt, daß eine solche Pflicht nur ausnahmsweise nach den besonderen Umständen des Einzelfalls angenommen werden kann. Wenn die Entscheidung dennoch die Verpflichtung der Beschwerdeführerin zur Erwerbstätigkeit bejaht hat, so war hierfür die richterliche Würdigung der tatsächlichen Besonderheiten des vorliegenden Falles wie die Dauer der Ehe, das Fehlen von Kindern, das Alter und der Gesundheitszustand der Beschwerdeführerin, ihre berufliche Vorbildung, die Lage des Arbeitsmarktes und das Zusammenleben der Beschwerdeführerin mit ihren Eltern maßgebend. Das Gericht hat die Fortwirkung der Aufgabenteilung in der Ehe dadurch berücksichtigt, daß es der Beschwerdeführerin mit Rücksicht auf die Dauer der Ehe eine Übergangszeit bis zur Erlangung einer angemessenen und zumutbaren Beschäftigung zugebilligt und aus dem Zuschnitt der Lebenshaltung in der Ehe die dauernde Verpflichtung des Mannes zu einer ihr Arbeitseinkommen ergänzenden Unterhaltszahlung hergeleitet hat.
Danach ist die der Entscheidung zugrunde gelegte Auslegung und Anwendung des § 1361 Abs. 2 BGB verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Ob die Würdigung der Umstände des Einzelfalls nach einfachem Recht fehlerfrei ist, insbesondere ob das Gericht von seiner eigenen Ausgangsposition aus die Höhe der ergänzenden Unterhaltszahlung richtig bemessen hat, kann das Bundesverfassungsgericht nicht nachprüfen. Auch wenn bei einer dem Richter aufgetragenen Abwägung widerstreitender Interessen die von ihm vorgenommene Wertung fragwürdig sein mag, weil sie den Interessen der einen oder der anderen Seite zuvielBVerfGE 22, 93 (99) BVerfGE 22, 93 (100)oder zuwenig Gewicht beilegt, liegt hierin noch keine Grundrechtswidrigkeit (BVerfGE 18, 85 [93]).
Müller Berger Scholtissek Stein Ritterspach Haager Rupp-v. Brünneck BöhmerBVerfGE 22, 93 (100)