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Informationen zum Dokument  BVerfGE 77, 240 - Herrnburger Bericht  Materielle Begründung
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Zitiert durch:
BVerfGE 119, 1 - Roman Esra
BVerfGE 83, 130 - Josefine Mutzenbacher
BVerfGE 81, 298 - Nationalhymne
BVerfGE 81, 278 - Bundesflagge

Zitiert selbst:
BVerfGE 67, 213 - Anachronistischer Zug
BVerfGE 36, 321 - Schallplatten
BVerfGE 30, 173 - Mephisto
BVerfGE 18, 85 - Spezifisches Verfassungsrecht

A.
I.
1. Die Beschwerdeführer waren Mitglieder eines Ensembles, da ...
2. Am 26. April 1982 klebte die Beschwerdeführerin zu 1.) mi ...
3. Das Amtsgericht sprach die Beschwerdeführer frei. Die ans ...
4. Mit ihrer Verfassungsbeschwerde rügen die Beschwerdef&uum ...
5. Das Bayerische Staatsministerium der Justiz hält die Verf ...
II.
1. Die Beschwerdeführerin gehörte ebenfalls zu dem Ense ...
2. Das Amtsgericht sprach die Beschwerdeführerin der Verwend ...
3. Mit ihrer Verfassungsbeschwerde rügt die Beschwerdefü ...
4. Der Justizminister des Landes Nordrhein-Westfalen hat von eine ...
B.
I.
II.
1. Die Plakataktion und die Mahnwache sind dem Schutzbereich der  ...
2. Dieser verfassungsrechtliche Ausgangspunkt wird nur in den von ...
III.
1. Die Werbung für ein Kunstwerk unter Verwendung von Kennze ...
2. Eine solche Abwägung hat das Landgericht München I s ...
3. Auch das Landgericht Essen hat in der von der Beschwerdefü ...
Bearbeitung, zuletzt am 16.03.2020, durch: A. Tschentscher, Djamila Strößner  
BVerfGE 77, 240 (240)1. Die Freiheitsgarantie des Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG schützt auch die Werbung für ein Kunstwerk.  
2. Eine Einschränkung der vorbehaltlos gewährleisteten Kunstfreiheit läßt sich nicht formelhaft mit dem "Schutz der Verfassung" oder mit der Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege rechtfertigen.  
 
Beschluß
 
des Ersten Senats vom 3. November 1987  
-- 1 BvR 1257/84 --  
in dem Verfahren über die Verfassungsbeschwerden I. 1. der Frau W..., 2. des Herrn L... - Bevollmächtigte: Rechtsanwältin Gabriele Heinecke, Kaiser-Wilhelm-Straße 53, Hamburg 36 - gegen a) den Beschluß des Bayerischen Obersten Landesgerichts vom 21. August 1984 - RReg. 3 St 74/84 a, b -, b) das Urteil des Landgerichts München I vom 6. Dezember 1983 - 13 Ns 115 Js 3948/82 - 1 BvR 1257/84 -; II. der Frau A... - Bevollmächtigte: Rechtsanwälte Heinrich Deubner und Dr. Christian Kirchberg, Schirmerstraße 8, Karlsruhe 1 - gegen a) den Beschluß des Oberlandesgerichts Hamm vom 22 Mai 1985 - 2 Ss 144/85 -, b) das Urteil des Landgerichts Essen vom 27. September 1984 - 21 (48/84); 29 Js 542/83 -, c) das Urteil des Amtsgerichts Essen vom 27. Februar 1984 - 39 Ls/29 Js 542/83; 39 (245/83) - 1 BvR 861/85 -.BVerfGE 77, 240 (240)  
BVerfGE 77, 240 (241)Entscheidungsformel:  
I. Das Urteil des Landgerichts München I vom 6. Dezember 1983 -- 13 Ns 115 Js 3948/82 --, soweit die Beschwerdeführer zu I.) unter Aufhebung der Entscheidung des Amtsgerichts München vom 9. August 1983 verurteilt wurden, und der Beschluß des Bayerischen Obersten Landesgerichts vom 21. August 1984 -- RReg. 3 St 74/84 a, b -- verletzen die Beschwerdeführer zu I.) in ihren Grundrechten aus Artikel 5 Absatz 3 Satz 1 des Grundgesetzes. Das Urteil des Landgerichts wird in dem beschriebenen Umfang und hinsichtlich der Kostenentscheidung, soweit diese zum Nachteil der Beschwerdeführer ergangen ist, der Beschluß des Bayerischen Obersten Landesgerichts wird insgesamt aufgehoben. Die Sache wird an das Landgericht zurückverwiesen.  
Der Freistaat Bayern hat den Beschwerdeführern zu I.) die notwendigen Auslagen zu erstatten.  
II. Das Urteil des Amtsgerichts Essen vom 27. Februar 1984 -- 39 Ls/29 Js 542/83; 39 (254/83) --, soweit die Beschwerdeführerin zu II.) der Verwendung von Kennzeichen einer verfassungswidrigen Organisation schuldig gesprochen und mit Strafvorbehalt verwarnt wurde, das Urteil des Landgerichts Essen vom 27. September 1984 -- 21 (48/84); 29 Js 542/83 --, soweit die Berufung der Beschwerdeführerin zu II.) verworfen wurde, und der Beschluß des Oberlandesgerichts Hamm vom 22. Mai 1985 -- 2 Ss 144/85 -- verletzen die Beschwerdeführerin zu II.) in ihrem Grundrecht aus Artikel 5 Absatz 3 Satz 1 des Grundgesetzes. Die Urteile des Amtsgerichts Essen und des Landgerichts Essen werden in dem beschriebenen Umfang und hinsichtlich der Kostenentscheidungen, der Beschluß des Oberlandesgerichts Hamm wird insgesamt aufgehoben. Die Sache wird an das Amtsgericht zurückverwiesen.  
Das Land Nordrhein-Westfalen hat der Beschwerdeführerin zu II.) die notwendigen Auslagen zu erstatten.  
 
Gründe:
 
 
A.
 
Die Beschwerdeführerinnen und der Beschwerdeführer wenden sich gegen strafgerichtliche Verurteilungen wegen des VerwendensBVerfGE 77, 240 (241) BVerfGE 77, 240 (242)von Kennzeichen einer verfassungswidrigen Organisation. Die den Verurteilungen zugrunde liegenden Vorschriften des Strafgesetzbuches in der hier maßgeblichen Fassung des Vierzehnten Strafrechtsänderungsgesetzes vom 22. April 1976 (BGBl. I S. 1056) lauteten:
1
    § 86 StGB
    Verbreitung von Propagandamitteln verfassungswidriger Organisationen
2
    (1) Wer Propagandamittel
    1. einer vom Bundesverfassungsgericht für verfassungswidrig erklärten Partei oder einer Partei oder Vereinigung, von der unanfechtbar festgestellt ist, daß sie Ersatzorganisation einer solchen Partei ist,
    2. einer Vereinigung, die unanfechtbar verboten ist, weil sie sich gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder gegen den Gedanken der Völkerverständigung richtet, oder von der unanfechtbar festgestellt ist, daß sie Ersatzorganisation einer solchen verbotenen Vereinigung ist,
    3. ...
    4. ... im räumlichen Geltungsbereich dieses Gesetzes verbreitet oder zur Verbreitung innerhalb dieses Bereichs herstellt, vorrätig hält oder in diesen Bereich einführt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.
3
    (2) ...
4
    (3) Absatz 1 gilt nicht, wenn das Propagandamittel oder die Handlung der staatsbürgerlichen Aufklärung, der Abwehr verfassungswidriger Bestrebungen, der Kunst oder der Wissenschaft, der Forschung oder der Lehre, der Berichterstattung über Vorgänge des Zeitgeschehens oder der Geschichte oder ähnlichen Zwecken dient.
5
    (4) Ist die Schuld gering, so kann das Gericht von einer Bestrafung nach dieser Vorschrift absehen.
6
    § 86a StGB
    Verwendung von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen
7
    (1) Wer im räumlichen Geltungsbereich dieses Gesetzes Kennzeichen einer der in § 86 Abs. 1 Nr. 1, 2 und 4 bezeichneten Parteien und Vereinigungen öffentlich, in einer Versammlung oder in von ihm verbreiteten Schriften (§ 11 Abs. 3) verwendet oder wer solche Kennzeichen in diesem Bereich verbreitet, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.
8
    (2) Kennzeichen im Sinne des Absatzes 1 sind namentlich Fahnen, Abzeichen, Uniformstücke, Parolen und Grußformen.
9
    (3) § 86 Abs. 3, 4 gilt entsprechend.BVerfGE 77, 240 (242)
10
BVerfGE 77, 240 (243)I.  
Das Verfahren 1 BvR 1257/84
11
1. Die Beschwerdeführer waren Mitglieder eines Ensembles, das sich die "Westdeutsche Erstaufführung des Herrnburger Bericht" zum Ziel gesetzt hatte. Sie sollte am 11. Mai 1982 in Essen stattfinden, wurde aber nach zwischenzeitlichem behördlichem Verbot erst ein Jahr später durchgeführt. Das von Bertolt Brecht verfaßte, von Paul Dessau vertonte und der FDJ gewidmete Stück handelt von 10 000 Jugendlichen, die im Mai 1950 zu einem Pfingsttreffen der FDJ nach Berlin (Ost) gefahren waren und bei ihrer Rückkehr an der Grenzübergangsstelle Herrnburg von bundesdeutscher Polizei zwei Tage lang festgehalten wurden, weil sie sich weigerten, ihre Personalien feststellen zu lassen; nachdem die Polizei nachgegeben hatte, zogen die Jugendlichen singend und Fahnen schwenkend durch Lübeck und pflanzten eine FDJ-Fahne auf dem Dach des Bahnhofsgebäudes auf. Die Aufführung des Stücks in Essen sollte dem Gedenken an das FDJ-Mitglied Philipp Müller dienen, der vor 30 Jahren in dieser Stadt bei einer Auseinandersetzung mit der Polizei erschossen worden war.
12
2. Am 26. April 1982 klebte die Beschwerdeführerin zu 1.) mit dem später mitangeklagten Franz K. in München Plakate, die auf die geplante Aufführung des "Herrnburger Bericht" hinwiesen. Die Initiative zu dieser Klebeaktion ging vom Beschwerdeführer zu 2.) aus, den das Impressum der Plakate als presserechtlich Verantwortlichen auswies. Die 162 cm langen und etwa 60 cm breiten Poster zeigen einen lachenden jungen Mann in Jeans und blauem Hemd, auf dessen linkem Ärmel deutlich sichtbar ein FDJ-Emblem angebracht ist. Die untere Hälfte der Darstellung trägt die Aufschrift:
13
    Westdeutsche Erstaufführung
    Bertolt Brecht: "Herrnburger Bericht"
    Musik: Paul Dessau
    Es lädt ein: Kämpfende Jugend Essen
    11. MaiBVerfGE 77, 240 (243)
14
BVerfGE 77, 240 (244)Die FDJ ist durch Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 16. Juli 1954 (BVerwGE 1, 184) nach Art. 9 Abs. 2 GG verboten worden, weil sich ihre Zielrichtung gegen die verfassungsmäßige Ordnung richtet.
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3. Das Amtsgericht sprach die Beschwerdeführer frei. Die ansonsten verbotene Verwendung der Kennzeichen habe der Kunst gedient; denn die Plakate seien eine zulässige und nicht unangemessene Werbung für ein Kunstwerk.
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Auf die Berufung der Staatsanwaltschaft hin hob das Landgericht diese Entscheidung auf. Es verurteilte die Beschwerdeführer und den mitangeklagten Franz K. wegen eines in Mittäterschaft begangenen Vergehens der Verwendung von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen, sah allerdings von ihrer Bestrafung ab. Zur Begründung führte es im wesentlichen aus: Der "Herrnburger Bericht" und das Plakat seien als Kunstwerke zu beurteilen. Aus strafrechtlicher Sicht müsse die Kunstausübung jedoch dort ihre Grenze finden, wo sie den Schutzzweck der einschlägigen Vorschriften vereitele und die Straflosigkeit den Verzicht auf den Schutz des eigenen Wertsystems darstellen würde. Schutzzweck des § 86 a StGB sei neben der Abwehr der Wiederbelebung verbotener Organisationen oder ihrer verfassungsfeindlichen Ziele auch die Wahrung des politischen Friedens. Ein Kunstwerk, das diesem Schutzzweck zuwiderlaufe, könne nicht sozialadäquat im Sinne des § 86 Abs. 3 StGB verwendet werden; denn der Begriff der Sozialadäquanz umfasse gerade Verhaltensweisen, die vom Gesetzeszweck her hinnehmbar seien und geduldet werden könnten. Ein solches Kunstwerk sei auch nicht durch Art. 5 Abs. 3 GG gedeckt, weil auch dieses Grundrecht unter dem alle Grundrechte überragenden Vorbehalt des Schutzes der Verfassung selbst stehe. Ein Grundrecht auf Aushöhlung oder Bekämpfung des Grundgesetzes selbst könne es dem Begriffe nach nicht geben. Die Verwendung eines Kennzeichens einer unanfechtbar verbotenen Vereinigung laufe nur dann dem Schutzzweck des § 86 a StGB nicht zuwider, wenn sie in einem "nachdrücklich ablehnenden Sinn" erfolge. Sie sei jedoch dann rechtswidrig, wenn von ihr, sei es auch im Wege derBVerfGE 77, 240 (244) BVerfGE 77, 240 (245)Kunst, ein Werbeeffekt ausgehe. So verhalte es sich hier. Das Plakat erschöpfe sich nicht in einem nüchternen Hinweis auf eine Veranstaltung. Die verwendeten künstlerischen Gestaltungsmittel sollten ersichtlich den Eindruck suggerieren, die FDJ sei eine ernst zu nehmende politische Kraft in der Bundesrepublik Deutschland. Wer so vorgehe, bezwecke nicht nur den Hinweis auf eine Veranstaltung -- selbst wenn dieser gerade im Hinblick auf das aufzuführende Stück adäquat sei --, sondern auch -- und nicht zuletzt -- die Manifestation eines politischen Emblems und der hinter ihm stehenden Ziele im Bewußtsein der Öffentlichkeit. Dies gelte um so mehr, als bei den Adressaten des Plakats in München kein sonderlicher Anreiz zum Besuch einer Theatervorstellung in Essen habe erweckt werden können. Da die FDJ den Sieg des Sozialismus und damit die grundlegende Veränderung der politischen Verhältnisse in der Bundesrepublik Deutschland anstrebe, soweit sie ein pluralistisch bestimmter demokratischer Rechtsstaat sei, stehe im Hinblick auf schutzwürdige Verfassungsinteressen höherrangiger Art auch das Grundrecht der Kunstfreiheit einer Strafverfolgung der Beschwerdeführer nicht entgegen.
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Der Umstand, daß das Plakat für ein Kunstwerk in adäquater Weise geworben habe, spreche nicht gegen die Annahme der Rechtswidrigkeit; sei das Plakat selbst nicht sozialadäquat gestaltet, könne ihm auch wegen seines werbenden Charakters eine solche Qualifikation nicht zukommen. Es müsse gegenüber dem Stück rechtlich selbständig beurteilt werden.
18
Die dagegen eingelegte Revision der Beschwerdeführer verwarf das Bayerische Oberste Landesgericht. Es gestand ihnen zwar zu, daß die Kunstfreiheitsgarantie auch die grundsätzliche Möglichkeit einer angemessenen Werbung für Kunstwerke und ihrer Verbreitung umfasse. Im vorliegenden Fall habe die Plakataktion aber -- wie das Landgericht ohne Rechtsfehler festgestellt habe -- nicht allein dem Hinweis auf eine Kunstveranstaltung, sondern vor allem der zweckgerichteten "Manifestation eines politischen Emblems und der hinter ihm stehenden Inhalte im Bewußtsein der Öffentlichkeit" gedient. Die darauf beruhende Folgerung, die öffentliche Verwendung der verbotenen FDJ-Embleme auf den Plakaten falleBVerfGE 77, 240 (245) BVerfGE 77, 240 (246)nicht mehr unter die Kunstfreiheitsgarantie des Art. 5 Abs. 3 GG, sei aus Rechtsgründen nicht zu beanstanden.
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4. Mit ihrer Verfassungsbeschwerde rügen die Beschwerdeführer eine Verletzung ihrer Grundrechte aus Art. 5 Abs. 3 Satz 1, Art. 3 Abs. 1 und 3, Art. 2 Abs. 1 und Art. 1 GG.
20
Die angegriffenen Entscheidungen verkennten den Anwendungsbereich des § 86 a StGB im Verhältnis zu Art. 5 Abs. 3 GG. Einfaches Bundesrecht vermöge nicht das grundsätzlich schrankenlos gewährleistete Grundrecht der Kunstfreiheit zu brechen. Ein sich in diesem Rahmen stellender Konflikt müsse ausschließlich durch Verfassungsauslegung gelöst werden. Die Grenzen zulässiger künstlerischer Betätigung dürften bei der Anwendung des § 86 Abs. 3 StGB nicht enger gezogen werden als in Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG.
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5. Das Bayerische Staatsministerium der Justiz hält die Verfassungsbeschwerde für unzulässig, soweit eine Verletzung der Grundrechte aus Art. 3 Abs. 1 und 3, Art. 2 Abs. 1 und Art. 1 GG gerügt werde; dazu fehle es an substantiiertem Vorbringen. Im übrigen sei die Verfassungsbeschwerde unbegründet. Eine Kunstausübung, die sich gegen die in Art. 20 GG gewährleistete freiheitlich-demokratische Grundordnung der Bundesrepublik Deutschland richte, könne nicht uneingeschränkt als von Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG geschützt angesehen werden. Entscheidend sei, ob die Beeinträchtigung so schwer wiege, daß sie trotz der hohen Bedeutung der Kunstfreiheit nicht mehr durch diese gerechtfertigt sei. Welchem Verfassungswert im konkreten Fall der Vorrang zukomme, sei unter Abwägung aller Umstände des Einzelfalles zu entscheiden. Eine Grundrechtsverletzung liege nur dann vor, wenn das Gericht verkenne, daß eine Abwägung widerstreitender Verfassungsprinzipien erforderlich sei, oder wenn seine Entscheidung auf einer grundsätzlich unrichtigen Anschauung von der Bedeutung des einen oder anderen Grundwerts beruhe. Von beidem könne hier nicht ausgegangen werden. Die Würdigung, das umstrittene Plakat habe nicht allein dem Hinweis auf die Theateraufführung, sondern vor allem der zweckgerichteten Manifestation eines politischen Emblems und der hinter ihm stehenden Inhalte im Bewußtsein der ÖffentlichkeitBVerfGE 77, 240 (246) BVerfGE 77, 240 (247)gedient, sei verfassungsrechtlich nicht angreifbar. Der Zweck der Werbung für die Theateraufführung habe es nicht erfordert, das Kennzeichen einer verfassungswidrigen Organisation in der Weise in den Vordergrund zu rücken, wie es geschehen sei. Bei der gebotenen Abwägung müsse daher die Freiheit der Kunstausübung zurücktreten. Andernfalls könne der durch § 86a StGB bezweckte Schutz vor verfassungsfeindlichen Bestrebungen leicht dadurch ausgehöhlt werden, daß entsprechende Kennzeichen unter Mißbrauch einer künstlerischen Gestaltungsform in werbender Form dargestellt würden. Der Künstler sei bei der Art und Weise der Verbreitung seines Kunstwerks weitergehenden Einschränkungen unterworfen als bei dem künstlerischen Schöpfungsprozeß und der Verbreitung des Werks "in ihrem Ob". Er sei insoweit nicht nur durch verfassungsrechtlich geschützte Rechtsgüter eingeschränkt, sondern an die allgemeine Rechtsordnung, also auch an die Staatsschutzvorschriften des Strafgesetzbuchs, gebunden. Eine Massenverbreitung von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen laufe dem Schutzzweck des § 86a StGB zuwider und sei deshalb weder durch die Sozialadäquanzklausel des § 86 Abs. 3 StGB noch durch Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG gedeckt.
22
II.  
Das Verfahren 1 BvR 861/85
23
1. Die Beschwerdeführerin gehörte ebenfalls zu dem Ensemble, das sich die Aufführung des "Herrnburger Bericht" zum Ziel gesetzt hatte. Am 11. Mai 1983, dem Tage der Aufführung, veranstalteten die Mitglieder des Ensembles auf der Rüttenscheider Straße in Essen eine Mahnwache zu Ehren des bereits erwähnten, im Jahre 1952 erschossenen FDJ-Mitglieds Müller. Dabei trug die Beschwerdeführerin wie die anderen Gruppenmitglieder ein FDJ-Hemd. Ein mitgeführtes Plakat wies auf den Anlaß der Mahnwache und die geplante Aufführung des Brecht-Stückes hin. Der zuständige Polizeipräsident hatte für die Durchführung der Mahnwache und einen im Anschluß daran geplanten öffentlichen Aufzug zum Ort der Aufführung die Auflage erteilt, daß FDJ-Hemden lediglich für dieBVerfGE 77, 240 (247) BVerfGE 77, 240 (248)Aufführung des Stücks und nur von Ensemblemitgliedern getragen werden dürften; für die Mahnwache und den Aufzug sei dies verboten.
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2. Das Amtsgericht sprach die Beschwerdeführerin der Verwendung von Kennzeichen einer verfassungswidrigen Organisation in Tateinheit mit einem Verstoß gegen § 3 des Versammlungsgesetzes schuldig, verwarnte sie und verurteilte sie unter Vorbehalt zu einer Geldstrafe. Es führte aus: Obwohl die Beschwerdeführerin mit dem Tragen ihrer Uniform bei der Mahnwache lediglich für die Aufführung des "Herrnburger Bericht" habe werben wollen, greife der Kunstvorbehalt des § 86 a Abs. 3 in Verbindung mit § 86 Abs. 3 StGB nicht zu ihren Gunsten ein. Dieses Privileg des Art. 5 Abs. 3 GG gelte nur dann, wenn die Werbung als solche Kunst darstelle. Zwar sei die darstellende Kunst begriffsnotwendig auf das Publikum angewiesen, daher müsse für sie geworben werden. Wie das zu geschehen habe, sei jedoch eine Bewertungsfrage. Für das Gericht sei nicht ersichtlich, warum für das Stück nicht auch ohne die blauen Hemden mit FDJ-Symbolen hätte geworben werden können.
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Die von der Beschwerdeführerin dagegen eingelegte Berufung verwarf das Landgericht mit der Maßgabe, daß die tateinheitliche Verurteilung wegen des Verstoßes gegen das Versammlungsgesetz wegfiel.
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Es begründete seine Entscheidung im wesentlichen wie folgt: Eine Kennzeichenverwendung sei nur dann nicht tatbestandsmäßig im Sinne des § 86 a StGB, wenn sie dem Schutzzweck dieser Vorschrift ersichtlich nicht zuwiderlaufe. Dieser bestehe nicht nur in der Abwehr einer Wiederbelebung von verbotenen Organisationen oder der von ihnen verfolgten verfassungsfeindlichen Bestrebungen, sondern auch in der Wahrung des politischen Friedens, indem jeder Anschein einer solchen Wiederbelebung vermieden werde. Daneben wolle § 86 a StGB verhindern, daß sich die Verwendung solcher Kennzeichen wieder derart einbürgere, daß sie schließlich auch von den Verfechtern der politischen Ziele, für die das jeweilige Kennzeichen stehe, gefahrlos gebraucht werden könnten. Diesen Schutzzweck der Norm habe die Beschwerdeführerin verletzt. Durch ihr Auftreten habe der Eindruck entstehen können, die FDJBVerfGE 77, 240 (248) BVerfGE 77, 240 (249)sei nunmehr wieder erlaubt und geduldet und ihr Emblem dürfe im öffentlichen Leben verwendet werden. Sie könne sich für ihr Handeln nicht auf § 86 a Abs. 3 StGB in Verbindung mit § 86 Abs. 3 StGB oder die Freiheit der Kunst berufen. Zwar bestehe kein Zweifel, daß der "Herrnburger Bericht" selbst als Kunst zu bewerten sei; auch neige die Kammer zu der Auffassung, daß die Verwendung des Hemdes im Rahmen einer Aufführung dieser Kantate als sozialadäquat anzusehen sei. Die Beschwerdeführerin habe das Kleidungsstück jedoch nicht nur bei der späteren Aufführung, sondern auch bei der Mahnwache zum Gedenken an Philipp Müller und dem späteren Aufzug zum Zwecke der Werbung für die Aufführung der Kantate getragen. Insoweit werde ihr der Schutz des Art. 5 Abs. 3 GG nicht zuteil. Diese Tätigkeit habe keine schöpferisch-eigenständige, sondern lediglich eine technisch-instrumentale Bedeutung gehabt; wenn überhaupt, so habe im Vordergrund nicht der künstlerische Ausdruck, sondern allenfalls ein werblich-visueller Anreiz gestanden. Die unter dem Begriff "Wirkbereich" zusammengefaßte Tätigkeit der Darbietung und Verbreitung des Kunstwerks, die mit dem sogenannten "Werkbereich" des Kunstwerks eine unlösbare Einheit bilde, sei jedoch abgestellt auf das Handeln von Personen, die eine unentbehrliche Mittlerfunktion zwischen Künstler und Publikum ausübten. Sie besage nichts über die Art und Weise, in der für ein Kunstwerk geworben werden dürfe. Um auf die Aufführung hinzuweisen und die Öffentlichkeit dafür zu interessieren, sei es weder erforderlich noch angemessen gewesen, dabei dieses Hemd zu tragen. Kunst könne auch selbst als Mittel der Werbung eingesetzt werden. Die Mahnwache und der sich hieran anschließende Aufmarsch seien jedoch keine derartige, gleichfalls der Kunstfreiheitsgarantie des Art. 5 Abs. 3 GG unterfallende künstlerische Werbung.
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Die Revision der Beschwerdeführerin verwarf das Oberlandesgericht als unbegründet.
28
3. Mit ihrer Verfassungsbeschwerde rügt die Beschwerdeführerin eine Verletzung ihres Grundrechts aus Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG. Die Mahnwache habe als werbende Aktion fraglos in einer "sachbezogenen Annexfunktion" zu der Aufführung des Chorwerkes geBVerfGE 77, 240 (249)BVerfGE 77, 240 (250)standen. Damit falle auch sie unter den Schutzbereich des Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG. Wollte man den Kunstvorbehalt des § 86 Abs. 3 StGB nur auf den Werkbereich der Kunst erstrecken und ihrem Wirkbereich im Rahmen dieser Vorschrift nur einen relativen Schutz gegenüber anderen Rechtsgütern einräumen, müßten die angegriffenen Entscheidungen gleichwohl aufgehoben werden, weil es die Gerichte versäumt hätten, die Strafvorschrift des § 86 a StGB im Lichte der vorbehaltlos gewährten Kunstfreiheitsgarantie auszulegen.
29
4. Der Justizminister des Landes Nordrhein-Westfalen hat von einer Stellungnahme abgesehen.
30
 
B.
 
Soweit die Beschwerdeführer zu I.) eine Verletzung ihrer Grundrechte aus Art. 3 Abs. 1 und 3, Art. 2 Abs. 1 und Art. 1 GG rügen, genügt die Verfassungsbeschwerde nicht den formellen Anforderungen des § 23 Abs. 1 und § 92 BVerfGG. Der Beschwerdeschrift läßt sich nämlich nicht entnehmen, aus welchen Umständen sich ein Verstoß gegen diese Verfassungsnormen ergeben soll.
31
32
I.  
Da sich die Beschwerdeführer gegen strafrechtliche Sanktionen von Handlungen wenden, für die sie sich auf die Freiheit der Kunst berufen, kann das Bundesverfassungsgericht seine Überprüfung nicht auf die Frage beschränken, ob die angegriffenen Entscheidungen auf einer grundsätzlich unrichtigen Auffassung von Bedeutung und Tragweite des in Anspruch genommenen Grundrechts beruhen (vgl. BVerfGE 18, 85 [93]). Wegen der Intensität, mit der eine solche Sanktion in die Sphäre des Verurteilten eingreift, ist eine strengere verfassungsgerichtliche Kontrolle erforderlich. Diese erstreckt sich auch darauf, ob die Auslegung des einfachen Rechts in ihren Einzelheiten grundBVerfGE 77, 240 (250)BVerfGE 77, 240 (251)rechtskonform ist (BVerfGE 67, 213 [223] m.w.N.; zuletzt Beschluß vom 3. Juni 1987 -- 1 BvR 313/85 --, NJW 1987, S. 2661).
33
Zu klären ist daher, ob die inkriminierten Handlungen der Beschwerdeführer in den Schutzbereich des Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG fallen, die fachgerichtlichen Entscheidungen diesen Schutzbereich zutreffend abgesteckt und die der Kunstfreiheit gesetzten Schranken im einzelnen richtig gezogen haben.
34
II.  
1. Die Plakataktion und die Mahnwache sind dem Schutzbereich der Kunstfreiheit zuzuordnen.
35
Beide Handlungen dienten nach den tatrichterlichen Feststellungen zumindest auch der Werbung für die Aufführung des Chorwerks "Herrnburger Bericht", bei dem es sich fraglos um Kunst im Sinne des Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG handelt. Das Bundesverfassungsgericht hat sich bislang nicht ausdrücklich zu der Frage geäußert, ob auch die Werbung für ein Kunstwerk den Schutz dieses Grundrechts genießt. Deutlich herausgestellt hat es jedoch in seiner bisherigen Rechtsprechung, daß die Kunstfreiheit nicht nur die eigentliche künstlerische Betätigung, den "Werkbereich" des künstlerischen Schaffens, schützt. Sie umfaßt auch den "Wirkbereich", in dem der Öffentlichkeit Zugang zu dem Kunstwerk verschafft wird, also seine Darbietung und Verbreitung (vgl. BVerfGE 30, 173 [189]; 36, 321 [331]; 67, 213 [224]). Zu diesem Wirkbereich zählen auch die Medien, die durch Vervielfältigung, Verbreitung und Veröffentlichung eine unentbehrliche Mittlerfunktion zwischen Künstler und Publikum ausüben (BVerfGE 36, a.a.O.). Die Werbung für ein Kunstwerk ist zwar kein Medium, welches das Kunstwerk selber oder seinen Inhalt transportiert. Sie bildet aber ein Kommunikationsmittel, das ebenfalls zum Wirkbereich künstlerischen Schaffens gehört; denn die Kunst ist wie die Schutzgüter der anderen "Kommunikationsgrundrechte" öffentlichkeitsbezogen und daher auf öffentliche Wahrnehmung angewiesen. Aus diesem Grund fällt auch die Werbung für ein Kunstwerk unter den Schutz dieses Grundrechts.BVerfGE 77, 240 (251)
36
BVerfGE 77, 240 (252)2. Dieser verfassungsrechtliche Ausgangspunkt wird nur in den von der Beschwerdeführerin zu II.) angegriffenen Entscheidungen hinreichend beachtet.
37
a) Während das Amtsgericht Essen dem Werben für ein Kunstwerk nur dann den Schutz des Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG zubilligen wollte, wenn die Werbung selbst künstlerischer Natur sei, bringt die Berufungsinstanz zum Ausdruck, es könne nur durch Werbung sichergestellt werden, daß die Kunst einem größeren Publikum zugeführt werde. Das Landgericht bezieht sich hier auf die Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts in der "Mephisto"- Entscheidung (BVerfGE 30, a.a.O.). Zwar legt es dann dar, daß sich das konkrete Verhalten der Beschwerdeführerin nicht mehr dem "Wirkbereich" der Kunstfreiheit zuordnen lasse. Der Zusammenhang seiner Formulierungen läßt jedoch erkennen, daß es Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG wegen der Art und Weise der umstrittenen Werbung, also erst im Bereich der Schrankenziehung ausscheidet.
38
b) Demgegenüber hat das Landgericht München I dem Plakat selbst die Qualität eines Kunstwerks zugebilligt, jedoch die Plakataktion, die Gegenstand der dortigen Strafverfolgung war, weder ausdrücklich noch inzident dem Schutzbereich der Kunstfreiheit zugeordnet. Es untersucht lediglich, ob sich die Werbung für den "Herrnburger Bericht" in dieser Form als sozialadäquate Handlung im Sinne des § 86 a Abs. 3 StGB qualifizieren lasse. Daß das Werben für ein Kunstwerk unabhängig von der Gestaltung des Werbemittels eine Wahrnehmung der Kunstfreiheit sein kann, hat es jedoch nicht berücksichtigt. Es stellt ausdrücklich klar, das Plakat sei für sich betrachtet nicht sozialadäquat gestaltet und könne nicht deswegen anders bewertet werden, weil es für ein Kunstwerk geworben habe. Dieser Standpunkt wird mit der Aussage bekräftigt, das Plakat müsse rechtlich selbständig beurteilt werden; der Umstand, daß in dem "Herrnburger Bericht" unbeanstandet FDJ-Embleme verwendet worden seien, sei ohne rechtliche Bedeutung für die Beurteilung der Verwendung dieses Emblems auf dem umstrittenen Plakat. Damit schließt es jegliche Rückwirkungen des zu vermittelnden Kunstwerks auf die GestalBVerfGE 77, 240 (252)BVerfGE 77, 240 (253)tung der Werbeaussage aus. Darin liegt eine Verkennung des Schutzbereichs des Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG.
39
Der Umstand, daß das Bayerische Oberste Landesgericht in seiner Revisionsentscheidung die Werbung für ein Kunstwerk zutreffend dem Schutzbereich des Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG zuordnet, beseitigt im Ergebnis den Verfassungsverstoß nicht; denn die rechtliche Bewertung der Tathandlung durch die Revisionsinstanz geht -- wie noch darzulegen sein wird -- von unzutreffenden tatsächlichen Voraussetzungen aus.
40
III.  
1. Die Werbung für ein Kunstwerk unter Verwendung von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen wirft besondere Probleme im Hinblick auf die Schranken der Kunstfreiheit auf. Dieses Grundrecht ist vorbehaltlos gewährleistet; daß es dennoch nicht schrankenlos sein kann, ist die logische Folge eines geordneten menschlichen Zusammenlebens. Seine Schranken findet es jedoch nur in anderen Verfassungsbestimmungen. Diese müssen allerdings ihrerseits wieder im Lichte des Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG ausgelegt werden, damit ein den Wertvorstellungen des Grundgesetzes entsprechender Ausgleich der widerstreitenden, verfassungsrechtlich geschützten Interessen gefunden werden kann (vgl. grundlegend BVerfGE 30, 173 [191 ff.]). Erforderlich ist daher grundsätzlich eine die Umstände des Einzelfalles berücksichtigende Abwägung, die auch bei der Anwendung der Straftatbestände der §§ 86 und 86 a StGB unabdingbar ist.
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Etwas anderes ergibt sich auch nicht daraus, daß bei der Werbung "nur" der Wirkbereich der Kunstfreiheit betroffen ist. Da die Kunstfreiheit um des künstlerischen Schaffens willen gewährleistet wird, demgegenüber die Vermittlung des Kunstwerks dienende Funktion hat, entspricht es allerdings den Wertvorstellungen des Verfassungsgebers, den Werkbereich, die eigentliche Kunstschöpfung, grundsätzlich für weniger einschränkbar zu halten als die ebenfalls notwendige Kommunikation zwischen dem Künstler und der Außenwelt. Die eigentliche Kunstschöpfung ist zudem von derBVerfGE 77, 240 (253) BVerfGE 77, 240 (254)Natur der Sache her regelmäßig weniger geeignet, die Rechte Dritter oder andere bedeutende Rechtsgüter zu beeinträchtigen als die Vermittlung des Kunstwerks, die zwangsläufig Außenwirkung beansprucht. Daraus läßt sich allerdings nicht eine nach Werk- und Wirkbereich trennende Stufentheorie für die Einschränkung der Kunstfreiheit in dem Sinne entwickeln, daß für den Werkbereich ausschließlich die verfassungsrechtlich geschützten Rechtsgüter als Schranken heranzuziehen sind, für den Wirkbereich dagegen die allgemeine Rechtsordnung maßgeblich ist, die nicht auf grundgesetzlich geschützte Rechtsgüter zurückgeführt werden muß, sondern sich mit der Privilegienfeindlichkeit der demokratischen Rechtsordnung begründen läßt (vgl. dazu Starck in: v. Mangoldt/ Klein, 3. Aufl., Rdnr. 207 f. zu Art. 5 Abs. 3 GG). Gegen eine solche Abstufung spricht nicht nur, daß, wie das Beispiel des Anachronistischen Zuges zeigt (BVerfGE 67, 213 ff.), bei bestimmten Kunstäußerungen Werk- und Wirkbereich zusammenfallen, die Übergänge zwischen beiden Bereichen vielfach fließend sind, dem Wirkbereich eine je nach Art der Kunstgattung höchst unterschiedliche Bedeutung zukommt und die kunstvermittelnden Handlungen selbst mehr oder weniger Bezug zum Kunstwerk haben können. Eine so abgestufte Schrankenlösung scheitert auch daran, daß die Kunstfreiheit vorbehaltlos gewährleistet ist und daß dies auch für den Wirkbereich gilt, wenn dieser -- wie dargelegt -- von der Freiheitsgarantie erfaßt wird. Aus dieser Erkenntnis heraus hat das Bundesverfassungsgericht bereits in der "Mephisto"-Entscheidung klargestellt, daß die Kunstfreiheitsgarantie in gleicher Weise den Werkbereich und den Wirkbereich betrifft und beide Bereiche eine unlösbare Einheit bilden (vgl. BVerfGE 30, 173 [189]).
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Daraus folgt indessen nicht, daß alle Handlungen, die Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG abdeckt, desselben Schutzes bedürfen. Sie können durchaus unterschiedliche "Außenwirkung" haben; deshalb sind staatliche Eingriffe um so weniger zuzulassen, je näher die umstrittene Handlung dem Kern der Kunstfreiheit zuzuordnen ist und je mehr sie sich im Bereich des Schaffens abspielt. Daraus ergibt sich jedoch nur eine tatsächliche Vermutung dafür, daß die Kunstfreiheit im Werkbereich eher Vorrang genießt als im Wirkbereich.BVerfGE 77, 240 (254) BVerfGE 77, 240 (255)Erforderlich bleibt es immer, im Einzelfall festzustellen, ob die jeweilige konkrete Tätigkeit unter Beachtung der vom Bundesverfassungsgericht entwickelten Grundsätze in der geschehenen Weise eingeschränkt werden darf. Der Prüfungsmaßstab bleibt also in jedem Fall derselbe, gleichgültig ob die Handlung in den Werk- oder Wirkbereich fällt. Die tatsächlichen Umstände, der Grad der Außenwirkung und die Stärke des Kunstbezuges, beeinflussen lediglich die Gewichtung der verfassungsrechtlich geschützten Belange und damit das Abwägungsergebnis.
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Eine Regel, daß der Schutzzweck des § 86a StGB bei Handlungen, die den Wirkbereich der Kunstfreiheit betreffen, immer Vorrang habe, läßt sich daher nicht aufstellen. Auch hier ist eine Abwägung der widerstreitenden Verfassungswerte unentbehrlich.
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Dabei reicht es nicht aus, die Einschränkung des vorbehaltlos gewährleisteten Grundrechts formelhaft mit dem "Schutz der Verfassung" oder mit der Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege zu rechtfertigen. Eine solche pauschale Betrachtung würde dem hohen Rang dieser Grundfreiheit sowie dem Umstand nicht gerecht, daß das Grundgesetz auf verfassungsrechtlicher Ebene nur ganz bestimmte Vorkehrungen zu ihrem Schutz vorsieht. Es ist daher geboten, anhand einzelner Grundgesetzbestimmungen die konkret verfassungsrechtlich geschützten Rechtsgüter festzustellen, die bei realistischer Einschätzung der Tatumstände der Wahrnehmung des Rechts aus Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG widerstreiten, und diese in Konkordanz zu diesem Grundrecht zu bringen. In Betracht kommen hier die Regelungen über das Verbot von Vereinigungen nach Art. 9 Abs. 2 GG, über das Verbot von Parteien nach Art. 21 Abs. 2 GG und über die Grundrechtsverwirkung nach Art. 18 GG sowie die mit diesen Vorschriften verfolgte Zielsetzung, aber auch die Grundrechte Dritter, die durch die ungehinderte Zulassung der jeweils in Frage stehenden Handlungen und ihre Folgen gefährdet werden könnten (vgl. dazu zuletzt BVerfG, NJW 1987, S. 2661).
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2. Eine solche Abwägung hat das Landgericht München I schon deshalb nicht vorgenommen, weil es die Werbung für das Theaterstück von vornherein nicht der Kunstfreiheit zugeordnet hat. DieBVerfGE 77, 240 (255)BVerfGE 77, 240 (256)ser Mangel ist auch nicht deswegen unschädlich, weil es dem Plakat selbst Kunstqualität zuerkannt hat. Das ändert nichts daran, daß das hier maßgebliche Kunstwerk, die Aufführung des "Herrnburger Bericht", dessen Propagierung die Plakataktion diente, keinen Eingang in die Bewertung der gegenläufigen Belange gefunden hat. Unabhängig davon hat sich das Landgericht die verfassungsrechtlich gebotene Abwägung auch dadurch versperrt, daß es unter Berufung auf die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (BGHSt 25, 133 ff.; 28, 394 ff.) die Kennzeichenverwendung schon deswegen nicht mehr als durch Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG gedeckt ansieht, weil sie dem Schutzzweck des § 86 a StGB zuwiderlaufe. Damit erklärt es den Schutzzweck dieser Strafnorm zur unüberwindlichen Schranke der Kunstfreiheit. Das ist schon deswegen nicht hinnehmbar, weil Strafbestimmungen als einfaches Recht nicht Grundrechte außer Kraft setzen können. Haltbar wäre dieser Standpunkt allenfalls dann, wenn das Gericht bereits bei der Beurteilung der Frage, ob die umstrittene Handlung mit diesem Schutzzweck vereinbar ist, die Kunstfreiheit und ihre Ausstrahlung hinreichend berücksichtigt hätte. Das ist jedoch nicht der Fall. Das Landgericht führt hier nur formelhaft und keineswegs hinreichend den Schutz der Verfassung und "schutzwürdige Verfassungsinteressen höherrangiger Art" an, die den von dem Plakat ausgehenden Werbeeffekt für die FDJ und ihre verfassungswidrigen Ziele nicht zuließen.
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Allerdings hat das Landgericht unter Anwendung einfachen Rechts geprüft, ob die Rechtswidrigkeit der Handlung entfällt, weil das beanstandete Plakat für die Aufführung des "Herrnburger Bericht" wirbt. Die auf dieser Ebene vorgenommene Auslegung hält aber ebenfalls den Anforderungen der Kunstfreiheit nicht stand, so daß dahingestellt bleiben kann, ob eine solche einfachrechtliche Prüfung überhaupt die verfassungsrechtlich gebotene Abwägung ersetzen könnte. Obwohl das Landgericht einräumt, das Plakat werbe in adäquater Weise für ein Kunstwerk, beurteilt es die Werbung als verboten, weil sie überdimensional sei und eine propagandistische Wirkung für die FDJ ausübe und daher nicht nur der Kunst diene. Es beanstandet, daß das Plakat sich nicht mit einem nüchternen Hinweis auf die Veranstaltung begnüge. Damit übersieht dasBVerfGE 77, 240 (256) BVerfGE 77, 240 (257)Gericht die Annexfunktion der Werbung für die Kunst. Es kann der Werbung nicht untersagt sein, Inhalt und Charakter eines erlaubten Kunstwerks durch gestalterische Mittel zum Ausdruck zu bringen, die dem Kunstwerk die erwünschte Beachtung verschaffen. Selbstverständlich unterliegt sie dabei den sich aus der Verfassung ergebenden Schranken. Diese müssen aber unter Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit im Lichte des ebenfalls verfassungsrechtlich geschützten Zwecks der Werbung gesehen werden. Eine solche Betrachtung würde sich nur dann erübrigen, wenn das Gericht anhand der tatsächlichen Umstände (beispielsweise Größe und Gestaltung sowie Ort der Werbung) zu dem Ergebnis käme, in Wahrheit sei gar kein Hinweis auf ein Kunstwerk beabsichtigt, eigentlicher Zweck der Aktion sei es, für die Ziele, die das verwendete Kennzeichen symbolisierten, und damit für eine verfassungswidrige Organisation zu werben. Eine solche Handlung fiele gar nicht in den Schutzbereich der Kunst; denn sie geschähe nur unter dem Deckmantel dieses Grundrechts. Diese Feststellung hat das Landgericht München I jedoch nicht getroffen. Zwar führt das Bayerische Oberste Landesgericht in seinem die Revision verwerfenden Beschluß aus, das Landgericht habe ohne Rechtsfehler festgestellt, die Plakataktion habe vor allem der zweckgerichteten Manifestation eines politischen Emblems und der hinter ihm stehenden Inhalte im Bewußtsein der Öffentlichkeit gedient. Das trifft jedoch nach dem eindeutigen Wortlaut der Entscheidungsgründe des Landgerichts nicht zu. Dort heißt es nämlich, die Aktion habe "auch -- und nicht zuletzt" diesem weiteren Zweck gedient (Bl. 21 der Entscheidungsgründe). Es braucht hier nicht geklärt zu werden, ob eine Handlung, die neben der Kunst "vor allem" anderen Zwecken dient, nicht mehr in den Schutzbereich des Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG fiele; denn die Revisionsentscheidung gibt die tatsächlichen Feststellungen des Landgerichts unzutreffend wieder. Da dieser Fehler von wesentlicher Bedeutung für die verfassungsrechtliche Bewertung der Plakataktion ist, führt bereits er zur Verfassungswidrigkeit auch dieses letztinstanzlichen Beschlusses; denn wegen der eingangs dargelegten Prüfungsintensität stellen auch solche Mängel einen Verstoß gegen die Kunstfreiheit dar.
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3. Auch das Landgericht Essen hat in der von der BeschwerdeBVerfGE 77, 240 (257)BVerfGE 77, 240 (258)führerin zu II.) angegriffenen Entscheidung die Schranken der Kunstfreiheit nicht richtig gezogen. Sein Argument, um auf die bevorstehende Aufführung der Kantate hinzuweisen und die Öffentlichkeit dafür zu interessieren, sei es weder erforderlich noch angemessen gewesen, daß die Beschwerdeführerin bei ihrem Auftreten das blaue Hemd mit dem FDJ-Emblem getragen habe, stellt ebenfalls den Charakter des Stücks, für das geworben wird, nicht in Rechnung. Wenn das Oberlandesgericht Hamm, das vom Landgericht zitiert wird, ausführt, die Kunstfreiheit besage nichts über die Art und Weise, in der für ein Kunstwerk geworben werden dürfe (OLG Hamm, JMBl. NW 1984, S. 67 [69]), so ist das wegen der bereits erwähnten Annexfunktion der Werbung für das Kunstwerk in dieser Form nicht zutreffend. Das Tragen des FDJ-Hemdes durch die Beschwerdeführerin zielte zumindest auch auf Inhalt und Tendenz des Kunstwerks. Das Landgericht durfte diese Handlung der Beschwerdeführerin daher nicht ohne weiteres jenseits der Grenzen des Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG ansiedeln. Vielmehr wäre auch hier eine Abwägung der verfassungsrechtlich geschützten Güter unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls und realistischer Einschätzung der durch die Handlung drohenden Folgen erforderlich gewesen.
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Da das Oberlandesgericht Hamm das Urteil des Landgerichts ohne Begründung bestätigt hat, leidet die Revisionsentscheidung ebenfalls an diesem Fehler.
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Herzog Simon Katzenstein Niemeyer Heußner Henschel Seidl GrimmBVerfGE 77, 240 (258)  
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