![]() ![]() | |||
| |||
Bearbeitung, zuletzt am 29.05.2020, durch: A. Tschentscher | |||
![]() | ![]() |
![]() |
Beschluß |
des Ersten Senats vom 10. Januar 1995 |
-- 1 BvR 718, 719, 722, 723/89 -- |
in den Verfahren über die Verfassungsbeschwerden 1. des Herrn M..., [...]. |
Entscheidungsformel: |
Der Beschluß des Oberlandesgerichts Stuttgart vom 9. Mai 1989 - 4 Ss 119/89 -, das Urteil des Landgerichts Tübingen vom 19. Oktober 1988 - 1 (2) Ns 27, 28, 29 und 30/85 - und das Urteil des Oberlandesgerichts Stuttgart vom 23. Juni 1988 - 4 Ss 361/87 - verletzen Artikel 103 Absatz 2 des Grundgesetzes. Sie werden aufgehoben. Die Sache wird an das Oberlandesgericht zurückverwiesen. |
Damit wird der Beschluß des Bundesgerichtshofs vom 5. Mai 1988 - 1 StR 5/88 - gegenstandslos. |
Die Bundesrepublik Deutschland und das Land Baden-Württemberg haben den Beschwerdeführern ihre notwendigen Auslagen je zur Hälfte zu erstatten. |
![]() ![]() | |
A. | |
Die Beschwerdeführer sind wegen gemeinschaftlicher Nötigung, begangen durch Sitzdemonstrationen vor einer militärischen Einrichtung, verurteilt worden. Sie rügen die Verletzung von Art. 103 Abs. 2 GG, die Beschwerdeführer zu 3) und 4) zusätzlich die Verletzung des Rechts auf ein faires Verfahren aus Art. 20 Abs. 3 GG.
| 1 |
I. | |
Der Verurteilung liegt eine Blockadeaktion vor dem Sondermunitionslager der Bundeswehr in Großengstingen zugrunde, in dem atomare Kurzstreckenraketen des Typs Lance gelagert waren. Mit der Aktion sollte gegen die Stationierung der Raketen protestiert werden. Zugleich richtete sie sich gegen die beim Amtsgericht Münsingen laufenden Strafverfahren wegen anderer Blockadeaktionen.
| 2 |
Die Beschwerdeführer hatten aufgrund eines Zeitungsinserats mit der Überschrift "Wer blockiert mit?" den Entschluß gefaßt, sich an der Aktion zu beteiligen. Beweggrund war ihre Besorgnis über die Gefahren einer atomaren Bewaffnung. Sie fuhren am 9. Mai 1983 gemeinsam nach Großengstingen, wo sie um 9.00 Uhr eintrafen und sich zu den übrigen Demonstranten gesellten, deren Zahl im Lauf des Tages zwischen 15 und 40 Personen schwankte.
| 3 |
Als sich zwischen 10.30 Uhr und 10.45 Uhr ein Fahrzeug der Bundeswehr mit Postsendungen näherte, setzten sich fünf Demonstranten auf die Fahrbahn. Hauptfeldwebel B. gab wenige Meter vor den Sitzenden den Befehl zum Anhalten und forderte sie auf, Durchfahrt zu gewähren. Als dies ohne Erfolg blieb, ordnete er an, umzukehren und in die Kaserne zurückzufahren. Währenddessen standen die Beschwerdeführer mit den übrigen Demonstranten am Straßenrand.
| 4 |
Auf Veranlassung der Polizeidirektion Reutlingen ordnete das Landratsamt fernmündlich die Auflösung der Versammlung und einen Platzverweis an. Die Polizei wurde mit der Vollstreckung beauftragt. Als um 12.15 Uhr Hauptfeldwebel B. mit einem Ver ![]() ![]() | 5 |
Als sich Hauptfeldwebel B. und der ihm unterstellte Soldat in Begleitung von Polizei um 17.15 Uhr erneut mit einem Verpflegungsfahrzeug näherten, setzten sich die Beschwerdeführer und eine weitere Person auf die Fahrbahn. Die übrigen Demonstranten standen am Straßenrand. Wie zuvor forderte Polizeihauptkommissar Z. die Sitzenden zur Räumung der Straße auf und ordnete dann an, sie wegzutragen. Gegen 17.30 Uhr konnten die Soldaten die Fahrt fortsetzen. Bei der Ausfahrt des Fahrzeugs um 17.40 Uhr setzten sich acht Demonstranten auf die Straße, während die Beschwerdeführer am Straßenrand standen. Die Fahrbahn wurde wiederum geräumt.
| 6 |
II. | |
1. Das Amtsgericht hat die Beschwerdeführer wegen des Vergehens der gemeinschaftlich begangenen Nötigung zu einer Geldstrafe von 15 Tagessätzen zu je 15 DM für die Beschwerdeführer zu 1), 3), 4) und zu 25 DM für die Beschwerdeführerin zu 2) verurteilt.
| 7 |
Die Beschwerdeführer hätten in bewußtem und gewolltem Zusammenwirken die Einfahrt eines Kraftfahrzeugs in das Sondermunitionslager für längere Zeit verhindert. Dadurch hätten sie Gewalt im Sinne des § 240 StGB angewandt. Von ihrem Sitzen sei unwiderstehlicher psychischer Zwang auf die Insassen des Fahrzeugs ausgegangen, so daß sich der Fahrzeugführer gezwungen gesehen habe, dem Fahrer den Befehl zum Anhalten zu geben.
| 8 |
Die Tat sei auch rechtswidrig. Die Anwendung der Gewalt zu dem angestrebten Zweck sei verwerflich. Zwar sei der Zweck, die Bevölkerung überzeugend und dringlich auf die Gefahr der atoma ![]() ![]() | 9 |
Bei der Strafzumessung hätten das positive Ziel und die achtenswerten Motive der Beschwerdeführer Berücksichtigung gefunden. Jedoch sei auch das Ausmaß der verschuldeten Behinderung gewürdigt worden.
| 10 |
2. Das Landgericht hat diese Entscheidung auf die Berufungen der Beschwerdeführer und der Staatsanwaltschaft aufgehoben und die Beschwerdeführer freigesprochen, weil ihre Blockade unter Würdigung der Gesamtumstände und der Fernziele nicht verwerflich gewesen sei.
| 11 |
3. Auf die Revision der Staatsanwaltschaft hat das Oberlandesgericht dem Bundesgerichtshof die Frage vorgelegt, ob die Fernziele von Straßenblockierern bei der Prüfung der Rechtswidrigkeit der Nötigung oder nur bei der Strafzumessung zu berücksichtigen seien (NStZ 1988, S. 129 f.).
| 12 |
Der Bundesgerichtshof hat die Vorlagefrage mit dem angegriffenen Beschluß (BGHSt 35, 270) wie folgt beantwortet:
| 13 |
"Die Fernziele von Straßenblockierern sind nicht bei der Prüfung der Rechtswidrigkeit der Nötigung, sondern ausschließlich bei der Strafzumessung zu berücksichtigen."
| 14 |
Das Oberlandesgericht hat daraufhin den Freispruch des Landgerichts mit den Feststellungen aufgehoben und die Sache an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
| 15 |
4. Nachdem die Staatsanwaltschaft die Zustimmung zur Einstellung des Verfahrens gemäß § 153 a StPO nicht erteilt hatte, hat das Landgericht im weiteren Berufungsverfahren das Urteil des Amtsge ![]() ![]() | 16 |
Nach dem festgestellten Sachverhalt hätten sich die Beschwerdeführer einer mittäterschaftlich begangenen Nötigung gemäß §§ 240, 25 StGB schuldig gemacht.
| 17 |
Gegenstand der Verurteilung sei nicht nur der Vorfall, bei dem sich die Beschwerdeführer auf die Fahrbahn gesetzt hätten, sondern die gesamte Blockadeaktion, die für den ganzen Tag geplant gewesen und in einzelnen Sitzblockaden durch wechselnde Gruppen von fünf bis acht Demonstranten und unterstützendes Dabeistehen der übrigen Demonstranten am Straßenrand durchgeführt worden sei. Die Beschwerdeführer seien Mittäter, weil sie bewußt und gewollt ihren Beitrag zur gemeinschaftlichen Blockadeaktion durch unterstützendes Stehen am Straßenrand und durch das Sitzen auf der Fahrbahn geleistet hätten.
| 18 |
Unter Hinweis auf die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (BGHSt 23, 46 [54] - Laepple) hat das Landgericht die Blockadeaktion als Anwendung von Gewalt im Sinne von § 240 Abs. 1 StGB gewertet. Dies stehe nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfGE 73, 206) nicht im Widerspruch zur Verfassung. Genötigte Person sei Hauptfeldwebel B., der an der einzigen Zufahrt zum Sondermunitionslager gezwungen gewesen sei, das Fahrzeug anhalten zu lassen, um das Überfahren der Sitzenden zu vermeiden. Die Blockade der Straße habe bei ihm eine seelische Tötungs- und Verletzungshemmung ausgelöst, aufgrund derer ihm keine andere Wahl geblieben sei. Eine solche Hemmung wirke sich ebenso aus wie körperlicher Zwang und sei diesem deshalb gleichzustellen. Daß die jeweiligen Fahrer nicht hätten festgestellt werden können, sei unschädlich, weil es sich um dienstliche Fahrten gehandelt habe und die Fahrer die Anordnungen ihres Vorgesetzten hätten befolgen müssen.
| 19 |
Die Anwendung der Gewalt zu dem angestrebten Zweck sei auch als verwerflich im Sinne des § 240 Abs. 2 StGB anzusehen; die ![]() ![]() | 20 |
Die Beschwerdeführer könnten sich nicht auf Art. 5 und 8 GG berufen; schon der klare Wortlaut des Art. 8 GG bringe zum Ausdruck, daß dieses Grundrecht nicht zu unfriedlichem Verhalten gegen andere berechtige.
| 21 |
Das Landgericht hat die Fernziele der Beschwerdeführer im Rahmen der Strafzumessung gewürdigt und auf die Mindesttagessatzzahl erkannt.
| 22 |
5. Das Oberlandesgericht hat die Revision der Beschwerdeführer gemäß § 349 Abs. 2 StPO als unbegründet verworfen.
| 23 |
III. | |
Mit ihrer Verfassungsbeschwerde rügen die Beschwerdeführer einen Verstoß gegen Art. 103 Abs. 2 und Art. 20 Abs. 3 GG durch die angegriffenen Entscheidungen.
| 24 |
Die Verurteilung wegen Nötigung des Beifahrers stelle eine abermalige Ausweitung des Gewaltbegriffs in § 240 Abs. 1 StGB dar ![]() ![]() | 25 |
Nach Auffassung der Beschwerdeführer zu 3) und 4) verletzen die angegriffenen Entscheidungen auch das Rechtsstaatsprinzip und das Recht auf ein faires Verfahren, weil der Fahrer nicht festgestellt worden sei. Es seien durchaus Fälle denkbar, in denen ein Sitzen auf der Straße nicht als Gewalt im Sinne des § 240 StGB gewertet werden müsse, weil der Fahrer freiwillig oder aus anderen Motiven angehalten habe, so daß die Zwangswirkung entfalle. Ginge man nicht von dieser Möglichkeit aus, sei eine Beweisaufnahme über die Zwangswirkung beim Opfer unsinnig und unzulässig, da es andernfalls genügen würde zu beweisen, daß Demonstranten auf einer Straße gesessen haben und daß ein Fahrzeug vor ihnen angehalten hat. Die angegriffenen Entscheidungen ließen schon das bloße Verursachen des Anhaltens ausreichen. Damit sei aber das Tatbestandsmerkmal "Gewalt" in § 240 Abs. 1 StGB in seiner Auslegung durch den Bundesgerichtshof (BGHSt 23, 46) nicht erfüllt. Da der Fahrer nicht festgestellt worden sei, habe nach dem Grundsatz "in dubio pro reo" ein Freispruch erfolgen müssen.
| 26 |
![]() ![]() | 27 |
Soweit der Bundesgerichthof als Zweck im Sinne des § 240 Abs. 2 StGB ausschließlich das unmittelbar abgenötigte Verhalten ansehe und die Berücksichtigung von Fernzielen bei der Verwerflichkeitsprüfung ausschließe, sei sein Beschluß außerdem unvereinbar mit tragenden Erwägungen des Bundesverfassungsgerichts. Nach der Auffassung des 2. Strafsenats des Bundesgerichthofs (BGHSt 34, 71 [77]) stelle der Umstand, daß die verursachte Verkehrsbehinderung von vornherein bezweckt gewesen sei, nicht stets eine hinreichende Bedingung für das Verwerflichkeitsurteil dar. Dem habe das Bundesverfassungsgericht mit der Maßgabe zugestimmt, daß die Verwerflichkeitsklausel bei Sitzblockaden nicht nur herangezogen werden könne, sondern aus verfassungsrechtlichen Gründen herangezogen werden müsse (BVerfGE 73, 206 [256]). Daraus folge, daß unter dem angestrebten Zweck im Sinne des § 240 Abs. 2 StGB nicht lediglich das abgenötigte Verhalten, also die Verkehrsbehinderung, verstanden werden könne.
| 28 |
Die konsequente Anwendung der gegenteiligen Auffassung des Bundesgerichtshofs führe zur Indizwirkung der Gewalt für die Rechtswidrigkeit im Sinne des § 240 Abs. 2 StGB. Wenn unter dem angestrebten Zweck nur das unmittelbar abgenötigte Verhalten, das heißt das Abbremsen des Fahrzeugs, verstanden werde, sei dieses immer als verwerflich anzusehen. Bei Annahme der Prämisse des Bundesgerichtshofs bliebe kein Gesichtspunkt übrig, der die Verwerflichkeit ausschließen könnte. Weder auf die Dauer der Blockade noch auf deren vorherige Ankündigung oder sonstige ![]() ![]() | 29 |
IV. | |
Zu den Verfassungsbeschwerden haben der Bundesminister der Justiz namens der Bundesregierung, das Justizministerium Baden- Württemberg sowie die Strafsenate des Bundesgerichtshofs Stellung genommen.
| 30 |
1. Nach Auffassung des Bundesministers sind die Verfassungsbeschwerden nicht begründet. Die angegriffenen Entscheidungen würden den Maßstäben gerecht, die das Bundesverfassungsgericht im Urteil vom 11. November 1986 (BVerfGE 73, 206) entwickelt habe.
| 31 |
Von Verfassungs wegen sei es nicht geboten, die Fernziele bei der Verwerflichkeitsprüfung zu berücksichtigen; dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und dem Gebot schuldangemessenen Strafens werde auch Genüge getan, wenn dies bei der Strafzumessung geschehe. Es sei deshalb nicht zu beanstanden, daß die Strafgerichte es in Auslegung und Anwendung des einfachen Rechts abgelehnt hätten, die Fernziele bei der Verwerflichkeitsprüfung zu berücksichtigen.
| 32 |
Das Argument des Bundesgerichtshofs, die Struktur des Nötigungstatbestandes verbiete die Berücksichtigung von Fernzielen bei der Prüfung der Rechtswidrigkeit, sei nicht zu beanstanden; es finde seine Stütze im Aufbau der Strafnorm und in der Funktion der Verwerflichkeitsklausel in § 240 Abs. 2 StGB. Auch soweit der Bundesgerichtshof objektiv vorliegende Umstände für den Ausschluß der Verwerflichkeit verlange, könne er sich auf allgemeine rechtssystematische Gesichtspunkte berufen.
| 33 |
Die Wertung des Landgerichts, daß das Handeln der Beschwerdeführer verwerflich gewesen sei, lasse einen Verstoß gegen spezifisches Verfassungsrecht nicht erkennen.
| 34 |
Die angegriffenen Entscheidungen hielten auch dem Maßstab des ![]() ![]() | 35 |
2. Auch nach Auffassung des Justizministeriums Baden-Württemberg sind die Verfassungsbeschwerden nicht begründet.
| 36 |
Die angegriffenen Entscheidungen verstießen nicht gegen das Gebot der verfassungskonformen Auslegung des § 240 StGB in dem Sinne, daß die Bejahung nötigender Gewalt in den Fällen einer Erstreckung dieses Begriffs auf Sitzdemonstrationen nicht schon zugleich die Rechtswidrigkeit der Tat indiziere.
| 37 |
Nach der das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 11. November 1986 tragenden Auffassung sei der Strafrichter von Verfassungs wegen nicht gehalten, die Fernziele der Demonstranten bei der Verwerflichkeitsprüfung zu berücksichtigen. Damit stehe die Auffassung des Bundesgerichtshofs in Einklang, daß die Fernziele ausschließlich bei der Strafzumessung zu berücksichtigen seien. Der Bundesgerichtshof habe mit dem Beschluß die ihm zukommende Aufgabe wahrgenommen, die Frage der strafrechtlichen Berücksichtigung der Fernziele von Demonstranten einer einfachrechtlichen Klärung zuzuführen. Genau diese Aufgabe habe das Bundesverfassungsgericht dem Bundesgerichtshof auferlegt. Die Rüge der Beschwerdeführer, der Bundesgerichtshof führe die vom Bundesverfassungsgericht untersagte Indizwirkung des Tatbestandsmerkmals der Gewalt für die Rechtswidrigkeit im Sinne des § 240 Abs. 2 StGB "durch die Hintertüre" wieder ein, sei unbegründet. Der Bundesgerichtshof gehe vielmehr davon aus, daß bei der Prüfung der Verwerflichkeit - von den Fernzielen abgesehen - alle Umstände des Einzelfalles zu berücksichtigen seien. Dementsprechend habe auch das Landgericht alle Umstände des Einzelfalls bei der Beurteilung der Verwerflichkeit berücksichtigt.
| 38 |
Soweit die Beschwerdeführer unter dem Gesichtspunkt des Art. 103 Abs. 2 GG rügten, daß der Beifahrer kein taugliches Nötigungsopfer sei, liege dem bereits eine fehlerhafte einfachrechtliche ![]() ![]() | 39 |
3. Der Präsident des Bundesgerichtshofs hat Äußerungen verschiedener Strafsenate übersandt. Der 2., 3. und 4. Strafsenat haben auf ihre einschlägigen Entscheidungen hingewiesen (BGHSt 23, 46 und 34, 71; 5, 245 und 32, 165 [181 f.]; 18, 389 und 34, 238). Von einer Stellungnahme unter Berücksichtigung des Verfassungsrechts haben sie abgesehen. Der 4. Strafsenat hat ergänzend ausgeführt, es sei aus kriminalpolitischen Erwägungen bedenklich, daß bei der gegenwärtigen Strafverfolgungspraxis berechtigterweise der Eindruck entstanden sei, "Fernziele" würden nur bei bestimmten Sitzblockaden nicht berücksichtigt, während sie bei anderen Blockaden (z.B. bei Betriebsstillegungen oder wegen Belastungen des Fernverkehrs) zum Absehen von Strafverfolgung führten. Dies sei der Akzeptanz der Nötigungsrechtsprechung des Bundesgerichtshofs abträglich.
| 40 |
B. | |
Die Verfassungsbeschwerden sind begründet.
| 41 |
I. | |
Die angegriffenen Entscheidungen des Landgerichts und des Oberlandesgerichts verstoßen gegen Art. 103 Abs. 2 GG.
| 42 |
43 | |
Danach enthält diese Regelung nicht nur ein Rückwirkungsver ![]() ![]() | 44 |
Das schließt allerdings nicht eine Verwendung von Begriffen aus, die in besonderem Maß der Deutung durch den Richter bedürfen. Auch im Strafrecht steht der Gesetzgeber vor der Notwendigkeit, der Vielgestaltigkeit des Lebens Rechnung zu tragen. Ferner ist es wegen der Allgemeinheit und Abstraktheit von Strafnormen unvermeidlich, daß in Einzelfällen zweifelhaft sein kann, ob ein Verhalten noch unter den gesetzlichen Tatbestand fällt oder nicht. Jedenfalls im Regelfall muß der Normadressat aber anhand der gesetzlichen Vorschrift voraussehen können, ob ein Verhalten strafbar ist. In Grenzfällen ist auf diese Weise wenigstens das Risiko einer Bestrafung erkennbar.
| 45 |
Für die Rechtsprechung folgt aus dem Erfordernis gesetzlicher Bestimmtheit ein Verbot analoger oder gewohnheitsrechtlicher Strafbegründung. Dabei ist "Analogie" nicht im engeren technischen Sinn zu verstehen; ausgeschlossen ist vielmehr jede Rechtsanwendung, die über den Inhalt einer gesetzlichen Sanktionsnorm hinausgeht. Da Gegenstand der Auslegung gesetzlicher Bestimmungen immer nur der Gesetzestext sein kann, erweist dieser sich als maßgebendes Kriterium: Der mögliche Wortsinn des Gesetzes markiert die äußerste Grenze zulässiger richterlicher Interpretation. Da Art. 103 Abs. 2 GG die Vorhersehbarkeit der Strafandrohung für den Normadressaten garantieren will, ist die Grenze aus dessen Sicht zu bestimmen.
| 46 |
![]() ![]() | 47 |
2. § 240 StGB ist hinsichtlich der - hier allein einschlägigen - Gewaltalternative mit Art. 103 Abs. 2 GG vereinbar.
| 48 |
a) Die Nötigungsvorschrift des § 240 StGB stellt nach herrschender Meinung Angriffe auf die Freiheit der Willensentschließung und der Willensbetätigung unter Strafe. Die Freiheit der Willensentschließung und noch mehr die der Willensbetätigung unterliegt allerdings vielfältigen gesellschaftlichen Zwängen, die keineswegs alle als Unrecht gelten oder gar strafwürdig erscheinen. Der Gesetzgeber hat daher die Strafbarkeit auf die Verwendung bestimmter Mittel beschränkt. In seiner ursprünglichen Fassung stellte § 240 StGB die Nötigung "durch Gewalt oder durch Bedrohung mit einem Verbrechen oder Vergehen" unter Strafe (vgl. zu Vorgeschichte und Änderungen des Gesetzestextes Fabricius, Die Formulierungsgeschichte des § 240 StGB, 1991). Durch die Strafrechtsangleichungsverordnung vom 29. Mai 1943 (RGBl. I S. 339) wurde der Drohungstatbestand unter Rückgriff auf Vorarbeiten der Weimarer Zeit ausgeweitet. Strafbar war danach die "Drohung mit einem empfindlichen Übel". Zur Begrenzung des so erweiterten Tatbestands wurde gleichzeitig ein neuer Absatz 2 eingefügt, demzufolge die Tat rechtswidrig war, "wenn die Anwendung der Gewalt oder die Zufügung des angedrohten Übels zu dem angestrebten Zweck dem gesunden Volksempfinden widerspricht". Dadurch sollte klargestellt werden, daß es weder auf die Rechtmäßigkeit ![]() ![]() | 49 |
b) Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Urteil vom 11. November 1986 (BVerfGE 73, 206 - Mutlangen), das ebenfalls Sitzdemonstrationen vor militärischen Einrichtungen betraf, die aus Protest gegen die atomare Nachrüstung stattfanden, § 240 StGB für vereinbar mit Art. 103 Abs. 2 GG erklärt, und zwar sowohl hinsichtlich des Gewaltbegriffs in Absatz 1 als auch der Verwerflichkeitsklausel in Absatz 2 dieser Vorschrift (a.a.O., S. 236 bis 239). Darauf wird verwiesen. Ob daran auch bezüglich des Absatzes 2 in vollem Umfang festzuhalten ist, bedarf hier keiner Entscheidung.
| 50 |
3. Dagegen verstößt die Auslegung des Gewaltbegriffs in § 240 Abs. 1 StGB durch die Strafgerichte gegen Art. 103 Abs. 2 GG.
| 51 |
Im Unterschied zur Verfassungsmäßigkeit der Norm war die Verfassungsmäßigkeit der Auslegung in dem Urteil vom 11. November 1986 (BVerfGE 73, 206) streitig geblieben. Während vier Richter keinen Grund zur verfassungsrechtlichen Beanstandung dieser Auslegung sahen (a.a.O., S. 242 bis 244), hielten die vier anderen Richter sie für unvereinbar mit dem Bestimmtheitsgrundsatz (a.a.O., S. 244 bis 247). Die Entscheidung in dem damaligen Verfahren beruhte unter diesen Umständen auf § 15 Abs. 3 Satz 3 BVerfGG. Die verfassungsrechtliche Frage selber ist jedoch unentschieden geblieben (vgl. BVerfGE 76, 211 [217]). Sie wird nunmehr im Sinn der Unvereinbarkeit beantwortet.
| 52 |
a) Den angegriffenen Entscheidungen liegt das Verständnis des ![]() ![]() | 53 |
Den heutigen Stand der Rechtsprechung markiert das Laepple- Urteil des Bundesgerichtshofs aus dem Jahr 1969 (BGHSt 23, 46 [54]). Danach setzt Gewalt im Sinn von § 240 Abs. 1 StGB nicht den "unmittelbaren Einsatz körperlicher Kräfte" voraus. Es genügt vielmehr, daß der Täter "nur mit geringem körperlichen Kraftaufwand einen psychisch determinierten Prozeß" beim Opfer in Lauf setzt. Für die Strafbarkeit kommt es dabei entscheidend auf das "Gewicht der ... psychischen Einwirkung" an. Diese Interpretation, die gewöhnlich als "Vergeistigung" oder "Entmaterialisierung" des Gewaltbegriffs bezeichnet wird, findet ihren Grund in dem Bestreben, die Willensfreiheit in wirksamer Weise auch gegenüber solchen strafwürdigen Einwirkungen zu schützen, die zwar sublimer, aber ähnlich wirksam wie körperlicher Kraftaufwand sind (vgl. BGHSt 1, 145 [147]; 8, 102 [103]; BVerfGE 73, 206 [242]).
| 54 |
Diese Ausweitung des Gewaltbegriffs durch die Rechtsprechung ist sowohl in der strafrechtlichen als auch in der verfassungsrechtlichen Literatur umstritten (vgl. die umfassenden Nachweise in BVerfGE 73, 206 [232 f.]). Das Mutlangen-Urteil des Bundesverfassungsgerichts hat die erhoffte Klärung wegen der Stimmengleich ![]() ![]() | 55 |
b) Bei einer erneuten Überprüfung ist das Bundesverfassungsgericht mit fünf zu drei Stimmen zu der Auffassung gelangt, daß die den angegriffenen Entscheidungen zugrundeliegende Auslegung des Gewaltbegriffs mit Art. 103 Abs. 2 GG unvereinbar ist.
| 56 |
Der Begriff der Gewalt, der im allgemeinen Sprachgebrauch mit unterschiedlicher Bedeutung verwendet wird, muß hier im Zusammenhang des Normgefüges verstanden werden. Der Gesetzgeber wollte in § 240 StGB nicht jede Zwangseinwirkung auf den Willen Dritter unter Strafe stellen. Andernfalls wären auch zahlreiche Verhaltensweisen, die im Sozialleben, etwa im Erziehungswesen, in der Arbeitswelt oder im Verkehrsbereich, teils erforderlich, teils unvermeidlich sind, der Strafdrohung unterfallen. Um das zu vermeiden, hat er sich nicht damit begnügt, das pönalisierte Verhalten als Nötigung zu einer Handlung, Duldung oder Unterlassung zu beschreiben, sondern die Strafbarkeit einer derartigen Handlung von der Wahl bestimmter Nötigungsmittel abhängig gemacht, nämlich Gewalt oder Drohung mit einem empfindlichen Übel. Eine Ausweitung der Mittel im Wege der Interpretation, etwa auf List oder Suggestion, scheidet nach einhelliger Auffassung in Judikatur und Literatur aus. Das gilt selbst dann, wenn diese Mittel eine ähnliche Wirkung auf das Nötigungsopfer haben wie die beiden im Gesetz pönalisierten.
| 57 |
Art. 103 Abs. 2 GG setzt aber nicht nur der Tatbestandsergänzung, sondern auch der tatbestandsausweitenden Interpretation Grenzen. Die Auslegung der Begriffe, mit denen der Gesetzgeber die pönalisierten Mittel bezeichnet hat, darf nicht dazu führen, daß die dadurch bewirkte Eingrenzung der Strafbarkeit im Ergebnis wieder aufgehoben wird.
| 58 |
![]() ![]() | 59 |
Das Tatbestandsmerkmal der Gewalt wird dadurch in einer Weise entgrenzt, daß es die ihm vom Gesetzgeber zugedachte Funktion, unter den notwendigen, unvermeidlichen oder alltäglichen Zwangseinwirkungen auf die Willensfreiheit Dritter die strafwürdigen zu bestimmen, weitgehend verliert. Es bezieht zwangsläufig zahlreiche als sozialadäquat betrachtete Verhaltensweisen in den Tatbestand ein, deren Strafbarkeit erst durch das Korrektiv der Verwerflichkeitsklausel in § 240 Abs. 2 StGB ausgeschlossen wird. Der Bundesgerichtshof hat sich deshalb veranlaßt gesehen, der Ausweitung des Gewaltbegriffs dadurch zu begegnen, daß er auf das "Gewicht" der psychischen Einwirkung abgestellt hat. Damit wird die Eingrenzungsfunktion aber einem Begriff aufgebürdet, der noch weit unschärfer ist als der der Gewalt. An einer befriedigenden Klärung, wann eine psychische Einwirkung gewichtig ist, fehlt es daher auch. Der Verweis auf das Korrektiv der Verwerflichkeit ist deswegen nicht geeignet, die rechtsstaatlichen Bedenken zu zerstreuen, denen die Ausweitung des Gewaltbegriffs durch die Rechtsprechung begegnet.
| 60 |
![]() ![]() | 61 |
Die Ungewißheit, die dem erweiterten Gewaltbegriff anhaftet, ist auch nicht durch ein im Lauf der Zeit gefestigtes Verständnis seiner Bedeutung entfallen, zumal der Bundesgerichtshof in anderen Bereichen wie dem der Vergewaltigung von einem erheblich engeren Gewaltbegriff ausgeht (vgl. BGH, NJW 1981, S. 2204). Wie die eben erwähnten Beispiele zeigen, ist aber selbst die Strafbarkeit von Blockadeaktionen als Nötigung höchst ungewiß geblieben. Auch die fortbestehenden Divergenzen in Judikatur und Literatur hinsichtlich der strafrechtlichen Würdigung von Sitzdemonstrationen der vorliegenden Art (vgl. Schäfer, LK, a.a.O., Rdnr. 21 bis 27; Otto, NStZ 1992, S. 568) zeigen, daß sich eine gefestigte Rechtsauffassung bisher nicht hat bilden können.
| 62 |
Die erforderliche Bestimmtheit ergibt sich auch nicht daraus, daß aufgrund der höchstrichterlichen Rechtsprechung zumindest das Risiko der Bestrafung erkennbar ist. Abgesehen von der Fragwürdigkeit dieses Arguments, demzufolge das Risiko der Bestrafung um so höher ist, je vager ein Straftatbestand formuliert wird, kann es bei der Bestimmtheitsprüfung jedenfalls nur in bezug auf die ![]() ![]() | 63 |
Schließlich läßt sich die Ausweitung des Gewaltbegriffs auch nicht damit rechtfertigen, daß andernfalls unerwünschte Strafbarkeitslücken aufträten. Selbst wenn es zutreffen sollte, daß das mit der weiten Auslegung der Norm erfaßte Verhalten ähnlich strafwürdig ist wie das ihr unzweifelhaft unterfallende, bleibt es Sache des Gesetzgebers, die Strafbarkeitslücke zu schließen (vgl. BVerfGE 71, 108 [116] m.w.N.).
| 64 |
Die nunmehr notwendige Eingrenzung des Gewaltbegriffs in § 240 Abs. 1 StGB obliegt zuvörderst den Strafgerichten, nicht dem Bundesverfassungsgericht. Die Rechtswidrigkeit von Sitzdemonstrationen nach anderen Vorschriften bleibt von dieser Entscheidung unberührt.
| 65 |
II. | |
Mit dieser Entscheidung wird der angegriffene Beschluß des Bundesgerichtshofs, der sich nur zur Verwerflichkeit von Sitzdemonstrationen gemäß § 240 Abs. 2 StGB zu äußern hatte und ihre Tatbestandsmäßigkeit im Sinn von Absatz 1 dieser Vorschrift voraussetzte, gegenstandslos. Da mit der Aufhebung des ersten Revisionsurteils des Oberlandesgerichts das freisprechende Urteil des Landgerichts wiederhergestellt ist, bedarf auch die erstinstanzliche Verurteilung durch das Amtsgericht keiner verfassungsgerichtlichen Überprüfung mehr.
| 66 |
![]() ![]() | |
Ob die angegriffenen Entscheidungen weitere verfassungsmäßige Rechte der Beschwerdeführer, namentlich den Grundsatz des fairen Verfahrens und das Grundrecht der Versammlungsfreiheit, verletzen, kann danach offen bleiben.
| 67 |
Henschel, Seidl, Grimm, Söllner, Kühling, Seibert, Jaeger, Haas |
Abweichende Meinung der Richter Seidl und Söllner und der Richterin Haas zum Beschluß des Ersten Senats vom 10. Januar 1995 - 1 BvR 718, 719, 722, 723/89 - | |
Es verstößt nicht gegen Art. 103 Abs. 2 GG, daß die Strafgerichte im Ausgangsverfahren in der Sitzblockade eine mittels Gewalt im Sinne von § 240 Abs. 1 StGB begangene Nötigung gesehen haben.
| 68 |
1. Der Senat geht in der vorliegenden Entscheidung im Einklang mit seiner früheren Rechtsprechung (BVerfGE 73, 206 [233 f.]) davon aus, daß das Tatbestandsmerkmal der Gewalt in § 240 Abs. 1 StGB dem Bestimmtheitsgebot des Art. 103 Abs. 2 GG genügt (Abschnitt B I 2* der Gründe). Die Auslegung der Norm, um die es hier allein geht, wird durch Art. 103 Abs. 2 GG nach den hierzu vom Bundesverfassungsgericht entwickelten Grundsätzen dahin eingeschränkt, daß sie den möglichen Wortsinn der Norm - beurteilt aus der Sicht des Normadressaten - nicht überschreiten darf (vgl. BVerfGE 73, 206 [235 f.]; 85, 69 [73]; ebenso Abschnitt B I 1* der Gründe der vorliegenden Entscheidung). Auch innerhalb des möglichen Wortsinns darf die Auslegung nicht weiter gehen, als es Zweck und Sinnzusammenhang der Norm zulassen (vgl. BVerfGE 57, 250 [262]).
| 69 |
Nach diesem Maßstab ist - entgegen der Auffassung der Senatsmehrheit - die Auslegung des Gewaltbegriffs durch die Strafgerichte im Ausgangsverfahren nicht zu beanstanden.
| 70 |
![]() ![]() | 71 |
Wenn die Nötigung auf eine Unterlassung gerichtet ist, kann die physische Einwirkung nach dem möglichen Wortsinn des Gewaltbegriffs auch in der Errichtung eines körperlichen Hindernisses bestehen, das der beabsichtigten Handlung - hier der Fortsetzung der Fahrt - entgegensteht. Auf das Ausmaß der aufgewendeten Kraft kommt es dabei nicht an. Ebenso ist es nach allgemeinem Sprachverständnis nicht entscheidend, ob eine unmittelbare Einwirkung auf den Körper des Opfers, etwa in Form einer Berührung, vorliegt. Daß ein aggressives Verhalten nicht erforderlich ist, ergibt sich im übrigen auch aus dem Normzusammenhang, weil der Gesetzgeber im Strafgesetzbuch zwischen Gewalt und Gewalttätigkeit ausdrücklich unterscheidet (vgl. § 113 Abs. 2 Nr. 2, §§ 124, 125 Abs. 1 StGB).
| 72 |
Schließlich kommt es für das Vorliegen von Gewalt nicht darauf an, ob dem Opfer eine Chance bleibt, sich gegen den Zwang erfolgreich zu wehren. Es ist kein Kriterium des Begriffs der Gewalt im Sinne von § 240 Abs. 1 StGB, daß diese unwiderstehlich sein muß (vgl. schon RGSt 13, 49 [51]). Ob Fälle auszuscheiden sind, in denen die physische Einwirkung so gering ist, daß sie vom Opfer überhaupt nicht als ernstzunehmendes Hindernis für seine Willensentschließung und - betätigung empfunden wird, kann hier dahingestellt bleiben.
| 73 |
![]() ![]() | 74 |
Die - auch - psychische Einwirkung folgt erst daraus, daß der genötigte Fahrzeuginsasse in Fällen, in denen er das körperliche Hindernis durch Überfahren der Blockierer überwinden könnte, davon absieht, weil er diese sonst verletzen oder gar töten würde. Dieser psychisch determinierte Prozeß ist zwar entscheidend für den Erfolg der Blockade. Er ändert aber nichts daran, daß durch die Blockade selbst ein körperliches Hindernis bereitet wird. Der mögliche Wortsinn des Gewaltbegriffs wird unter diesen Umständen auch nicht dadurch überschritten, daß bei der Beurteilung der Auswirkung des Zwangsmittels entscheidend auf den durch das Zwangsmittel ausgelösten psychischen Prozeß abgestellt wird. Nach überkommenem Verständnis ist der Gewaltbegriff ganz allgemein nicht auf Einwirkungen beschränkt, die die Willensbetätigung unmöglich machen (vis absoluta), sondern umfaßt auch körperliche Einwirkungen, die einen psychischen Prozeß in Lauf setzen (vis compulsiva; vgl. dazu RGSt 64, 113 [116]).
| 75 |
c) Mit diesem Verständnis des Gewaltbegriffs wird nicht außer acht gelassen, daß in § 240 Abs. 1 StGB nicht jegliche Zwangseinwirkung mit Strafe bedroht ist, sondern nur eine solche mittels Gewalt oder durch Drohung mit einem empfindlichen Übel. Auch die Grenzen zwischen Gewalt und Drohung werden nicht verwischt. Die Fälle, in denen der Willensbetätigung ein körperliches Hindernis entgegengestellt wird, erlauben nicht nur eine abgrenzbare Zuordnung zum Gewaltbegriff, sondern unterscheiden sich auch klar von den Fällen der Drohung, in denen die Willensent ![]() ![]() | 76 |
Diese Auslegung des Gewaltbegriffs führt schließlich nicht dazu, daß sozialadäquates Verhalten bestraft wird. Dies wird vielmehr hinreichend dadurch ausgeschlossen, daß die Bestrafung nach dem Tatbestand des § 240 Abs. 1 StGB von der Absicht des Täters abhängt und der Tatbestand im übrigen in der Verwerflichkeitsklausel des § 240 Abs. 2 StGB ein Korrektiv findet, das verhindert, auch solche Verhaltensweisen zu pönalisieren, für die die angedrohte Sanktion nach Art und Maß unverhältnismäßig wäre (vgl. BVerfGE 73, 206 [253, 254 f.]).
| 77 |
2. Es bedarf keiner Prüfung, ob eine Bestrafung aufgrund einer Auslegung, die mit dem möglichen Wortsinn der Strafnorm und den sonstigen Auslegungskriterien in Einklang steht, dann gegen das Bestimmtheitsgebot des Art. 103 Abs. 2 GG verstoßen kann, wenn die Auslegung so fern liegt, daß der Täter mit ihr und damit auch mit seiner Bestrafung nicht zu rechnen brauchte; denn im Ausgangsfall war jedenfalls aufgrund der gefestigten Rechtsprechung zu § 240 StGB erkennbar, daß Sitzblockaden der vorliegenden Art nach dieser Vorschrift bestraft werden konnten.
| 78 |
a) Für die Beurteilung der Bestimmtheit einer Strafnorm ist anerkannt, daß auch die Verwendung von Begriffen, die eine sehr weite Auslegung zulassen und aus diesem Grunde nach Art. 103 Abs. 2 GG Bedenken begegnen könnten, dem verfassungsrechtlichen Bestimmtheitserfordernis genügen, wenn sie durch eine gefestigte Rechtsprechung eine Auslegung erfahren haben, die dem Normadressaten hinreichend verdeutlicht, was die Bestimmung strafrechtlich verbietet (vgl. BVerfGE 26, 41 [43]; 45, 363 [372]; 57, 250 [262]; 73, 206 [243] m.w.N.). Gleiches muß gelten, wenn man die Frage, mit welcher Auslegung der Norm in Grenzbereichen zu rechnen ist, nicht im Rahmen der Bestimmtheit der Norm, sondern unter dem Gesichtspunkt der Voraussehbarkeit der Auslegung prüft.
| 79 |
b) Daß Sitzblockaden der vorliegenden Art (und allgemein das Hindern der Weiterfahrt eines Fahrzeugs durch körperliches Da ![]() ![]() | 80 |
In der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg wurde diese Rechtsprechung vom Bundesgerichtshof (BGHSt 18, 389 [390]: Verhinderung des Überholtwerdens durch Linksausscheren; BGHSt 23, 47 [54]: Blockieren des Straßenbahnverkehrs durch auf dem Gleiskörper stehende oder sitzende Studenten) und von den Revisionsgerichten der Länder (vgl. etwa BayObLGSt 1953, 145 [147]: Nötigung eines Kraftfahrers zum Anhalten mittels Versperren des Wegs durch Dazwischentreten; BayObLGSt 1963, 17 [20]: Verhinderung der Einfahrt in eine Parklücke durch eine dort stehende Frau, die die Lücke für ihren Ehemann freihalten wollte; BayObLGSt 1970, 71 [72]: Aufstellen des Täters vor einem Pkw, um den Fahrer an der Weiterfahrt zu hindern; OLG Karlsruhe, NJW 1974, S. 2144 [2147]: Blockieren des Straßenbahnverkehrs) fortgesetzt.
| 81 |
c) Nach dieser Rechtsprechung, die auch in der Kommentarliteratur unbeschadet gewisser Bedenken zustimmend referiert worden ist (vgl. BVerfGE 73, 206 [242] m.w.N.), stand außer Zweifel, daß für die Beschwerdeführer im Tatzeitpunkt vorhersehbar war, ![]() ![]() | 82 |
Seidl, Söllner, Haas![]() | |
© 1994-2020 Das Fallrecht (DFR). |