BGHSt 37, 298 - Befangenheit durch Urteilsabsprache
Zur Besorgnis der Staatsanwaltschaft, die beteiligten Berufsrichter einer Strafkammer seien befangen, wenn der Vorsitzende im Einvernehmen mit dem Berichterstatter vor der Hauptverhandlung ohne Anwesenheit anderer Verfahrensbeteiligter dem Verteidiger konkret, wenn auch nach außen hin unverbindlich, sagt, welche Strafe bei einem Geständnis des Angeklagten in Betracht kommt.
StPO § 24 Abs. 2, § 338 Nr. 3
3. Strafsenat
 
Urteil
vom 23. Januar 1991 g.K.
- 3 StR 365/90 -
Landgericht Darmstadt
 
Aus den Gründen:
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Betrugs in Tateinheit mit versuchter Steuerhinterziehung, wegen Betrugs in Tateinheit mit Untreue, wegen Betrugs in elf Fällen, wegen versuchten Betrugs in vier Fällen, wegen Steuerhinterziehung und wegen Unterschlagung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren und zwei Monaten verurteilt.
Auf die Revision der Staatsanwaltschaft ist das Urteil aufzuheben, weil bei dem Urteil zwei Richter mitgewirkt haben, nachdem sie wegen Besorgnis der Befangenheit abgelehnt waren und die Ablehnungsgesuche zu Unrecht verworfen worden sind (§ 338 Nr. 3 StPO).
I.
Die Staatsanwaltschaft rügt, daß ihre Ablehnungsgesuche, mit denen sie die drei Berufsrichter - einen jeden für sich wegen Besorgnis der Befangenheit abgelehnt hat, fehlerhaft zurückgewiesen worden seien. Hinsichtlich der beisitzenden Richterin ist die Rüge unzulässig, weil die Beschwerdeführerin die dienstliche Äußerung dieser Richterin nicht in vollem Umfang mitgeteilt hat (§ 344"Abs. 2 Satz 2 StPO). In zulässiger Form und mit Recht macht die Staatsanwaltschaft aber geltend, daß Gründe vorliegen, die geeignet sind, Mißtrauen gegen die Unparteilichkeit des Vorsitzenden und des anderen Beisitzers, des Berichterstatters, zu rechfertigen.
1. Aus den dienstlichen Äußerungen dieser beiden Richter und der Sitzungsvertreter der Staatsanwaltschaft ergibt sich zur Überzeugung des Senats folgendes Geschehen:
Einen Monat vor Beginn der Hauptverhandlung führte der Vorsitzende der Strafkammer jeweils einzeln mit Verteidigung und Staatsanwaltschaft, nach deren Auffassung die Freiheitsstrafe bei einem Geständnis des Angeklagten mindestens fünf Jahre betragen sollte, vertrauliche Vorgespräche, "über eine Abkürzung" der Verhandlung, die "bei streitiger Durchführung" die Vernehmung vieler Zeugen erforderlich gemacht und mindestens acht Monate gedauert hätte. "Namens der Kammer", ersichtlich aber ohne Beteiligung der Schöffen, erklärte der Vorsitzende - entze2en der Auffassung der Staatsanwaltschaft - dem Verteidiger, "daß nach Kenntnis der Akten und demgemäß vorläufiger Bewertung ein Geständnis sich im Strafmaß so auswirken könne, wie dies (dem Staatsanwalt) bekannt ist", daß dann also mit vier Jahren Freiheitsstrafe zu rechnen sei. Sollte die Hauptverhandlung etwas anderes ergeben, werde dem Angeklagten ein entsprechender Hinweis erteilt. Dieser "kann dann seinerseits neu entscheiden, ob er an seinem Geständnis festhält oder nicht. Widerruft er sein Geständnis, dürfte dieses - weil anderenfalls unter Verstoß gegen den Grundsatz des fairen Verfahrens erlangt - nicht verwertet werden".
Der Beisitzer, der an den "persönlichen Gesprächen" des Vorsitzenden nicht beteiligt war, hat ergänzt, daß bei der Vorbereitung der Hauptverhandlung nach entsprechenden Vorberatungen die Kammer "ihre Vorstellungen dahingehend geäußert hat, welches Strafmaß im Falle einer Verurteilung entsprechend der Anklageschrift ohne bzw. mit Geständnis des Angeklagten zu erwarten ist. Dies entspricht ständiger Übung der Kammer und ist nach hier vertretener Auffassung Ausfluß des Grundsatzes des fairen Verfahrens. Es ist weiterhin zutreffend, daß die Kammer dargelegt hat, sie sperre sich nicht dagegen, eine Empfehlung zur Aufnahme des Angeklagten in den offenen Vollzug ins Urteil aufzunehmen".
Der sachbearbeitende Staatsanwalt erwiderte auf die Anfrage des Vorsitzenden, daß er bei einem Geständnis mindestens fünf Jahre Freiheitsstrafe erwarte und zum "Freigang" ablehnend Stellung nehmen werde. In einem weiteren Gespräch erklärte der Vorsitzende nach der insoweit nicht in Abrede gestellten dienstlichen Äußerung dieses Staatsanwalts, er könne nach wie vor "ein Geständnis entgegennehmen und das mit vier Jahren honorieren" und den Haftbefehl außer Vollzug setzen. Die Staatsanwaltschaft könne dann ja eine - kaum aussichtsreiche Strafmaßrevision einlegen. Sodann suchte der Vorsitzende den Abteilungsleiter des sachbearbeitenden Staatsanwalts und danach - wegen der urlaubsbedingten Abwesenheit des Leitenden Oberstaatsanwalts - dessen ständigen Vertreter auf. Beide lehnten es ab, dem Staatsanwalt Weisung zu dem Antrag in der Hauptverhandlung oder einer Stellungnahme zum offenen Vollzug zu erteilen.
Der Angeklagte legte am ersten Verhandlungstag, dem 27. September 1989, ein Geständnis entsprechend der Anklageschrift ab. Nach Erörterung der Beweislage verzichtete die Staatsanwaltschaft auf die Vernehmung eines Teils der Zeugen. Die Kammer vertrat die Auffassung, daß man angesichts des umfassenden Geständnisses des Angeklagten keine weiteren Zeugen benötige. Weil der Staatsanwalt anderer Ansicht blieb, wurde im Hinblick auf § 245 StPO Fortsetzungstermin bestimmt. "Auch die Tatsache, daß die Verteidigung dies als Skandal bezeichnete, hat die Kammer nicht dazu bewegen können, entgegen dem Beharren der Staatsanwaltschaft auf der Vernehmung einzelner Zeugen die Beweisaufnahme zu schließen" (dienstliche Erklärung des Beisitzers). Auf Antrag der Verteidigung wurde anschließend der seit 14.Juni 1988 bestehende Haftbefehl in dieser Verhandlung vom 27. September 1989 außer Vollzug gesetzt. Nach einem am 28. September 1989 veröffentlichten Pressebericht hat der Angeklagte in einer Verhandlungspause gegenüber Journalisten geäußert, "daß man ihm ein mildes Urteil - nach einem Jahr Gefängnis, dann Freigang' versprochen habe, wenn er ein Geständnis ablege und für einen kurzen Prozeß sorge. jetzt fühle er sich verschaukelt". Einige Tage später zitierte eine Journalistin den Angeklagten mit den Worten: "Glauben Sie ich hätte sonst gestanden? Sie glauben das doch selbst nicht alles, was da in der Anklageschrift steht. "
Auf Grund der vorgenannten Ereignisse und in Kenntnis des Presseberichts vom 28. September 1989 hat die Staatsanwaltschaft die Berufsrichter mit Gesuch vom gleichen Tage, das am 29. September 1989 bei Gericht eingegangen ist, wegen Besorgnis der Befangenheit abgelehnt, weil, wie nunmehr zur Gewißheit geworden sei, der Vorsitzende " ohne Beteiligung der Staatsanwaltschaft weitestgehende prozeßerledigende Absprachen getroffen hat, daran festhält und damit voreingenommen in die Hauptverhandlung gegangen ist". Die vom Vorsitzenden entwickelte Linie werde von den berufsrichterlichen Beisitzern mitgetragen; sie seien in die Absprachen mit einbezogen. Der Vorsitzende hat sich nicht umfassend dienstlich erklärt, weil sich das Ablehnungsgesuch im wesentlichen auf den Inhalt von Vorgesprächen stütze, die "üblicherweise als vertraulich angesehen werden".
Mit Beschluß vom 9. Oktober 1989 wies die Strafkammer in der Besetzung mit anderen als den abgelehnten Richtern die Befangenheitsanträge als unbegründet zurück. Zur Begründung führte sie u.a. aus: "Die Grenzen, die sich aus der Gewährleistung eines rechtsstaatlichen Verfahrens bei Absprachen zu dem Prozeßverlauf und gegebenenfalls -ergebnis herleiten, sind nicht überschritten worden. Die vorgelegten Erklärungen und Unterlagen reichen nicht zur Glaubhaftmachung dahin aus, daß nach dem Scheitern allseitiger Vorgespräche um eine verfahrensabkürzende Übereinkunft die Kammer unter Nichtbeteiligung der Staatsanwaltschaft verbindliche Absprachen mit der Verteidigung oder dem Angeklagten getroffen hat. ... Der dienstlichen Äußerung des Vorsitzenden ist ausdrücklich zu entnehmen, daß gerade keine endgültige Festlegung der Kammer erfolgt ist. Die Glaubhaftigkeit seiner Äußerung wird nicht dadurch in Frage gestellt, daß der Angeklagte ... subjektiv von einer Festlegung überzeugt gewesen sein (mag)." Auf die Frage nach einer Beteiligung der Schöffen bei der Festlegung der Kammermeinung wird nicht eingegangen.
a) Nach § 24 Abs. 2 StPO kann ein Richter wegen Besorgnis der Befangenheit abgelehnt werden, wenn ein Grund vorliegt, der geeignet ist, Mißtrauen gegen die Unparteilichkeit eines Richters zu rechtfertigen. Das ist der Fall, wenn der Ablehnende bei verständiger Würdigung des ihm bekannten Sachverhalts Grund zu der Annahme hat, der Richter nehme ihm gegenüber eine innere Haltung ein, die dessen Unparteilichkeit und Unvoreingenommenheit störend beeinflussen kann (BGHSt 21, 334 [341]). Danach hat die Beschwerdeführerin den Vorsitzenden und den Berichterstatter mit Recht abgelehnt. Entgegen der Auffassung des Landgerichts kommt es nicht auf eine "verbindliche" Absprache, eine "endgültige" Festlegung an, sondern auf den nach außen deutlich gewordenen Eindruck von der inneren Haltung des Richters.
Die Besorgnis der Staatsanwaltschaft, die beteiligten Richter seien befangen, ist begründet, weil der Vorsitzende im Einvernehmen mit dem Beisitzer vor der Hauptverhandlung ohne Anwesenheit der anderen Verfahrensbeteiligten dem Verteidiger konkret, wenn auch nach außen hin unverbindlich, erklärt hat, welche Strafe bei einem Geständnis des Angeklagten in Betracht kommt. jeder vernünftige Prozeßbeteiligte - einschließlich des Angeklagten -, der zu einem solchen Gespräch außerhalb der Hauptverhandlung nicht hinzugezogen worden ist, kann mit Recht befürchten, daß der Richter im Sinne der dem anderen Verfahrensbeteiligten in seiner Abwesenheit konkret genannten Strafe voreingenommen ist. Nach außen gegebene Hinweise auf eine Unverbindlichkeit oder Vorläufigkeit des Strafmaßes ändern daran nichts. Sie sind nicht geeignet, die Annahme der störend beeinflußten Unvoreingenommenheit des Richters in Frage zu stellen. Entscheidend ist nicht, daß "feste Zusagen" gegeben worden sind, sondern der einem Verfahrensbeteiligten vermittelte Eindruck, daß der Richter mit einer "vorgebildeten Meinung" an der Hauptverhandlung mitwirkt. Das gilt um so mehr, wenn - wie hier - durch Pressionen und durch den tatsächlichen Verfahrensablauf deutlich gemacht wird, daß die beteiligten Richter bemüht sind, die genannten Vorstellungen zu verwirklichen, und wenn der Verdacht besteht, der Richter habe etwas zu verschweigen, weil er sich entgegen seiner dienstlichen Verpflichtung nicht umfassend erklärt (vgl. BGH StV 1984, 318). Die Befangenheit eines Richters kann kaum deutlicher gekennzeichnet werden, als durch ein - die Öffentlichkeit scheuendes - sogenanntes "offenes Wort vor der Verhandlung" nach entsprechenden Vorberatungen der "Kammer" unter Ausschluß der Laienbeisitzer, "welches Strafmaß im Falle einer Verurteilung entsprechend der Anklageschrift ohne bzw. mit Geständnis des Angeklagten zu erwarten" sein werde (dienstliche Erklärung des Beisitzers). Wenn der Verteidiger mit dem Gericht spricht und eine bestimmte Strafe in Aussicht gestellt wird, erweckt das Gericht zumindest den Anschein, daß es sich daran halten wird, daß es gebunden ist. Eine Bindung des Gerichts, sei es auch nur der Anschein einer Bindung, vor dem letzten Wort des Angeklagten bewirkt aber die Befangenheit des Gerichts (Jähnke, Absprachen im Strafprozeß, Bericht über das Symposium am 20./21.11.1986 in Triberg S. 151 f.; vgl. ferner Niemöller StV 1990, 34, 37; Rönnau, Die Absprache im Strafprozeß 1990 S. 243 ff., insbesondere S. 248 f.; Baumann NStZ 1987,157, 160; Schünemann, Gutachten in Verhandlungen des 58. Deutschen Juristentages München 1990 Band I B 117 f.; Rex, DRiZ 1991, 31, 32).
b) Der Senat hat Anlaß, der in der dienstlichen Äußerung des Vorsitzenden zum Ausdruck gebrachten fehlerhaften Auffassung, die Zulässigkeit von Vorgesprächen "dieser Art" sei durch die höchstrichterliche Rechtsprechung ausdrücklich anerkannt, entgegenzutreten. Das gilt auch für die im Vorbringen der Beschwerdeführerin erkennbare Ansicht, eine "Erörterung unter sechs Augen", also mit Beteiligung des Staatsanwalts, sei rechtlich unbedenklich. Vertrauliche, also ohne Mitwirkung aller Prozeßbeteiligten, einschließlich des Angeklagten und der Schöffen, getroffene Absprachen über die Höhe der Strafe bei einem bestimmten Verhalten des Angeklagten widersprechen - ebenso wie alle "Zusagen bezüglich der Strafbemessung" (BGH NStZ 1985, 36, 37) - den geltenden Verfahrensvorschriften. Die vom Gericht in einem Urteil zu verkündende Strafe darf nicht ohne die vom Gesetz gewährten Garantien der Anwesenheit und Mitwirkung aller Verfahrensbeteiligten, der Unmittelbarkeit und Mündlichkeit der Hauptverhandlung sowie nicht unter Umgehung des Öffentlichkeitsgrundsatzes gefunden werden (vgl. etwa Große Strafrechtskommission des Deutschen Richterbundes bei Kintzi JR 1990, 309 ff.; Hassemer JuS 1990, 939 f.).
Welche Strafe angemessen ist, kann das Gericht grundsätzlich erst beurteilen, wenn die Hauptverhandlung ergeben hat, was von dem Vorwurf gegen den Angeklagten in welchem Umfang festgestellt ist, welche Umstände das begangene Unrecht kennzeichnen und welches Maß an Schuld anzunehmen ist. Wenn einzelne oder alle Mitglieder des Gerichts - vor allem über den Kopf eines Verfahrensbeteiligten hinweg - vertrauliche Absprachen für ein abgekürztes Verfahren treffen oder konkret anbieten, erwecken sie den Eindruck, daß ihnen an einer gerechten Abklärung aller für die Schuld und Strafe bedeutsamen Umständen nichts gelegen ist.
Dem Richter ist es nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs nicht verwehrt, zur Förderung des Verfahrens - häufig zur Vorbereitung der Sitzung - mit den Prozeßbeteiligten auch außerhalb der Hauptverhandlung Fühlung aufzunehmen und eine sachgerechte Antragstellung anzuregen. Dabei muß er die gebotene Zurückhaltung wahren, um jeden Anschein der Parteilichkeit zu vermeiden (BGH, Beschl. vom 4. Mal 1977 3 StR 93/77; BGH NStZ 1985, 36, 37; BGHR StPO § 24 Abs. 2 Befangenheit 1). Solche Fühlungnahmen dürfen aber nur - wenn auch insoweit mit allen denkbaren Fragen - den Verfahrensablauf, einschließlich eventueller Anregungen zu §§ 154, 154a StPO, nicht die Festlegung einer zu verhängenden Strafe oder deren Aussetzung zur Bewährung betreffen, schon gar nicht die Art und Weise des Strafvollzugs.
Entgegen der im Zurückweisungsbeschluß des Landgerichts geäußerten Ansicht gibt es kein "rechtsstaatliches Verfahren bei Absprachen zu dem Prozeßergebnis"; vielmehr ist es dem Gericht untersagt, "sich auf einen 'Vergleich' im Gewande des Urteils, auf einen 'Handel mit der Gerechtigkeit' einzulassen" (BVerfG wistra 1987, 134). Der Entscheidung in BGHSt 36, 210 [214] kann nichts anderes entnommen werden.