2. Ein richtig verstandener Strafvollzug kann nicht nur Ansprüche des Gefangenen begründen, sondern unter Umständen auch grundrechtsbeschränkende Maßnahmen rechtfertigen.
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Beschluß | |
des Zweiten Senats vom 29. Oktober 1975
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-- 2 BvR 812/73 -- | |
In dem Verfahren über die Verfassungsbeschwerde des Herrn Baldur Z ... gegen die Beschlüsse des Oberlandesgerichts Hamm vom 8. und 25. Oktober 1973 -- 1 VAs 66/73 --.
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Entscheidungsformel: | |
Die Verfassungsbeschwerde wird zurückgewiesen. ![]() | |
I.
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Bei der Verfassungsbeschwerde geht es um die Frage der Aushändigung der "St. Pauli-Nachrichten" und anderer Gegenstände an einen Strafgefangenen.
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1. Der 41jährige Beschwerdeführer verbüßt in der Justizvollzugsanstalt Werl eine lebenslange Freiheitsstrafe wegen Mordes. Mehrfach wurde er wegen Zuhälterei verurteilt. Seit 1961 lebte er vorwiegend in Prostituiertenkreisen. Ausweislich der Strafakten ist es bisher nicht gelungen, ihn zu resozialisieren.
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2. Mit seinem Antrag auf gerichtliche Entscheidung wandte sich der Beschwerdeführer gegen die Weigerung des Anstaltsleiters und des Präsidenten des Justizvollzugsamtes, ihm den Bezug der St. Pauli-Nachrichten zu genehmigen und ihm 50 neutrale weiße Postkarten, Probeexemplare von Zeitungen oder Zeitschriften, Rechnungsbelege und Korrespondenzunterlagen aus seiner Habe auszuhändigen. Dieser Antrag wurde durch Beschluß des Oberlandesgerichts Hamm vom 8. Oktober 1973 verworfen:
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a) Die Aushändigung der St. Pauli-Nachrichten sei dem Beschwerdeführer mit Recht verweigert worden. Gemäß der Rundverfügung des Justizministers vom 30. Dezember 1969 -- 4564 -- III C. l -- (im folgenden RV) könnten Strafgefangene die in der Bundesrepublik Deutschland einschließlich Westberlin erscheinenden Zeitungen und Zeitschriften beziehen, soweit diese im Zeitungshandel erhältlich seien und im Abonnement bestellt werden könnten. Vom Bezug seien jedoch Zeitschriften ausgeschlossen, deren Inhalt gegen das Strafgesetz verstoße oder die Erreichung des Vollzugszieles gefährde. Ferner könnten nach Nr. 4 Abs. 2 RV bei Gefährdung der Sicherheit und Ordnung der Vollzugsanstalt einzelne Nummern der Zeitungen und Zeitschriften vorenthalten werden. Der Inhalt eines großen Teils der in den St. Pauli-Nachrichten veröffentlichten Artikel, Bilder und Anzeigen sei in grober Weise unzüchtig. Eine solche Publikation in den Händen von Strafgefangenen gefährde die Sicherheit und ![]() ![]() | |
b) Bei der Entscheidung des Anstaltsleiters, dem Beschwerdeführer die ungenehmigt zugesandten Postkarten nicht auszuhändigen, handele es sich um eine Ermessensentscheidung. Denn nach Nummer 62 Absatz 1 Ziffer 6 der Dienst- und Vollzugsordnung in Verbindung mit Abschnitt III und Abschnitt I Nr. 1 der Rundverfügung des Justizministers vom 9. November 1970 -- 4510 -- IV A. 40 -- dürften Strafgefangene grundsätzlich nur zu Weihnachten und zum Geburtstag ein Paket empfangen, es sei denn, der Anstaltsleiter ließe aus wichtigem Grund eine Ausnahme zu. Eine solche Ermessensentscheidung könne der Senat nur dahin überprüfen, ob sie etwa rechtswidrig sei, weil die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten seien oder von dem Ermessen in einer dem Zwecke der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht sei. Die Entscheidung des Anstaltsleiters sei indes nicht zu beanstanden. Es seien keine Anhaltspunkte dafür ersichtlich, daß hier ein wichtiger Ausnahmegrund vorläge. Der Beschwerdeführer habe auch nicht dargetan, daß es sich etwa nur um vereinzelte Postkarten han ![]() ![]() | |
c) Soweit der Beschwerdeführer die Nichtaushändigung von Probeexemplaren von Zeitungen oder Zeitschriften, Rechnungsbelegen und Korrespondenzunterlagen beanstande, sei sein Vorbringen nicht ausreichend genug substantiiert und eröffne dem Oberlandesgericht daher auch nicht die Möglichkeit, die angegriffene Maßnahme des Anstaltsleiters zu überprüfen.
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d) Schließlich habe der Beschwerdeführer auch keinen Anspruch auf schriftliche Bekanntgabe der Entscheidungen des Anstaltsleiters.
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3. Einen weiteren Antrag des Beschwerdeführers auf gerichtliche Entscheidung wertete das Oberlandesgericht als "Gegenvorstellung" und wies diese durch Beschluß vom 25. Oktober 1973 zurück. Denn diese gebe dem Oberlandesgericht auch bei erneuter Prüfung keinen Anlaß, seine Entscheidung vom 8. Oktober 1973 zu ändern. Sie betreffe der Sache nach die gleichen Beschwerdepunkte ohne neues Vorbringen. Sie rechtfertige daher auch unter dem Gesichtspunkt des § 33a StPO keine Änderung der am 8. Oktober 1973 ergangenen Entscheidung.
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4. Mit seiner Verfassungsbeschwerde wendet sich der Beschwerdeführer gegen die beiden Beschlüsse des Oberlandesgerichts Hamm vom 8. und 25. Oktober 1973 und rügt Verletzung seiner Grundrechte aus Art. 1-3, 5, 14, 19, 103 und 104 GG.
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a) Durch die Nichtaushändigung der St. Pauli-Nachrichten werde der Wesensgehalt seiner Grundrechte aus Art. 1, 2 Abs. 1 und 5 Abs. 1 GG angetastet. Der Art. 5 Abs. 1 GG schütze keineswegs nur "wertvolle Meinungen". Im übrigen gehöre zum Bereich der in Art. 2 Abs. 1 GG als Grundrecht gewährleisteten freien Entfaltung der Persönlichkeit auch das Gebiet des Geschlechtlichen. Angesichts der Wertentscheidung des Art. 5 ![]() ![]() | |
b) Durch die Nichtaushändigung der 50 Postkarten, die als Mittel der Meinungsäußerung dienten, werde Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG verletzt. Soweit Einschränkungen bei der Benutzung von Postkarten aus anstaltsorganisatorischen oder Sicherheitsgründen notwendig werden könnten, müßten diese unerläßlich sein, um die Ordnung und Sicherheit der Anstalt aufrechtzuerhalten. Ein solcher Fall liege bei ihm aber nicht vor.
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c) Zum Komplex der Nichtaushändigung von Probeexemplaren von Zeitungen oder Zeitschriften, Rechnungsbelegen und Korrespondenzunterlagen trägt der Beschwerdeführer vor, es könne von ihm nicht erwartet werden, daß er -- "als Übermensch -- alle Daten und Belege, Korrespondenzen und Judikatur, einem Computer gleich, gespeichert habe und auswendig aufsagen" könne.
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d) Das Oberlandesgericht Hamm verkenne in seinem angefochtenen Beschluß auch den Grundsatz des rechtlichen Gehörs, wenn es behaupte, der Beschwerdeführer habe keinen Anspruch auf schriftliche Bekanntgabe der Entscheidungen des Anstaltsleiters. Dadurch werde er allein auf sein Gedächtnis verwiesen, während der Anstalt alle Unterlagen im vollen Wortlaut vorlägen. Weil ihm wesentliche Literatur- und Judikaturunterlagen durch die Justizvollzugsanstalt fortgenommen worden seien, sei er nicht in der Lage, umfangreiche und teils komplizierte Sachverhalte über Monate und Jahre zu behalten. Es sei daher ein verfassungsrechtlich zwingendes Gebot, daß Entscheidungen des Anstaltsleiters nicht nur begründet, sondern auch in schriftlicher Form ausgehändigt werden müßten.
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5. Der Ministerpräsident des Landes Nordrhein-Westfalen hat sich wie folgt geäußert:
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Die Postkarten seien dem Beschwerdeführer zu Recht nicht ausgehändigt worden. Denn nach Nr. 62 Absatz 1 Ziff. 12 der ![]() ![]() ![]() ![]() | |
Würde die Zusendung von Bedarfsgegenständen durch Personen außerhalb der Anstalt allgemein zugelassen, würde die hiernach gebotene Überprüfung der eingehenden Pakete einen Personalbestand erfordern, der in der Justizvollzugsanstalt nicht vorhanden und auf absehbare Zeit nicht zu erreichen sei. Wenn auch die Grundrechte nicht nur nach Maßgabe dessen beständen, was an Verwaltungseinrichtung üblicherweise vorhanden oder an Verwaltungsgebrauch "vorgegeben" sei und somit bestehende, aber verbesserungsbedürftige und einer Verbesserung zugängliche Gegebenheiten in einer Justizvollzugsanstalt nicht der Maßstab dafür sein könnten, was die Ordnung der Anstalt erfordere, so dürfe nicht unbeachtet bleiben, daß alle staatliche Tätigkeit vom Grundsatz der Verhältnismäßigkeit beherrscht werde. Eine unbegrenzte Freigabe des Paketverkehrs würde jedoch den durch die Paketkontrolle erforderlich werdenden Personalaufwand von der Willkür der Gefangenen abhängig machen und den Rahmen dessen überschreiten, was als zwar lästig, aber im Interesse der Gefangenen erforderlich hingenommen werden müßte. In jedem Anstaltsbetrieb seien der Erfüllung der Wünsche Grenzen gesetzt, die sich aus der Natur der Sache ergeben und vernünftigerweise respektiert werden müßten, damit allen gleiches Recht widerfahre. Die grundsätzliche Bindung des Erwerbs von Bedarfsgegenständen an die Verwendung des Hausgeldes solle schließlich gewährleisten, daß der Gefangene seiner Arbeitspflicht nach ![]() ![]() | |
Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig, aber nicht begründet.
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1. Die Grundrechte von Strafgefangenen können nur durch Gesetz oder aufgrund eines Gesetzes eingeschränkt werden. Ein solches Strafvollzugsgesetz liegt bislang noch nicht vor. Gleichwohl müssen Eingriffe in die Grundrechte von Strafgefangenen auch ohne gesetzliche Stütze für eine Übergangsfrist hingenommen werden, bis der Gesetzgeber Gelegenheit hat, entsprechend dem heutigen Grundrechtsverständnis ein rechtsstaatliches (vgl. BVerfGE 37, 57 [65]) und sozialstaatliches (vgl. BVerfGE 35, 202 [235]) Strafvollzugsgesetz mit hinreichend bestimmten Eingriffstatbeständen zu erlassen. Lediglich in einer Übergangszeit dürfen die zuständigen Behörden und Gerichte in zulässiger Weise dann in die Grundrechte der Strafgefangenen eingreifen, wenn dies unerläßlich ist, um den Strafvollzug aufrechtzuerhalten und geordnet durchzuführen. Als Endpunkt dieser Übergangsfrist hat das Bundesverfassungsgericht das Ende der 6. Legislaturperiode festgesetzt (BVerfGE 33, 1 [13]).
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Obgleich bisher ein Strafvollzugsgesetz nicht in Kraft getreten ist, hat das Oberlandesgericht Hamm in zulässiger Weise in Grundrechte des Beschwerdeführers eingegriffen. Da die 6. Legislaturperiode nicht wie erwartet im Herbst 1973, sondern bereits im Herbst 1972 endete, haben sich die tatsächlichen Voraussetzungen für die damalige Fristsetzung des Bundesverfassungsgerichts entscheidend geändert. Dem Gesetzgeber wäre aber ein schuldhaftes Zögern und sogar ein Verstoß gegen die Entscheidung des Gerichts vorzuwerfen, wenn er bis zur Verabschiedung des Gesetzes weitere 4 Jahre -- vom Herbst 1973 an gerechnet -- verstreichen ließe. Der Sonderausschuß für die Strafrechtsreform hat jedoch in seiner 61. Sitzung am 18. Juni 1975 den Entwurf eines Strafvollzugsgesetzes (Drucksache 7/918) ein ![]() ![]() | |
Finanzielle Erwägungen oder organisatorische Schwierigkeiten, die ein Strafvollzugsgesetz mit sich bringen mag, dürfen eine Verabschiedung nicht unangemessen verzögern. Vielmehr muß der Staat den Strafvollzug so ausstatten, wie es zur Realisierung des Vollzugsziels (BVerfGE 35, 202 [235]) erforderlich ist. Es ist seine Aufgabe, im Rahmen des Zumutbaren alle gesetzlichen Maßnahmen zu treffen, die geeignet und nötig sind, beim Gefangenen das Vollzugsziel zu erreichen. Er hat auch die Aufgabe, die erforderlichen Mittel für den Personal- und Sachbedarf bereitzustellen (vgl. BVerfGE 36, 264 [275]).
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2. Für die vorliegende Verfassungsbeschwerde ergibt sich daraus:
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a) Die Nichtaushändigung der St. Pauli-Nachrichten an den Beschwerdeführer ist eine unerläßliche Maßnahme, um den Strafvollzug aufrechtzuerhalten und geordnet durchzuführen. Unerläßlich sind solche Maßnahmen, ohne die der Strafvollzug als Institution zusammenbrechen würde oder durch die der Zweck des Strafvollzuges ernsthaft gefährdet würde (vgl. BVerfGE 33, 1 [13]). Unerläßlich ist insbesondere das Bemühen um die Wiedereingliederung des Gefangenen in die Gesellschaft. Ihm sollen Fähigkeit und Willen zur verantwortlichen Lebensführung vermittelt werden, er soll es lernen, sich unter den Bedingungen einer freien Gesellschaft ohne Rechtsbruch zu behaupten, ihre Chancen wahrzunehmen und ihre Risiken zu bestehen (BVerfGE 35, 202 [235 f.]). Ein so verstandener Strafvollzug kann nicht nur Ansprüche des Gefangenen begründen, sondern unter Um ![]() ![]() | |
b) Die Begründung des Oberlandesgerichts Hamm in dem angegriffenen Beschluß vom 8. Oktober 1973 bezüglich der 50 zugesandten Postkarten stellt zwar nicht ausdrücklich auf die "Unerläßlichkeit" im Sinne des Beschlusses vom 14. März 1972 (BVerfGE 33, 1 [13]) als Beurteilungsmaßstab ab. Im Ergebnis ist die Versagung verfassungsrechtlich jedoch nicht zu beanstanden, zumal der Beschwerdeführer einen besonders gelagerten andersartigen Einzelfall nicht vorgetragen hat (vgl. BVerfGE 34, 369 [379 ff.]).
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c) Soweit der Beschwerdeführer die Nichtaushändigung von Probeexemplaren von Zeitungen oder Zeitschriften, Rechnungsbelegen und Korrespondenzunterlagen beanstandet, hat das Oberlandesgericht sein Vorbringen in verfassungsrechtlich nicht zu beanstandender Weise als nicht ausreichend genug substan ![]() ![]() | |
d) Soweit der Beschwerdeführer rügt, die Entscheidungen des Anstaltsleiters seien ihm nicht schriftlich bekannt gemacht worden, läßt sich im Ergebnis ein Verfassungsverstoß nicht erkennen. Der Strafgefangene hat zwar einen Anspruch darauf, die Gründe für eine ihm ungünstige Entscheidung zu erfahren, damit er sich sachgemäß verteidigen kann (BVerfGE 6, 32, [44]). Aus diesem rechtsstaatlichen Grundsatz folgt jedoch nicht, daß die Begründung in jedem Fall von Verfassungs wegen schriftlich erteilt werden muß. Bei inhaltlich nicht umfangreichen Begründungen begegnet eine nur mündliche Eröffnung selbst dann keinen verfassungsrechtlichen Bedenken, wenn eine schriftliche Bekanntgabe an sich sinnvoll wäre. Der Betroffene kann sich in einem solchen Fall hinreichend gegen die ihm mündlich bekanntgegebene Entscheidung wehren. Der Beschwerdeführer hat nicht dargelegt, daß im vorliegenden Fall dem genauen Wortlaut der Verfügung entscheidende Bedeutung zukommt oder diese so umfangreich gewesen sei, daß deshalb eine schriftliche Bekanntgabe geboten gewesen wäre.
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3. Die Entscheidung des Oberlandesgerichts Hamm vom 25. Oktober 1973 läßt einen Verfassungsverstoß nicht erkennen.
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Diese Entscheidung ist mit 7 Stimmen gegen 1 Stimme ergangen.
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