BVerfGE 30, 1 - Abhörurteil |
1. Wenn dem Betroffenen die Möglichkeit, sich gegen den Vollzugsakt zu wenden, verwehrt ist, weil er von dem Eingriff in seine Rechte nichts erfährt, muß ihm die Verfassungsbeschwerde unmittelbar gegen das Gesetz ebenso zustehen wie in den Fällen, in denen aus anderen Gründen eine Verfassungsbeschwerde gegen den Vollzugsakt nicht möglich ist. |
2. Art. 10 Abs. 2 Satz 2 GG kann im Hinblick auf den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit nur so verstanden werden, daß der die nachträgliche Benachrichtigung des Überwachten fordert in den Fällen, in denen eine Gefährdung des Zweckes der Überwachungsmaßnahme und eine Gefährdung des Schutzes der freiheitlichen demokratischen Grundordnung oder des Bestandes oder der Sicherung des Bundes oder eines Landes ausgeschlossen werden kann. |
3. Art. 10 Abs. 2 Satz 2 GG fordert in Rücksicht auf den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, daß das Gesetz zu Art. 10 GG die Zulässigkeit des das Eingriffs in das Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnis beschränken muß auf den Fall, daß konkrete Umstände den Verdacht eines verfassungsfeindlichen Verhaltens rechtfertigen und daß dem verfassungsfeindlichen Verhalten im konkreten Fall nach Erschöpfung anderer Möglichkeiten der Aufklärung nur durch den Eingriff in das Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnis beigekommen werden kann. |
Das Verfassungsgebot der Beschränkung der Überwachungsmaßnahmen auf das unumgänglich Notwendige schließt nicht aus, daß die Überwachung auf Nachrichtenverbindungen einer dritten Person erstreckt wird, von denen anzunehmen ist, daß sie für Zwecke des Verdächtigen benutzt werden. |
4. Art. 10 Abs. 2 Satz 2 GG verlangt, daß das Gesetz zu Art. 10 GG eine Nachprüfung vorsehen muß, die materiell und verfahrensmäßig der gerichtlichen Kontrolle gleichwertig ist, auch wenn der Betroffene keine Gelegenheit hat, in diesem "Ersatzverfahren" mitzuwirken. |
5. Art. 79 Abs. 3 GG verbietet eine prinzipielle Preisgabe der dort genannten Grundsätze, hindert jedoch nicht, durch verfassungsänderndes Gesetz auch elementare Verfassungsgrundsätze systemimmanent zu modifizieren. |
6. Die Behandlung des Menschen durch die öffentliche Hand, die das Gesetz vollzieht, muß, wenn sie die Menschenwürde berühren soll, Ausdruck der Verachtung des Wertes, der dem Menschen kraft seines Personseins ankommt, sein. |
7. Das Prinzip der Gewaltenteilung erlaubt, daß Rechtsschutz gegenüber Maßnahmen der Exekutive ausnahmsweise nicht durch Gerichte, sondern durch vom Parlament bestellte oder gebildete unabhängige Institutionen innerhalb des Funktionsbereichs der Exekutive gewährt wird. |
8. Auch eine Mehrheit des Parlaments kann ihre Rechte mißbrauchen. Eine Fraktion oder Koalition, die das in § 9 Abs. 1 G 10 vorgesehene Gremium einseitig besetzt und auf die einseitige Besetzung der in § 9 Abs. 3 G 10 vorgesehenen Kommission hinwirken würde, würde im Zweifel mißbräuchlich verfahren. |
Urteil |
des Zweiten Senats vom 15. Dezember 1970 auf die mündliche Verhandlung vom 7. Juli 1970 |
– 2 BvF 1/69, 2 BvR 629/68 und 308/69 – |
in dem Verfahren ... ... |
Entscheidungsformel: |
I. 1. § 1 Nr. 2, soweit er Artikel 10 des Grundgesetzes ergänzt, und § 1 Nr. 6 des Siebzehnten Gesetzes zur Ergänzung des Grundgesetzes vom 24. Juni 1968 (Bundesgesetzbl. I S. 709) – Artikel 10 Absatz 2 Satz 2 und Artikel 19 Absatz 4 Satz 3 des Grundgesetzes neuer Fassung – sind in der sich aus den Gründen ergebenden Auslegung mit Artikel 79 Absatz 3 des Grundgesetzes vereinbar. |
2. Artikel 1 § 9 Absatz 5 des Gesetzes zur Beschränkung des Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnisses vom 13. August 1968 (Bundesgesetzbl. I S. 949) ist mit dem Grundgesetz vereinbar. |
II. 1. Artikel 1 § 5 Absatz 5 des Gesetzes zur Beschränkung des Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnisses vom 13. August 1968 (Bundesgesetzbl. I S. 949) ist mit Artikel 10 Absatz 2 Satz 2 des Grundgesetzes insoweit nicht vereinbar und deshalb nichtig, als er die Unterrichtung des Betroffenen über Beschränkungsmaßnahmen auch ausschließt, wenn sie ohne Gefährdung des Zweckes der Beschränkung erfolgen kann. |
2. Im übrigen werden die Verfassungsbeschwerden zurückgewiesen. |
Gründe: |
A. – I. |
1. Das Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnis war nach Art. 10 GG a.F. mit der Maßgabe unverletzlich, daß Beschränkungen nur auf Grund eines Gesetzes angeordnet werden durften.
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Nach 1945 haben zunächst die Besatzungsmächte auf Grund des Besatzungsrechts und nach Gründung der Bundesrepublik Deutschland die Drei Westmächte auf Grund des Besatzungsstatuts den Brief-, Post- und Fernmeldeverkehr überwacht. Auch nach der Herstellung der Souveränität der Bundesrepublik Deutschland am 5. Mai 1955 behielten sich die Drei Mächte die Ausübung dieses Rechtes vor. Allerdings erklärten sie, daß die Vorbehaltsrechte erlöschen sollten, "sobald die zuständigen deutschen Behörden entsprechende Vollmachten durch die deutsche Gesetzgebung erhalten haben" (Art. 5 Abs. 2 des Deutschlandvertrages vom 26. Mai 1952).
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2. Mit dem Ziel, die Vorbehaltsrechte abzulösen, wurde Art. 10 GG in der Weise geändert, daß unter bestimmten Voraussetzungen Beschränkungen des Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnisses auch ohne Bekanntgabe an den Betroffenen und unter Ausschluß des Rechtswegs vorgenommen werden dürfen.
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§ 1 des Siebzehnten Gesetzes zur Ergänzung des Grundgesetzes vom 24. Juni 1968 (BGBl. I S. 709) lautet auszugsweise:
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"Das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland vom 23. Mai 1949 (Bundesgesetzbl. S. 1) wird wie folgt ergänzt: ... 2. Artikel 10 erhält folgende Fassung: |
"Artikel 10
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(1) Das Briefgeheimnis sowie das Post- und Fernmeldegeheimnis sind unverletzlich. (2) Beschränkungen dürfen nur auf Grund eines Gesetzes angeordnet werden. Dient die Beschränkung dem Schutze der freiheitlichen demokratischen Grundordnung oder des Bestandes oder der Sicherung des Bundes oder eines Landes, so kann das Gesetz bestimmen, daß sie dem Betroffenen nicht mitgeteilt wird und daß an die Stelle des Rechtsweges die Nachprüfung durch von der Volksvertretung bestellte Organe und Hilfsorgane tritt." ... 6. Artikel 19 Abs. 4 wird durch folgenden Satz ergänzt: "Art. 10 Abs. 2 Satz 2 bleibt unberührt." ..." |
3. Im einzelnen regelt das Gesetz zur Beschränkung des Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnisses (Gesetz zu Artikel 10 Grundgesetz) (G 10) vom 13. August 1968 (BGBl. I S. 949) die Eingriffsmöglichkeiten und das Verfahren.
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a) Art. 1 § 1 G 10 lautet:
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"(1) Zur Abwehr von drohenden Gefahren für die freiheitliche demokratische Grundordnung oder den Bestand oder die Sicherheit des Bundes oder eines Landes einschließlich der Sicherheit der in der Bundesrepublik Deutschland stationierten Truppen der nichtdeutschen Vertragsstaaten des Nordatlantikvertrages oder der im Land Berlin anwesenden Truppen einer der Drei Mächte sind die Verfassungsschutzbehörden des Bundes und der Länder, das Amt für Sicherheit der Bundeswehr und der Bundesnachrichtendienst berechtigt, dem Brief-, Post- oder Fernmeldegeheimnis unterliegende Sendungen zu öffnen und einzusehen, sowie den Fernschreibverkehr mitzulesen, den Fernmeldeverkehr abzuhören und auf Tonträger aufzunehmen. (2) Die Deutsche Bundespost hat der berechtigten Stelle auf Anordnung Auskunft über den Post- und Fernmeldeverkehr zu erteilen, Sendungen, die ihr zur Übermittlung auf dem Post- und Fernmeldeweg anvertraut sind, auszuhändigen, sowie das Abhören des Fernsprechverkehrs und das Mitlesen des Fernschreibverkehrs zu ermöglichen." |
Nach Art. 1 § 2 G 10 dürfen Beschränkungen nach § 1 angeordnet werden, wenn "tatsächliche Anhaltspunkte für den Verdacht bestehen, daß jemand" Straftaten des Friedensverrats oder des Hochverrats, der Gefährdung des demokratischen Rechtsstaates, des Landesverrats und der Gefährdung der äußeren Sicherheit, Straftaten gegen die Landesverteidigung oder Straftaten gegen die Sicherheit der in der Bundesrepublik Deutschland stationierten Truppen der nichtdeutschen Vertragsstaaten des Nordatlantikvertrages oder der im Land Berlin anwesenden Truppen "plant, begeht oder begangen hat". Die Anordnung ist nur zulässig, wenn die Erforschung des Sachverhalts auf andere Weise aussichtslos oder wesentlich erschwert wäre. Art. 1 § 2 Abs. 2 Satz 2 G 10 bestimmt:
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"Sie (die Anordnung) darf sich nur gegen den Verdächtigen oder gegen Personen richten, von denen auf Grund bestimmter Tatsachen anzunehmen ist, daß sie für den Verdächtigen bestimmte oder von ihm herrührende Mitteilungen entgegennehmen oder weitergeben oder daß der Verdächtige ihren Anschluß benutzt."
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Nach Art. 1 § 4 G 10 dürfen Beschränkungen nach § 1 nur auf Antrag angeordnet werden. Antragsberechtigt sind im Rahmen ihres Geschäftsbereiches in den Fällen des § 2 die Präsidenten des Bundesamtes für Verfassungsschutz, der Verfassungsschutzbehörden der Länder, des Amtes für Sicherheit der Bundeswehr und des Bundesnachrichtendienstes oder ihre Stellvertreter.
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Zuständig für die Anordnung nach § 1 ist bei Anträgen der Verfassungsschutzbehörden der Länder die zuständige oberste Landesbehörde, im übrigen ein vom Bundeskanzler beauftragter Bundesminister. Die Anordnung ist auf höchstens drei Monate zu befristen. Verlängerungen um jeweils nicht mehr als drei weitere Monate sind auf Antrag zulässig, soweit die Voraussetzungen der Anordnung fortbestehen (Art. 1 § 5 Abs. 1 und 3 G 10).
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Art. 1 § 5 Abs. 5 G 10 bestimmt:
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"Über Beschränkungsmaßnahmen ist der Betroffene nicht zu unterrichten."
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§§ 6, 7 und 8 des Art. 1 G 10 enthalten nähere Vorschriften über das Verfahren bei Durchführung der Beschränkungsmaßnahmen.
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Art. 1 § 9 G 10 lautet:
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"(1) Der nach § 5 Abs. 1 für die Anordnung von Beschränkungsmaßnahmen zuständige Bundesminister unterrichtet in Abständen von höchstens sechs Monaten ein Gremium, das aus fünf vom Bundestag bestimmten Abgeordneten besteht, über die Durchführung dieses Gesetzes. (2) Der zuständige Bundesminister unterrichtet monatlich eine Kommission über die von ihm angeordneten Beschränkungsmaßnahmen. Die Kommission entscheidet von Amts wegen oder auf Grund von Beschwerden über die Zulässigkeit und Notwendigkeit von Beschränkungsmaßnahmen. Anordnungen, die die Kommission für unzulässig oder nicht notwendig erklärt, hat der zuständige Bundesminister unverzüglich aufzuheben. (3) Die Kommission besteht aus dem Vorsitzenden, der die Befähigung zum Richteramt besitzen muß, und zwei Beisitzern. Die Mitglieder der Kommission sind in ihrer Amtsführung unabhängig und Weisungen nicht unterworfen. Sie werden von dem in Absatz 1 genannten Gremium nach Anhörung der Bundesregierung für die Dauer einer Wahlperiode des Bundestages bestellt. Die Kommission gibt sich eine Geschäftsordnung, die der Zustimmung des in Absatz 1 genannten Gremiums bedarf. Vor der Zustimmung ist die Bundesregierung zu hören. (4) Durch den Landesgesetzgeber wird die parlamentarische Kontrolle der nach § 5 Abs. 1 für die Anordnung von Beschränkungsmaßnahmen zuständigen obersten Landesbehörden und die Überprüfung der von ihnen angeordneten Beschränkungsmaßnahmen geregelt. (5) Im übrigen ist gegen die Anordnung von Beschränkungsmaßnahmen und ihren Vollzug der Rechtsweg nicht zulässig." |
b) Art. 2 G 10 regelt durch Ergänzung der Strafprozeßordnung die Zulässigkeit der Überwachung und Aufnahme des Fernmeldeverkehrs auf Tonträger im Strafverfahren. Die Überwachung darf angeordnet werden, wenn bestimmte Tatsachen den Verdacht begründen, daß jemand als Täter oder Teilnehmer eine der in § 100 a Nr. 1 StPO n.F. genannten politischen Straftaten oder einen Mord, einen Totschlag, ein Münzverbrechen, einen Raub, eine räuberische Erpressung, einen Menschenraub, eine Verschleppung, eine erpresserische Kindesentführung, einen Mädchenhandel, ein gemeingefährliches Verbrechen im Sinne des § 138 des Strafgesetzbuches oder eine Erpressung begangen oder in Fällen, in denen der Versuch strafbar ist, zu begehen versucht oder durch eine mit Strafe bedrohte Handlung vorbereitet hat, und wenn die Erforschung des Sachverhalts oder die Ermittlung des Aufenthaltsortes des Beschuldigten auf andere Weise aussichtslos oder wesentlich erschwert wäre (§ 100 a StPO in der Fassung des Art. 2 Nr. 2 G 10).
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§ 100 a StPO letzter Satz in der Fassung des Art. 2 Nr. 2 G 10 bestimmt:
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"Die Anordnung darf sich nur gegen den Beschuldigten oder gegen Personen richten, von denen auf Grund bestimmter Tatsachen anzunehmen ist, daß sie für den Beschuldigten bestimmte oder von ihm herrührende Mitteilungen entgegennehmen oder weitergeben oder daß der Beschuldigte ihren Anschluß benutzt."
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Die Überwachung und die Aufnahme des Fernmeldeverkehrs auf Tonträger dürfen nur durch den Richter angeordnet werden. Bei Gefahr im Verzug kann die Anordnung auch von der Staatsanwaltschaft getroffen werden. Die Anordnung der Staatsanwaltschaft tritt außer Kraft, wenn sie nicht binnen drei Tagen von dem Richter bestätigt worden ist (§ 100 b Abs. 1 StPO in der Fassung des Art. 2 Nr. 2 G 10).
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§ 101 Abs. 1 StPO erhielt durch Art. 2 Nr. 3 G 10 die folgende Fassung:
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"Von den getroffenen Maßregeln (§§ 99, 100, 100 a, 100 b) sind die Beteiligten zu benachrichtigen, sobald dies ohne Gefährdung des Untersuchungszwecks geschehen kann."
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4. In den Bundesländern sind auf Grund des Art. 1 § 9 Abs. 4 G 10 ergänzende Gesetze erlassen worden.
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Die Drei Westmächte haben sich am 27. Mai 1968 mit dem Erlöschen ihrer Vorbehaltsrechte einverstanden erklärt (BTDrucks. V/2942).
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II. |
1. Die Regierung des Landes Hessen, vertreten durch den Ministerpräsidenten, hat mit Schriftsatz von 29. September 1969 beantragt, das Bundesverfassungsgericht möge im Verfahren der abstrakten Normenkontrolle feststellen:
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"(1) § 1 Nr. 2 – soweit er durch die Ergänzung des Art. 10 des Grundgesetzes um Abs. 2 Satz 2 zweiten Halbsatz anstelle des Rechtswegs die Nachprüfung durch von der Volksvertretung bestellte Organe zuläßt – und § 1 Nr. 6 des Siebzehnten Gesetzes zur Ergänzung des Grundgesetzes vom 24. Juni 1968 (BGBl. I S. 709) verstoßen gegen Art. 79 Abs. 3 in Verbindung mit Art. 1 und 20 des Grundgesetzes und sind nichtig. (2) § 9 Abs. 5 des Gesetzes zur Beschränkung des Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnisses (Gesetz zu Artikel 10 Grundgesetz) (G 10) vom 13. August 1968 (BGBl. I S. 949) verstößt gegen Art. 19 Abs. 4 des Grundgesetzes und ist nichtig." |
2. Zur Begründung trägt die Antragstellerin vor:
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a) Die Würde des Menschen fordere, daß über sein Recht nicht kurzerhand von Obrigkeits wegen verfügt werde. In besonders starkem Maße werde in die Würde des Menschen eingegriffen, wenn eine Person Objekt behördlicher Maßnahmen werden könne, ohne daß vorher oder nachher ein Richter über die Zulässigkeit dieser Maßnahmen entscheide. Ein solcher Eingriff erhalte besonderes Gewicht, wenn er den Kernbereich der Privatsphäre des Bürgers berühre, zu deren Schutz das Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnis in den Rang eines Grundrechts erhoben worden sei. Normen, die derartige Eingriffe zuließen, verletzten Art. 1 Abs. 1 GG und könnten daher nach Art. 79 Abs. 3 GG auch nicht im Wege einer formellen Änderung der Verfassung rechtens werden.
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b) Zu den durch Art. 79 Abs. 3 GG in Verbindung mit Art. 20 GG für unantastbar erklärten Verfassungsgrundlagen der Bundesrepublik Deutschland gehöre das Rechtsstaatsprinzip. Für den Rechtsstaat des Grundgesetzes sei die Verbürgung möglichst lückenlosen Rechtsschutzes durch Art. 19 Abs. 4 GG von entscheidender Bedeutung. Das Prinzip lückenlosen Rechtsschutzes verlange aber gerade im Grundrechtsbereich strenge Beachtung. Durch die beanstandete Verfassungsänderung sei zum ersten Male mit dem Ausschluß des Rechtswegs für einen Teilbereich staatlichen Handelns das vom Grundgesetz geforderte Fortschreiten auf dem Weg zu einer immer wirksameren Verwirklichung des Rechtsstaates unterbrochen und bewußt ein erster Schritt zurück getan worden.
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c) Die Ersetzung der richterlichen Kontrolle durch eine parlamentarische Überwachung verletze weiter den von Art. 20 GG verbürgten und von Art. 79 Abs. 3 GG für unantastbar erklärten Grundsatz der Gewaltenteilung. Die angegriffenen Normen wirkten im Grundsatz dem Ziel der Gewaltenteilung entgegen.
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d) Der Ausschluß des Rechtswegs gegen Maßnahmen der Brief-, Post- und Fernmeldeüberwachung könne weder aus der Natur der Sache noch aus dem Zusammenhang mit der Ablösung der alliierten Vorbehaltsrechte gerechtfertigt werden. Der Einwand, der Eingriffstatbestand sei nicht justitiabel, überzeuge nicht. Durch geeignete Gerichtsorganisation könne sichergestellt werden, daß die zuständigen Spruchkörper die erforderliche Erfahrung auf diesem Gebiet sammelten. Den Gerichten würden auch bei ihrer Kontrolle keine schwierigeren Entscheidungen abverlangt als der Exekutive bei der Anordnung und der parlamentarischen Kommission bei der Überprüfung einer Überwachungsmaßnahme. Die gerichtliche Kontrolle könne auch nicht mit der Begründung abgelehnt werden, daß dann die notwendige Geheimhaltung des Verfahrens gefährdet sei. Die Rechtsprechung in Staatsschutzsachen zeige, daß es möglich sei, geordnete Gerichtsverfahren unter Wahrung der für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland notwendigen Geheimhaltung durchzuführen. Schließlich könne der Ausschluß des Rechtswegs nicht mit der Überlegung gerechtfertigt werden, daß nur um diesen Preis die angestrebte Ablösung der alliierten Vorbehaltsrechte zu erreichen gewesen wäre.
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3. Zur Unterstützung ihrer Rechtsauffassung hat die Antragstellerin Gutachten der Professoren Dürig und Evers vorgelegt.
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Im Gutachten Dürig ist zur Frage des Ausschlusses der Benachrichtigung insbesondere ausgeführt: Ein totaler Ausschluß der Benachrichtigung verletze den Rechtsstaatsgrundsatz in seinem Kern. Die vorhandene Regelung verfahre mit dem Bürger derart, daß er in das Verfahren überhaupt nicht einbezogen werde. Das sei ein geradezu typischer Fall dafür, daß der Mensch in seiner Würde getroffen werde, indem man ihn "zum Objekt" staatlichen Geschehens mache. Im übrigen dürfe die Regelung nicht isoliert betrachtet werden. Erst in der Zusammenschau von Benachrichtigungs- und Rechtswegausschluß werde klar, daß beide zusammen folgerichtig dem Zweck dienten, die Eingriffe in die Privatsphäre des Bürgers unter absoluter Geheimhaltung vollziehen zu können. Denknotwendig müsse also jeder, der gegen den Ausschluß des Rechtswegs angehe, als Prämisse des individuellen Rechtsschutzes zuvor den Ausschluß der Benachrichtigung bekämpfen.
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III. |
Eine Gruppe Mannheimer Richter und Rechtsanwälte (Beschwerdeführer zu 2) und ein Frankfurter Rechtsanwalt und Notar (Beschwerdeführer zu 3) haben unmittelbar gegen Bestimmungen des Siebzehnten Gesetzes zur Ergänzung des Grundgesetzes und des Gesetzes zu Art. 10 Grundgesetz Verfassungsbeschwerde erhoben.
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1. Die am 1. November 1968 eingegangene Verfassungsbeschwerde der Beschwerdeführer zu 2) richtet sich gegen die Art. 10 Abs. 2 Satz 2, 19 Abs. 4 Satz 3 GG in der Fassung des Siebzehnten Gesetzes zur Ergänzung des Grundgesetzes und gegen die §§ 5 Abs. 5 und 9 Abs. 5 des Gesetzes zur Beschränkung des Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnisses. Die Beschwerdeführer rügen die Verletzung der Art. 1 Abs. 1, 10 Abs. 1, 19 Abs. 4, 101 Abs. 1 Satz 2 und 103 Abs. 1 GG.
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Zur Begründung ihrer Verfassungsbeschwerde unmittelbar gegen die Gesetze tragen sie vor:
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a) Die angegriffenen Bestimmungen verletzten sie gegenwärtig und unmittelbar in ihren oben angeführten Grundrechten. Es sei ihnen nicht bekannt, ob gegen sie eine Maßnahme nach dem Gesetz zur Beschränkung des Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnisses bereits angeordnet sei. Gemäß § 5 Abs. 5 G 10 erführen sie von einer derartigen Maßnahme weder vor noch während noch nach ihrer Durchführung etwas. Die Grundrechtsverletzung liege daher unmittelbar in der Inkraftsetzung der angefochtenen Bestimmungen.
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b) Dadurch, daß mit der richterlich nicht nachprüfbaren Begründung, eine Beschränkungsmaßnahme diene dem Schutze der freiheitlichen demokratischen Grundordnung oder des Bestandes oder der Sicherung des Bundes oder eines Landes, jederzeit die Überwachung des Brief-, Post- und Fernmeldeverkehrs angeordnet und durchgeführt werden könne, werde das Grundrecht des Art. 10 Abs. 1 GG in seinem Wesensgehalt angetastet. Die vorgesehene Nachprüfung durch von der Volksvertretung bestellte Organe und Hilfsorgane sei nicht geeignet, willkürliche Eingriffe in das Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnis zu unterbinden. Der Ausschluß des Rechtswegs gegen Maßnahmen der Brief-, Post- und Fernmeldeüberwachung verstoße weiter gegen die Rechtsweggarantie des Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG und damit gegen die gemäß Art. 79 Abs. 3 GG nicht zur Disposition des Verfassunggebers stehende, aus Art. 20 GG zu entnehmende Rechtsstaatsgarantie. Schließlich verletze der Ausschluß des Rechtswegs die Grundrechte der Beschwerdeführer auf Gewährung rechtlichen Gehörs und entziehe sie ihrem gesetzlichen Richter.
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Weil die Ermächtigungsnorm des Art. 10 Abs. 2 Satz 2 GG verfassungswidrig sei, könne hierauf der Ausschluß der Mitteilung einer Beschränkungsmaßnahme an den Betroffenen nicht gestützt werden. Der Ausschluß der Benachrichtigung, wie ihn § 5 Abs. 5 G 10 vorsehe, verstoße aber auch gegen Art. 10 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 19 Abs. 2 GG: Werde eine Beschränkungsmaßnahme dem Betroffenen weder nach Art noch nach Umfang noch nach Dauer mitgeteilt, so entfalle die Möglichkeit der Nachprüfung, ob dieser Eingriff entsprechend Art. 10 Abs. 2 Satz 2 GG überhaupt dem Schutz der dort genannten Rechtsgüter diene und ob er nicht in einem Umfang vorgenommen werde, der das Grundrecht für den Betroffenen gänzlich beseitige. Der Ausschluß der Benachrichtigung des Betroffenen verletze schließlich Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG und Art. 103 Abs. 1 GG. Die Verfassungsgarantie lückenlosen Rechtsschutzes setze voraus, daß der Betroffene von den gegen ihn gerichteten Beschränkungsmaßnahmen Kenntnis erhalte, da er anders sein Grundrecht aus Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG nicht verwirklichen könne.
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2. Mit seiner am 6. Juni 1969 eingegangenen Verfassungsbeschwerde wendet sich der Beschwerdeführer zu 3) gegen
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(1) Art. 10 Abs. 2 Satz 2, Art. 19 Abs. 4 Satz 3 des Grundgesetzes in der Fassung des Siebzehnten Gesetzes zur Ergänzung des Grundgesetzes, (2) § 2 Abs. 2 Satz 2, § 5 Abs. 5, § 9 Abs. 5 des Gesetzes zur Beschränkung des Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnisses, (3) § 100 a Satz 2 StPO, |
soweit in diesen Vorschriften normiert wird
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(1) die Ermächtigung zur Nichtmitteilung einer Beschränkung und zum Ausschluß des Rechtswegs, (2) die Nichtmitteilung von Beschränkungsmaßnahmen und der Ausschluß des Rechtswegs, (3) die allgemeine Zulässigkeit von Beschränkungsanordnungen gegenüber Personen, von denen auf Grund bestimmter Tatsachen anzunehmen ist, daß sie für den Verdächtigen oder Beschuldigten bestimmte oder von ihm herrührende Mitteilungen entgegennehmen oder weitergeben oder daß der Verdächtige oder Beschuldigte ihren Anschluß benutzt. |
Der Beschwerdeführer rügt die Verletzung der Art. 1 Abs. 1, 12 Abs. 1, 19 Abs. 4, 101 Abs. 1 und 103 Abs. 1 GG. Er trägt vor:
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a) Weil er ein bekannter Strafverteidiger sei, setzten sich Personen, denen Straftaten aus dem Bereich des alten § 100 e StGB (landesverräterischer Nachrichtendienst) oder der §§ 81 ff. StGB n.F. zur Last gelegt würden, mit ihm in Verbindung. Unter diesen Umständen könnten die zuständigen Dienststellen immer davon ausgehen, daß bestimmte Tatsachen für die Annahme vorlägen, er – der Beschwerdeführer – nehme für den Verdächtigen bestimmte oder von ihm herrührende Mitteilungen entgegen, gebe sie weiter oder lasse den Verdächtigen seinen Anschluß benutzen.
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Die Gefahr, am Telefon und in der Korrespondenz kontrolliert zu werden, berühre ihn im übrigen auch als Mitglied seiner Anwaltssozietät und die Sozietät als solche. Der Bestand der Sozietät werde gefährdet.
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b) Zu seinen Einwendungen gegen §§ 5 Abs. 5 und 9 Abs. 5 G 10 trägt der Beschwerdeführer zu 3) im wesentlichen dieselben Gründe wie die Beschwerdeführer zu 2) vor. Im übrigen macht er noch geltend:
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§ 2 Satz 2 G 10 und § 100 a Satz 2 StPO in der Fassung des Gesetzes zu Art. 10 Grundgesetz verletzten seine Grundrechte aus Art. 12 Abs. 1 GG. Die angefochtenen Bestimmungen, welche eine Überwachung seines Telefonanschlusses und seiner Korrespondenz auch dann ermöglichten, wenn er nicht selbst Verdächtiger im Sinne des Art. 1 G 10 oder Beschuldigter im Sinne des § 100 a StPO sei, tangierten zwar nicht das Recht der freien Berufswahl, regelten aber in verfassungsrechtlich unzulässiger Weise die freie Ausübung des Anwaltsberufes.
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IV. |
1. a) Bundesregierung, Bundesrat und Bundestag haben beschlossen, zu dem Antrag der Hessischen Landesregierung im Verfahren der abstrakten Normenkontrolle eine Stellungnahme nicht abzugeben.
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b) Der Senat der Freien Hansestadt Bremen hat mitgeteilt, er schließe sich der Auffassung der Hessischen Landesregierung an.
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2. Zu den Verfassungsbeschwerden hat der Bundesminister des Innern für die Bundesregierung noch in der 5. Legislaturperiode Stellung genommen. Er hält die Verfassungsbeschwerden für zulässig, sachlich aber nicht für begründet und macht geltend:
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Die Überwachung des Brief-, Post- und Fernmeldeverkehrs zum Schutze der freiheitlichen demokratischen Grundordnung oder des Bestandes oder der Sicherung des Bundes oder eines Landes würde ihren Zweck von vornherein verfehlen, wenn sie den Betroffenen bekanntgegeben würde. Dies ergebe sich aus dem Wesen derartiger Überwachungsmaßnahmen außerhalb des Strafverfahrens. Beschränkungen dieser Art dienten lediglich der Sammlung von Nachrichten über verfassungsfeindliche Bestrebungen, ohne den Einzelnen direkt zu berühren. Die in Art. 10 Abs. 2 Satz 2 GG statuierte Nichtbenachrichtigung von Beschränkungsmaßnahmen stehe mit den Grundprinzipien des Art. 79 Abs. 3 GG in Einklang. Dasselbe gelte für den Ausschluß des Rechtswegs durch Art. 10 Abs. 2 Satz 2 GG.
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Das Rechtsstaatsprinzip insbesondere fordere lediglich einen wirksamen Rechtsschutz, der aber nicht stets Gerichtsschutz sein müsse. Das in § 9 G 10 sehr differenziert geregelte Rechtsschutzverfahren erfülle diese Voraussetzungen und stehe einem Gerichtsverfahren kaum nach.
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Der in Art. 10 Abs. 2 Satz 2 GG ermöglichte, verfassungsrechtlich bedenkenfreie Ausschluß des Rechtswegs sei aus der Natur der Sache auch notwendig.
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§ 2 Abs. 2 Satz 2 G 10 und § 100 a Satz 2 StPO in der Fassung des Gesetzes zu Art. 10 Grundgesetz seien, selbst wenn man davon ausgehen wollte, daß diese Bestimmungen potentiell einen Eingriff in die berufliche Betätigung des Beschwerdeführers als Rechtsanwalt darstellten, durch vernünftige Erwägungen des Gemeinwohls gerechtfertigt. Die im Gesetz vorgesehene Zulassung von Beschränkungsmaßnahmen gegen nicht verdächtige und nicht beschuldigte Personen sei von der Sache her zwingend geboten.
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V. |
Der Senat hat den Antrag der Regierung des Landes Hessen und die Verfassungsbeschwerden der Beschwerdeführer zu 2) und 3) zur gemeinsamen Verhandlung und Entscheidung verbunden.
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B. – I. |
Gegen die Zulässigkeit des Normenkontrollverfahrens bestehen keine Bedenken.
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In der Sache besteht zwischen beiden Maßnahmen ein unlösbarer Zusammenhang. Der Rechtsweg ist praktisch bereits ausgeschlossen, wenn die Maßnahme, die nach dem Stand der modernen Technik so vorgenommen werden kann, daß der Betroffene davon nichts merkt, weder vorher noch nachher mitgeteilt wird. Ein Antrag, der sich gegen den Ausschluß des Rechtswegs richtet, richtet sich also notwendig auch gegen den Ausschluß der Benachrichtigung. Der Antrag der Hessischen Landesregierung kann deswegen, ohne daß der Wortlaut entscheidend ist, nur als gegen den gesamten Inhalt der Norm des Art. 10 Abs. 2 Satz 2 GG gerichtet angesehen werden; so sind auch die in der mündlichen Verhandlung abgegebenen Erklärungen aufzufassen, bei der insbesondere die Ausführungen des Gutachtens Dürig aufrechterhalten wurden. Es bedarf also keiner Untersuchung, ob Art. 10 Abs. 2 Satz 2 GG als einheitliche Norm, die nur als Ganzes beurteilt werden kann, anzusehen ist, mit der Wirkung, daß ein auf einen Teil derselben beschränkter Antrag unzulässig wäre.
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II. |
1. Die Verfassungsbeschwerden gegen das Gesetz zu Art. 10 Grundgesetz sind zulässig.
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Voraussetzung einer Verfassungsbeschwerde gegen ein Gesetz ist die Behauptung, daß der Beschwerdeführer selbst, gegenwrtig und unmittelbar durch das Gesetz und nicht erst mit Hilfe eines Vollzugsaktes in einem Grundrecht verletzt sei (BVerfGE 1, 97 [101 ff.]; 20, 283 [290] mit weiteren Nachweisen). Diese Voraussetzungen liegen nicht vor. Die Beschwerdeführer werden nach ihrem Vortrag erst durch einen Akt der vollziehenden Gewalt in ihren Grundrechten verletzt. Die Möglichkeit, sich gegen den Vollzugsakt zu wenden, ist den Betroffenen jedoch verwehrt, weil sie von dem Eingriff in ihre Rechte nichts erfahren. In solchen Fällen muß den Betroffenen die Verfassungsbeschwerde unmittelbar gegen das Gesetz ebenso zustehen wie in den Fällen, in denen aus anderen Gründen eine Verfassungsbeschwerde gegen den Vollzugsakt nicht möglich ist (BVerfGE 6, 290 [295]).
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2. Die Beschwerdeführer greifen auch die Änderung des Art. 10 GG unmittelbar an. Insofern fehlt es allerdings an der unmittelbaren Betroffenheit, da Art. 10 Abs. 2 Satz 2 GG zunächst einer Ausführung durch einfaches Gesetz bedarf. Die Gültigkeit der §§ 5 Abs. 5 und 9 Abs. 5 G 10 hängt indessen von der Zulässigkeit der Verfassungsänderung ab, die deshalb schon auf Grund der zulässigerweise gegen das Gesetz zu Art. 10 Grundgesetz erhobenen Verfassungsbeschwerde nachzuprüfen ist. Die gegen Art. 10 Abs. 2 Satz 2 GG geltend gemachten Einwendungen sind unter diesen Umständen nicht als selbständige Verfassungsbeschwerden, deren Zulässigkeit gesondert festzustellen wäre, sondern als Anregung zur inzidenten Nachprüfung der Zulässigkeit der Verfassungsänderung zu werten.
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C. – I. |
Die Entscheidung über die Vereinbarkeit des Art. 10 Abs. 2 Satz 2 GG, der durch das verfassungsändernde Gesetz eingefügt wurde, mit Art. 79 Abs. 3 GG setzt die Auslegung beider Vorschriften voraus.
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1. Die Auslegung des Art. 10 Abs. 2 Satz 2 GG ergibt folgendes:
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a) Das Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnis war von Anfang an im Grundgesetz nicht vorbehaltlos geschützt; vielmehr waren immer schon Beschränkungen zulässig – Beschränkungen, die in jedem Fall einer gesetzlichen Grundlage bedurften. Dieser ganz allgemeine Vorbehalt einer Einschränkung des Grundrechts hatte, was Voraussetzung und Umfang der Einschränkung anlangt, gewiß seine Grenzen; er deckte aber, was seinen Anwendungsbereich angeht, von Anfang an auch ein Gesetz, das Einschränkungen des Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnisses zum Schutz vor Gefährdungen der freiheitlichen Verfassungsordnung oder des Bestandes des Staates vorsieht. Insofern bringt der neu eingefügte Satz 2 in Art. 10 Abs. 2 GG nichts Neues; er konkretisiert nur einen Anwendungsfall des Satzes 1, indem er umschreibt, welche Maßnahmen im Zusammenhang mit Beschränkungen des Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnisses durch ein Gesetz für zulässig erklärt werden können, wenn der Zweck der Schutz der freiheitlichen demokratischen Grundordnung oder der Bestand oder die Sicherung des Bundes oder eines Landes ist.
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Wo das Grundgesetz Einschränkungen von Grundrechten vorsieht, ist das stets geschehen, um ein anderes – individuelles oder überindividuelles –, im allgemeinen oder im konkreten Fall vorrangiges Rechtsgut wirksam schützen zu können. Auch unter diesem Gesichtspunkt steht die Regelung in Satz 2 a.a.O. in Einklang mit der Intention des Vorbehalts. Der Bestand der Bundesrepublik Deutschland und ihre freiheitliche Verfassungsordnung sind ein überragendes Rechtsgut, zu dessen wirksamem Schutz Grundrechte, soweit unbedingt erforderlich, eingeschränkt werden können.
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Das Neue der durch die Verfassungsänderung eingefügten Vorschrift liegt also nicht eigentlich in der "Beschränkung" des Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnisses – diese Beschränkung ist in der "Überwachung" des Brief-, Post- und Telegrafenverkehrs, im "Abhören" von Gesprächen und im Öffnen und Lesen von Briefen zu sehen –, sondern in der zusätzlichen Ermächtigung, dem Betroffenen jene Beschränkungen nicht mitzuteilen und an die Stelle des Rechtswegs die Nachprüfung durch von der Volksvertretung bestellte Organe und Hilfsorgane zu setzen. Der Zusammenhang zwischen diesen besonderen Maßnahmen und den genannten Beschränkungen (Abhören und Briefkontrolle) ist klar. Gegen die Verfassungsordnung und gegen die Sicherheit und den Bestand des Staates gerichtete Bestrebungen, Pläne und Maßnahmen gehen meist von Gruppen aus, die ihre Arbeit tarnen und im geheimen leisten, die wohlorganisiert sind und in besonderer Weise auf ungestört funktionierende Nachrichtenverbindungen angewiesen sind. Diesem "Apparat" gegenüber kann ein Verfassungsschutz nur wirksam arbeiten, wenn seine Überwachungsmaßnahmen grundsätzlich geheim und deshalb auch einer Erörterung innerhalb eines gerichtlichen Verfahrens entzogen bleiben. Selbst die nachträgliche Offenlegung einer Überwachungsmaßnahme und ihre nachträgliche Erörterung in einem gerichtlichen Verfahren kann für die verfassungsfeindlichen Kräfte Anhaltspunkte für die Arbeitsweise und das konkrete Beobachtungsfeld des Verfassungsschutzes und zur Identifizierung bisher unbekannt gewesener Angehöriger des Verfassungsschutzes liefern und dadurch dessen Wirksamkeit in hohem Maße beeinträchtigen. Die Befugnis, den Betroffenen von einer Abhörmaßnahme nicht in Kenntnis zu setzen und ihre Überprüfung an eine Stelle, die kein Gericht ist, zu verweisen, dient also der Effektivität des Verfassungsschutzes und macht eigentlich das Abhören und Brieföffnen erst sinnvoll. Art. 10 Abs. 2 Satz 2 GG gestattet also als Beschränkung des Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnisses zu Zwecken des Verfassungs- und Staatsschutzes das heimliche, dem Betroffenen auch im nachhinein geheim bleibende und von einem Gericht nicht nachzuprüfende Abhören und Kontrollieren von Telefongesprächen und Funksprüchen, von Fernschreiben, Telegrammen und Briefen.
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b) Eine Verfassungsvorschrift darf nicht allein aus ihrem Wortlaut heraus isoliert ausgelegt werden. Alle Verfassungsbestimmungen müssen vielmehr so ausgelegt werden, daß sie mit den elementaren Grundsätzen des Grundgesetzes und seiner Wertordnung vereinbar sind (BVerfGE 19, 206 [220]). Bei der Auslegung des Art. 10 Abs. 2 Satz 2 GG ist also der Kontext der Verfassung, sind insbesondere Grundentscheidungen des Grundgesetzes und allgemeine Verfassungsgrundsätze zu berücksichtigen. Im vorliegenden Zusammenhang ist von besonderer Bedeutung, daß die Verfassung der Bundesrepublik Deutschland sich für die "streitbare Demokratie" entschieden hat. Sie nimmt einen Mißbrauch der Grundrechte zum Kampf gegen die freiheitliche Ordnung nicht hin (BVerfGE 28, 36 [48]). Verfassungsfeinde sollen nicht unter Berufung auf Freiheiten, die das Grundgesetz gewährt und unter ihrem Schutz die Verfassungsordnung oder den Bestand des Staates gefährden, beeinträchtigen oder zerstören dürfen (vgl. Art. 9 Abs. 2, Art. 18, Art. 21 GG). Für die Aufgabe des Verfassungsschutzes sieht das Grundgesetz ausdrücklich eine eigene Institution vor, das Verfassungsschutzamt (vgl. Art. 73 Ziff. 10, Art. 87 Abs. 1 GG). Es kann nicht der Sinn der Verfassung sein, zwar den verfassungsmäßigen obersten Organen im Staat eine Aufgabe zu stellen und für diesen Zweck ein besonderes Amt vorzusehen, aber den verfassungsmäßigen Organen und dem Amt die Mittel vorzuenthalten, die zur Erfüllung ihres Verfassungsauftrags nötig sind.
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Nicht minder bedeutsam ist die Grundentscheidung des Grundgesetzes über die Grenzen, die den Grundrechten durch Rücksichten auf Gemeinwohl und zum Schutz überragender Rechtsgüter gezogen sind (vgl. z.B. Art. 2 Abs. 1 GG). "Das Menschenbild des Grundgesetzes ist nicht das eines isolierten, souveränen Individuums; das Grundgesetz hat vielmehr die Spannung Individuum – Gemeinschaft im Sinne der Gemeinschaftsbezogenheit und Gemeinschaftsgebundenheit der Person entschieden, ohne dabei deren Eigenwert anzutasten. Das ergibt sich insbesondere aus einer Gesamtsicht der Art. 1, 2, 12, 14, 15, 19 und 20 GG. Das heißt aber: der Einzelne muß sich diejenigen Schranken seiner Handlungsfreiheit gefallen lassen, die der Gesetzgeber zur Pflege und Förderung des sozialen Zusammenlebens in den Grenzen des bei dem gegebenen Sachverhalt allgemein Zumutbaren zieht, vorausgesetzt, daß dabei die Eigenständigkeit der Person gewahrt bleibt" (BVerfGE 4, 7 [15 f.]).
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Aus einer dritten Grundentscheidung des Grundgesetzes – dem Rechtsstaatsprinzip – schließlich hat das Bundesverfassungsgericht den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit abgeleitet, der bei Beschränkungen von Grundrechtspositionen verlangt, daß nur das unbedingt Notwendige zum Schutz eines von der Verfassung anerkannten Rechtsgutes – hier der Bestand des Staates und seine Verfassungsordnung – im Gesetz vorgesehen und im Einzelfall angeordnet werden darf (vgl. BVerfGE 7, 377 [397 ff.]). Aus dem Rechtsstaatsprinzip folgt außerdem, wie noch darzulegen sein wird, daß jeder hoheitliche Eingriff in Freiheit oder Eigentum des Bürgers mindestens einer effektiven Rechtskontrolle unterliegen muß.
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Aus diesem Sinnzusammenhang, in dem Art. 10 Abs. 2 Satz 2 GG steht, ergibt sich zunächst eine Bestätigung der Auslegung, die unter a) aus dem Wortlaut der Vorschrift selbst gewonnen worden ist. Insbesondere ergibt sich, daß die in der Vorschrift vorgesehene Nichtbenachrichtigung des Betroffenen und das Ersetzen des Gerichtsschutzes durch eine anderweitige Kontrolle nicht nur aus der "Natur der Sache" heraus – weil eben ohne diese Maßnahmen der Zweck der Einschränkung des Brief,- Post- und Fernmeldegeheimnisses nicht erreichbar wäre – zu rechtfertigen ist, sondern zusätzlich verfassungsrechtlich legitimiert ist durch die Grundentscheidung des Grundgesetzes für die streitbare Demokratie.
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Im übrigen ist in Rücksicht auf den Verfassungsgrundsatz der Verhältnismäßigkeit zu beachten: Nach Art. 10 Abs. 2 Satz 2 GG "kann" das Gesetz bestimmen, daß die Beschränkung "dem Betroffenen nicht mitgeteilt wird und daß an die Stelle des Rechtsweges die Nachprüfung durch von der Volksvertretung bestellte Organe und Hilfsorgane tritt". Die Verfassungsvorschrift kann im Hinblick auf den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit nur so verstanden werden, daß sie nachträglich die Benachrichtigung zuläßt und sie fordert in den Fällen, in denen eine Gefährdung des Zweckes der Überwachungsmaßnahme und eine Gefährdung des Schutzes der freiheitlichen demokratischen Grundordnung oder des Bestandes oder der Sicherung des Bundes oder eines Landes ausgeschlossen werden kann. Die Vorschrift läßt übrigens auch Raum, es beim normalen Rechtsweg zu belassen oder statt der Nachprüfung durch von der Volksvertretung bestellte Organe ein besonderes gerichtliches Verfahren vorzusehen, falls dies ohne Gefährdung des Schutzes der freiheitlichen demokratischen Grundordnung ode des Bestandes oder der Sicherung des Bundes oder eines Landes möglich sein sollte.
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Davon abgesehen läßt die Formulierung: "Dient die Beschränkung dem Schutze der freiheitlichen demokratischen Grundordnung oder des Bestandes oder der Sicherung des Bundes oder eines Landes" die von dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit geforderte Auslegung zu, daß das Gesetz die Zulässigkeit des Eingriffs in das Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnis beschränken muß auf den Fall, daß konkrete Umstände den Verdacht eines verfassungsfeindlichen Verhaltens rechtfertigen und daß dem verfassungsfeindlichen Verhalten im konkreten Fall nach Erschöpfung anderer Möglichkeiten der Aufklärung nur durch den Eingriff in das Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnis beigekommen werden kann. Damit ist auch die Zahl der Fälle eingeschränkt, in denen der Betroffene nicht benachrichtigt wird.
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Aus dem Verfassungsgebot der Beschränkung der Überwachungsmaßnahmen auf das unumgänglich Notwendige folgt weiter, daß nach Art. 10 Abs. 2 Satz 2 GG nur Personen, die in den konkreten Verdacht der genannten Art geraten sind, überwacht werden dürfen; diese Überwachung wird freilich nicht deshalb unzulässig, weil infolge des Kommunikationscharakters von Post und Telefon bei der Überwachung des Verdächtigen notwendigerweise auch Personen, mit denen der Verdächtige in Verbindung steht, in diese Überwachung geraten. Das Verfassungsgebot der Beschränkung der Überwachungsmaßnahmen auf das unumgänglich Notwendige schließt auch nicht aus, daß die Überwachung auf Nachrichtenverbindungen einer dritten Person erstreckt wird, von denen anzunehmen ist, daß sie für Zwecke des Verdächtigen benutzt werden. In Rücksicht auf das genannte Verfassungsgebot ermächtigt Art. 10 Abs. 2 Satz 2 GG auch nur zu einer Überwachung, die auf nichts anderes gerichtet ist als auf die Erlangung der Kenntnis von verfassungsfeindlichen Vorgängen. Schließlich verbietet Art. 10 Abs. 2 Satz 2 GG in der durch jenes Verfassungsgebot geforderten Auslegung auch, daß die durch die Überwachung erlangte Kenntnis anderen (Verwaltungs-) Behörden für ihre Zwecke zugänglich gemacht wird, und gebietet, daß anfallendes Material, das nicht oder nicht mehr für die Zwecke des Schutzes der freiheitlichen demokratischen Ordnung bedeutsam ist, unverzüglich vernichtet wird.
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Was schließlich den "Ausschluß des Rechtswegs" anlangt, so kommt im Lichte des Verfassungsprinzips der Rechtsstaatlichkeit bei der Auslegung des Art. 10 Abs. 2 Satz 2 GG dem Umstand besondere Bedeutung zu, daß die Nachprüfung durch von der Volksvertretung bestellte Organe und Hilfsorgane "an Stelle des Rechtsweges" treten soll. Das bedeutet, daß in Ausführung dieser Vorschrift das Gesetz eine Nachprüfung vorsehen muß, die materiell und verfahrensmäßig der gerichtlichen Kontrolle gleichwertig, insbesondere mindestens ebenso wirkungsvoll ist, auch wenn der Betroffene keine Gelegenheit hat, in diesem "Ersatzverfahren" mitzuwirken. Bei dieser Auslegung verlangt Art. 10 Abs. 2 Satz 2 GG, daß das zu seiner Ausführung ergehende Gesetz unter den von der Volksvertretung zu bestellenden Organen und Hilfsorganen ein Organ vorsehen muß, das in richterlicher Unabhängigkeit und für alle an der Vorbereitung, verwaltungsmäßigen Entscheidung und Durchführung der Überwachung Beteiligten verbindlich über die Zulässigkeit der Überwachungsmaßnahme und über die Frage, ob der Betroffene zu benachrichtigen ist, entscheidet und die Überwachungsmaßnahme untersagt, wenn es an den rechtlichen Voraussetzungen dazu fehlt. Dieses Organ kann innerhalb und außerhalb des Parlaments gebildet werden. Es muß jedoch über die notwendige Sach- und Rechtskunde verfügen; es muß weisungsfrei sein; seine Mitglieder müssen auf eine bestimmte Zeit fest berufen werden. Es muß kompetent sein, alle Organe, die mit der Vorbereitung, Entscheidung, Durchführung und Überwachung des Eingriffs in das Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnis befaßt sind, und alle Maßnahmen dieser Organe zu überwachen. Diese Kontrolle muß laufend ausgeübt werden können. Zu diesem Zweck müssen dem Kontrollorgan alle für die Entscheidung erheblichen Unterlagen des Falles zugänglich gemacht werden. Diese Kontrolle muß Rechtskontrolle sein. Art. 10 Abs. 2 Satz 2 GG läßt aber eine Regelung zu, nach der das Kontrollorgan aus Gründen der Opportunität auch in einem Fall, in dem die gesetzlichen Voraussetzungen für die Überwachung vorliegen, die Unterlassung oder Aufhebung der Überwachung fordern, also die Zahl der Überwachungsfälle weiter einschränken darf.
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2. Die Auslegung des Art. 79 Abs. 3 GG ergibt folgendes:
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a) Art. 79 Abs. 3 GG als Schranke für den verfassungsändernden Gesetzgeber hat den Sinn, zu verhindern, daß die geltende Verfassungsordnung in ihrer Substanz, in ihren Grundlagen auf dem formal-legalistischen Weg eines verfassungsändernden Gesetzes beseitigt und zur nachträglichen Legalisierung eines totalitären Regimes mißbraucht werden kann. Die Vorschrift verbietet also eine prinzipielle Preisgabe der dort genannten Grundsätze. Grundsätze werden "als Grundsätze" von vornherein nicht "berührt", wenn ihnen im allgemeinen Rechnung getragen wird und sie nur für eine Sonderlage entsprechend deren Eigenart aus evident sachgerechten Gründen modifiziert werden. Die Formel, jene Grundsätze dürfen "nicht berührt" werden, hat also keine striktere Bedeutung als die ihr verwandte Formel in Art. 19 Abs. 2 GG, wonach in keinem Fall ein Grundrecht "in seinem Wesensgehalt angetastet" werden darf.
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b) Von Bedeutung ist für die Auslegung ferner, daß Art. 79 Abs. 3 GG, abgesehen von dem Grundsatz der Gliederung des Bundes in Länder und der grundsätzlichen Mitwirkung der Länder bei der Gesetzgebung als unantastbar "die in den Artikeln 1 und 20 niedergelegten Grundsätze" nennt. Das ist etwas anderes, zum Teil mehr, zum Teil weniger als die Formulierung, Art. 79 Abs. 3 GG entziehe den Verfassungsgrundsatz der Achtung vor der Menschenwürde und das Rechtsstaatsprinzip jeder Verfassungsänderung. In Art. 1 GG sind mehr Grundsätze "niedergelegt" als nur der Grundsatz der Achtung vor der Menschenwürde. Auch in Art. 20 GG sind mehrere Grundsätze niedergelegt, nicht jedoch ist dort "niedergelegt" das "Rechtsstaatsprinzip", sondern nur ganz bestimmte Grundsätze des Rechtsstaatsprinzips: in Absatz 2 der Grundsatz der Gewaltenteilung und in Absatz 3 der Grundsatz der Bindung der Gesetzgebung an die verfassungsmäßige Ordnung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung an Gesetz und Recht. Aus dem Rechtsstaatsprinzip lassen sich mehr als die in Art. 79 Abs. 3 GG in Bezug genommenen Rechtsgrundsätze des Art. 20 GG entwickeln und das Bundesverfassungsgericht hat solche Rechtsgrundsätze entwickelt (z.B.: das Verbot rückwirkender belastender Gesetze, das Gebot der Verhältnismäßigkeit, die Lösung des Spannungsverhältnisses von Rechtssicherheit und Gerechtigkeit im Einzelfall, das Prinzip des möglichst lückenlosen Rechtsschutzes). Die mit der Formulierung des Art. 79 Abs. 3 GG verbundene Einschrnkung der Bindung des verfassungsändernden Gesetzgebers muß bei der Auslegung um so ernster genommen werden, als es sich um eine Ausnahmevorschrift handelt, die jedenfalls nicht dazu führen darf, daß der Gesetzgeber gehindert wird, durch verfassungsänderndes Gesetz auch elementare Verfassungsgrundsätze systemimmanent zu modifizieren. In dieser Sicht gehört der aus dem Rechtsstaatsprinzip ableitbare Grundsatz, daß dem Bürger ein möglichst umfassender Gerichtsschutz zur Verfügung stehen muß, nicht zu den in Art. 20 GG "niedergelegten Grundsätzen"; er ist in Art. 20 GG an keiner Stelle genannt. Art. 19 Abs. 4 GG, der eine Rechtsweggarantie in diesem Sinne enthält, ist also durch Art. 79 Abs. 3 GG einer Einschränkung und Modifizierung durch verfassungsänderndes Gesetz nicht entzogen.
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c) Was den in Art. 1 GG genannten Grundsatz der Unantastbarkeit der Menschenwürde anlangt, der nach Art. 79 Abs. 3 GG durch eine Verfassungsänderung nicht berührt werden darf, so hängt alles von der Festlegung ab, unter welchen Umständen die Menschenwürde verletzt sein kann. Offenbar läßt sich das nicht generell sagen, sondern immer nur in Ansehung des konkreten Falles. Allgemeine Formeln wie die, der Mensch dürfe nicht zum bloßen Objekt der Staatsgewalt herabgewürdigt werden, können lediglich die Richtung andeuten, in der Fälle der Verletzung der Menschenwürde gefunden werden können. Der Mensch ist nicht selten bloßes Objekt nicht nur der Verhältnisse und der gesellschaftlichen Entwicklung, sondern auch des Rechts, insofern er ohne Rücksicht auf seine Interessen sich fügen muß. Eine Verletzung der Menschenwürde kann darin allein nicht gefunden werden. Hinzukommen muß, daß er einer Behandlung ausgesetzt wird, die seine Subjektqualität prinzipiell in Frage stellt, oder daß in der Behandlung im konkreten Fall eine willkürliche Mißachtung der Würde des Menschen liegt. Die Behandlung des Menschen durch die öffentliche Hand, die das Gesetz vollzieht, muß also, wenn sie die Menschenwürde berühren soll, Ausdruck der Verachtung des Wertes, der dem Menschen kraft seines Personseins zukommt, also in diesem Sinne eine "verächtliche Behandlung" sein.
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II. |
Art. 10 Abs. 2 Satz 2 GG in der Auslegung unter I 1 ist mit Art. 79 Abs. 3 GG in der Auslegung unter I 2 vereinbar.
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1. Der Ausschluß der Benachrichtigung in dem Umfang, den Art. 10 Abs. 2 Satz 2 GG nach der oben gegebenen Auslegung zuläßt, ist nicht unvereinbar mit dem Gebot der Achtung der Menschenwürde, die nach Art. 79 Abs. 3 GG auch durch ein verfassungsänderndes Gesetz nicht antastbar ist. Denn Art. 79 Abs. 3 GG schützt, indem er Art. 1 Abs. 1 Satz 1 GG in Bezug nimmt, jedenfalls inhaltlich nicht mehr als Art. 1 Abs. 1 Satz 1 GG selbst. Art. 1 Abs. 1 Satz 1 GG wird aber unstreitig nicht durch jede Regelung und Anordnung verletzt, die die Freiheit des Bürgers einschränkt, dem Bürger Pflichten auferlegt oder den Bürger ungefragt einer ihm unbekannten und unbekannt bleibenden Maßnahme unterwirft. Das beginnt schon mit der gesetzlichen Meldepflicht des Arztes und bestimmter Behörden oder mit den polizeilichen Ermittlungen gegen bestimmte Personen, die sich nachträglich als ergebnislos oder ungerechtfertigt herausstellen, oder beim Abhören des privaten Funkverkehrs. Im vorliegenden Zusammenhang ist der Ausschluß der Benachrichtigung nicht Ausdruck einer Geringschätzung der menschlichen Person und ihrer Würde, sondern eine den Bürger treffende Last, die um des Schutzes des Bestandes seines Staates und der freiheitlichen demokratischen Ordnung willen von ihm gefordert wird. Der Gedanke, daß dieser Ausschluß der Benachrichtigung zu einem Mißbrauch in der Abhörpraxis führen könne, die mit Art. 1 Abs. 1 Satz 1 GG unvereinbar wäre, ist kein rechtliches Argument, das zur Unvereinbarkeit des Art. 10 Abs. 2 Satz 2 GG mit Art. 79 Abs. 3 GG führen kann. Die Möglichkeit des rechts- und verfassungswidrigen Mißbrauches macht die Regelung noch nicht verfassungswidrig; vielmehr ist bei der Auslegung und Würdigung einer Norm davon auszugehen, daß sie in einer freiheitlich-rechtsstaatlichen Demokratie korrekt und fair angewendet wird.
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2. Auch die Ersetzung des Rechtswegs durch eine anderweitige Rechtskontrolle verletzt im vorliegenden Fall nicht die Menschenwürde. Zwar verlangt die Rücksicht auf die Subjektqualität des Menschen normalerweise, daß er nicht nur Träger subjektiver Rechte ist, sondern auch zur Verteidigung und Durchsetzung seiner Rechte den Prozeßweg beschreiten und vor Gericht seine Sache vertreten kann, in diesem Sinne also Gerichtsschutz genießt. Es gibt aber seit je Ausnahmen von dieser Regel, die die Menschenwürde nicht kränken. Jedenfalls verletzt es die Menschenwürde nicht, wenn der Ausschluß des Gerichtsschutzes nicht durch eine Mißachtung oder Geringschätzung der menschlichen Person, sondern durch die Notwendigkeit der Geheimhaltung von Maßnahmen zum Schutze der demokratischen Ordnung und des Bestandes des Staates motiviert wird. Dagegen würde die Menschenwürde angetastet, wenn durch den Ausschluß des Rechtswegs der Betroffene der Willkür der Behörden ausgeliefert wäre. Dies gerade wird aber ausgeschlossen, wenn, wie dargelegt, von Art. 10 Abs. 2 Satz 2 GG eine zwar andersartige, aber gleichwertige Rechtskontrolle gefordert wird, die auch dem Schutz der Rechte des Betroffenen dienen soll.
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3. Die Ersetzung des Rechtswegs durch eine andersartige Rechtskontrolle, wie sie Art. 10 Abs. 2 Satz 2 GG vorsieht, verletzt auch nicht das in Art. 79 Abs. 3 GG für unantastbar erklärte Prinzip der Gewaltenteilung) das Art. 20 Abs. 2 GG mit den Worten garantiert, daß die Staatsgewalt "durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt" wird. Denn dieses Prinzip verlangt nicht eine strikte Trennung der Gewalten, sondern läßt zu, daß ausnahmsweise Rechtsetzung durch Organe der Regierung und Verwaltung oder Regierung und Verwaltung durch Organe der Gesetzgebung ausgeübt werden können. Das Prinzip der Gewaltenteilung erlaubt auch, daß Rechtsschutz gegenüber Maßnahmen der Exekutive ausnahmsweise nicht durch Gerichte, sondern durch vom Parlament bestellte oder gebildete, unabhängige Institutionen innerhalb des Funktionsbereichs der Exekutive gewährt wird. Wesentlich ist, daß in diesem Fall noch die ratio der Gewaltenteilung, nämlich die wechselseitige Begrenzung und Kontrolle staatlicher Macht, erfüllt ist. Die Ersetzung der gerichtlichen Kontrolle durch eine unabhängige Institution im Felde der Exekutive darf zwar nicht einfach nach Gutdünken und Willkür vorgesehen werden, aber jedenfalls für einen Fall, in dem ein zwingender, sachlich einleuchtender Grund es erfordert, und dadurch nicht der der rechtsprechenden Gewalt vorbehaltene Kernbereich berührt wird.
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4. Die Ersetzung des Rechtswegs durch eine unabhängige Rechtskontrolle anderer Art, wie sie Art. 10 Abs. 2 Satz 2 GG vorsieht, sowie der in Art. 10 Abs. 2 Satz 2 GG zugelassene beschränkte Ausschluß der Benachrichtigung widerstreiten schließlich nicht dem Rechtsstaatsprinzip, soweit es in Art. 79 Abs. 3 GG in Bezug genommen worden ist. In diesem Zusammenhang kommt allein der in Art. 20 Abs. 3 GG genannte Grundsatz in Betracht: Die vollziehende Gewalt ist an Gesetz und Recht gebunden. Dies gilt selbstverständlich mit derselben Strenge auch für die mit Verfassungsschutz betrauten Behörden; daran ändert sich nichts, wenn der Betroffene von den Überwachungsmaßnahmen nichts erfährt und zur Kontrolle der Rechtmäßigkeit der Überwachungsmaßnahmen ein Gericht nicht anrufen kann. Dann aber kann eine Regelung, die unter bestimmten Voraussetzungen zuläßt, daß eine Überwachungsmaßnahme den Betroffenen nicht mitgeteilt wird und daß an die Stelle des Rechtswegs die Nachprüfung durch von der Volksvertretung bestellte Organe und Hilfsorgane tritt, den rechtsstaatlichen Grundsatz, daß alle Verwaltung an Gesetz und Recht gebunden ist, nicht berühren.
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5. Unabhängig von den Überlegungen zu Nr. 1 bis 4 ergibt sich die Vereinbarkeit des Art. 10 Abs. 2 Satz 2 GG mit Art. 79 Abs. 3 GG schließlich aus dem allgemeinen Gesichtspunkt, daß es sich in Art. 10 Abs. 2 Satz 2 GG um systemimmanente Modifikationen von allgemeinen Verfassungsprinzipien handelt, die, wie oben dargelegt, nach Art. 79 Abs. 3 GG nicht unzulässig sind.
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D. |
1. Das Gesetz zu Art. 10 Grundgesetz regelt eine Materie, die der Gesetzgebungszuständigkeit des Bundes unterliegt. Die Gesetzgebungskompetenz des Bundes zum Erlaß des Art. 2 G 10, der durch Änderung der Strafprozeßordnung die Zulässigkeit von Maßnahmen zur Beschränkung des Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnisses im Strafverfahren regelt, beruht auf Art. 74 Nr. 1 GG.
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Die Zuständigkeit des Bundes zum Erlaß der in Art. 1 G 10 zusammengefaßten Bestimmungen über Beschränkungsmaßnahmen im außerstrafprozessualen Bereich ergibt sich aus Art. 73 Nr. 1, 7 und 10 sowie Art. 74 Nr. 1 GG.
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Art. 1 § 2 G 10 dient der Abwehr verfassungsfeindlicher Bestrebungen im Vorfeld strafprozessualer Ermittlungen. Die zulässigen Beschränkungsmaßnahmen sind begrenzt auf die Fälle, in denen tatsächliche Anhaltspunkte für den Verdacht bestehen, daß bestimmte strafbare Handlungen geplant, begangen werden oder begangen worden sind. Die Beschränkungsmaßnahmen nach Art. 1 § 2 G 10 dienen also (wenigstens mittelbar) der Verhinderung, Aufklärung und Verfolgung von Straftaten. Die Gesetzgebungskompetenz des Bundes ist daher insoweit unmittelbar aus Art. 74 Nr. 1 GG zu entnehmen.
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2. Verfassungsrechtliche Bedenken gegen das Gesetz zu Art. 10 Grundgesetz als Ganzes oder gegen einzelne Vorschriften des Gesetzes, die in diesem Verfahren nicht ausdrücklich angegriffen sind, aber im Fall ihrer Nichtigkeit die Nichtigkeit der angegriffenen Vorschriften nach sich ziehen würden, sind nicht ersichtlich. Insbesondere sind §§ 1 und 2 G 10, soweit sie sich auf den Tatbestand der "Sicherheit der in der Bundesrepublik Deutschland stationierten Truppen der nichtdeutschen Vertragsstaaten des Nordatlantikvertrages oder der im Land Berlin anwesenden Truppen einer der Drei Mächte" beziehen, sowie § 3 von der Ermächtigung in Art. 10 Abs. 2 Satz 2 GG gedeckt. Unter den gegenwärtigen politischen und rechtlichen Bedingungen stellt es eine schwerwiegende Gefahr für den Bestand und die Sicherheit des Bundes oder eines Landes dar, wenn die Sicherheit der in der Bundesrepublik Deutschland stationierten verbündeten Truppen oder der im Land Berlin anwesenden Truppen der Drei Mächte auf dem Spiel steht. Deshalb ist auch eine Überwachungsmaßnahme zur Abwehr von drohenden Gefahren für die Sicherheit der genannten Truppen eine Beschränkung des Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnisses, die "dem Schutze ... des Bestandes oder der Sicherung des Bundes oder eines Landes" dient.
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3. Hinsichtlich der einzelnen Vorschriften des Gesetzes zu Art. 10 Grundgesetz, die im gegenwärtigen Verfahren angegriffen sind, gilt folgendes:
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a) Art. 1 § 9 Abs. 5 G 10 ist mit dem Grundgesetz vereinbar.
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Wie oben unter C I 1 dargelegt ist, verlangt Art. 10 Abs. 2 Satz 2 GG, daß das zu seiner Ausführung ergehende Gesetz ein Organ vorsehen muß, das in richterlicher Unabhängigkeit und für alle an der Vorbereitung, verwaltungsmäßigen Entscheidung und Durchführung der Überwachung Beteiligten verbindlich über die Zulässigkeit der Überwachungsmaßnahme und über die Frage, ob der Betroffene zu benachrichtigen ist, entscheidet und die Überwachungsmaßnahme untersagt, wenn es an den rechtlichen Voraussetzungen dazu fehlt. Dieses Organ muß über die notwendige Sach- und Rechtskunde verfügen; es muß weisungsfrei sein; seine Mitglieder müssen auf bestimmte Zeit fest berufen werden. Seine Kontrolle muß laufend ausgeübt werden können; alle erheblichen Unterlagen des Falles müssen dem von der Volksvertretung bestellten Organ zugänglich sein.
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Die nach § 9 G 10 zu bestellende Kommission entspricht diesen Erfordernissen. Nach § 9 Abs. 3 G 10 sind die Mitglieder in ihrer Amtsführung unabhängig und Weisungen nicht unterworfen. Sie werden von dem nach § 9 Abs. 1 G 10 bestellten Abgeordnetengremium auf die Dauer einer Wahlperiode des Bundestages bestellt. Der Vorsitzende der Kommission muß die Befähigung zum Richteramt besitzen. Der zuständige Bundesminister ist verpflichtet, die Kommission monatlich über die von ihm angeordneten Beschränkungsmaßnahmen zu unterrichten. Die Kommission hat alsdann von Amts wegen, im übrigen aber auch auf Grund von Beschwerden über die Zulässigkeit und Notwendigkeit von Beschränkungsmaßnahmen zu entscheiden. Erklärt die Kommission Anordnungen für unzulässig oder nicht notwendig, so hat sie der zuständige Bundesminister unverzüglich aufzuheben.
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Gegenüber den Bedenken, das Gremium gemäß § 9 Abs. 1 G 10 und die Kommission könnten unter Umständen von einer Mehrheit im Bundestag einseitig besetzt werden, genügt der Hinweis, daß auch eine Mehrheit ihre Rechte mißbrauchen kann. Eine Fraktion oder Koalition, die das genannte Gremium einseitig besetzen und auf die einseitige Besetzung der Kommission hinwirken würde, würde im Zweifel mißbräuchlich verfahren.
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Unter diesen Umständen ist der im § 9 Abs. 5 G 10 vorgesehene Ausschluß des Rechtswegs gemäß Art. 10 Abs. 2 Satz 2 GG zulässig. Damit entfallen auch alle aus Art. 101 und Art. 103 GG hergeleiteten verfassungsrechtlichen Bedenken.
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b) Wie ebenfalls unter C I 1 ausgeführt wurde, gebietet das Rechtsstaatsprinzip und damit Art. 10 Abs. 2 Satz 2 GG in der gebotenen Auslegung, daß Beschränkungsmaßnahmen dem Betroffenen bekanntgegeben werden, sobald die Interessenlage, die die Geheimhaltung rechtfertigt, nicht mehr andauert. Da § 5 Abs. 5 G 10 die Unterrichtung des Betroffenen über Beschränkungsmaßnahmen in jedem Fall ausschließt, ist er durch Art. 10 Abs. 2 Satz 2 GG in der oben dargelegten, verfassungsrechtlich gebotenen Auslegung teilweise nicht gedeckt und insoweit mit dem Grundgesetz unvereinbar. Diese Bestimmung war daher insoweit für nichtig zu erklären, als die Unterrichtung des Betroffenen über Beschränkungsmaßnahmen auch ausgeschlossen wird, wenn sie ohne Gefährdung des Zweckes der Beschränkung erfolgen kann.
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c) Art. 1 § 2 Abs. 2 Satz 2 G 10 und § 100 a letzter Satz StPO in der Fassung des Art. 2 G 10, wonach Beschränkungsmaßnahmen auch gegenüber Personen zulässig sind, von denen auf Grund bestimmter Tatsachen anzunehmen ist, daß sie für den Verdächtigen oder Beschuldigten bestimmte oder von ihm herrührende Mitteilungen entgegennehmen oder weitergeben oder daß der Verdächtige oder Beschuldigte ihren Anschluß benutzt, sind mit dem Grundgesetz vereinbar.
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Die zu prüfenden Bestimmungen berühren das Recht der freien Berufswahl nicht. Sie enthalten im Grunde nicht einmal eine Regelung auf der Stufe der Berufsausübung. Beide Bestimmungen richten sich nicht gegen den Beschwerdeführer gerade in seiner Eigenschaft als Rechtsanwalt. Sie betreffen ihn, wenn überhaupt, in gleicher Weise wie jeden anderen Bürger. Allerdings ist richtig, daß die Tätigkeit als Strafverteidiger in besonderem Maße geeignet ist, einen Rechtsanwalt in engen Kontakt mit Verdächtigen im Sinne des Art. 1 § 2 G 10 oder mit Beschuldigten im Sinne des § 100 a StPO zu bringen. Betätigt sich daher ein Rechtsanwalt, wie es der Beschwerdeführer zu 3) von sich behauptet, fast ausschließlich als Verteidiger in Staatsschutzstrafsachen und in Verfahren wegen Kapitalverbrechen, so ist nicht auszuschließen, daß sich die angefochtenen Bestimmungen auf die Berufsausübung auswirken. Dies führt aber nicht zur Verfassungswidrigkeit der Vorschriften.
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Die Freiheit der Berufsausübung kann durch Gesetz im Sinne des Art. 12 Abs. 1 Satz 2 GG beschränkt werden, sofern vernünftige Erwägungen des Gemeinwohls es als zweckmäßig erscheinen lassen. In diesem Fall beschränkt sich der Grundrechtsschutz auf die Abwehr in sich verfassungswidriger, weil etwa übermäßig belastender und nicht zumutbarer Auflagen (BVerfGE 7, 377 [405 und Leitsatz 6 a]; seither ständige Rechtsprechung). Für die beanstandeten Regelungen sprechen vernünftige Gründe des Gemeinwohls: Die vom Gesetzgeber für notwendig erachteten Beschränkungsmaßnahmen auf dem Gebiet der Brief-, Post- und Fernmeldeüberwachung können nicht wirkungsvoll sein und drohen unterlaufen zu werden, wenn sich die Überwachung nicht auf Einrichtungen bestimmter Kontaktpersonen der Verdächtigen oder Beschuldigten erstrecken kann. Das liegt in der Natur der zu überwachenden Kommunikationsmittel. Die Besonderheit des Zwecks der Beschränkungsmaßnahmen verbietet es, zwischen einzelnen Gruppen von möglichen Kontaktpersonen zu unterscheiden. Unter diesen Umständen ist die Erstreckung der Überwachungsmaßnahmen auf Einrichtungen bestimmter Kontaktpersonen und möglicherweise auch auf Anwaltskanzleien für die Betroffenen nicht in einem Maß unzumutbar und belastend, daß sie angesichts ihrer zwingenden Notwendigkeit nicht hingenommen werden müßte.
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E. |
Diese Entscheidung ist mit 5 gegen 3 Stimmen ergangen.
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Seuffert, Dr. Leibholz, Geller, Dr. v.Schlabrendorff, Dr. Rupp, Dr. Geiger, Dr. Kutscher, Dr. Rinck |
Abweichende Meinung der Richter Geller, Dr. v.Schlabrendorff und Dr. Rupp zu dem Urteil des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 15. Dezember 1970 |
– 2 BvF 1/69, 2 BvR 629/68 und 308/69 – |
Wir können dem Urteil vom 15. Dezember 1970 nicht zustimmen. Art. 10 Abs. 2 Satz 2 GG in der Fassung des Siebzehnten Ergänzungsgesetzes ist mit Art. 79 Abs. 3 GG nicht vereinbar und daher nichtig.
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1. Das verfassungsändernde Gesetz kann bei der Prüfung seiner Verfassungsmäßigkeit nicht – wie im Urteil vom 15. Dezember 1970 – nach Grundsätzen ausgelegt werden, die für eine Auslegung von Verfassungsnormen gelten (BVerfGE 19, 206 [220]); denn es fragt sich ja gerade, ob Art. 10 Abs. 2 Satz 2 GG eine gültige Verfassungsnorm ist. Für diese Prüfung am Maßstab des Art. 79 Abs. 3 GG ist maßgebend, wie die verfassungsändernde Vorschrift nach Wortlaut, Sinnzusammenhang und Zweck verstanden werden muß. Es ergibt sich dabei, daß sie der im Urteil vorgenommenen "grundgesetzkonformen" Auslegung nicht zugänglich ist.
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a) Nach Art. 10 Abs. 2 Satz 2 GG soll der einfache Gesetzgeber unter gewissen Voraussetzungen bestimmen können, daß Überwachungsmaßnahmen dem Betroffenen nicht mitgeteilt werden. Der Wortlaut ist eindeutig. Es heißt, ihn in sein Gegenteil verkehren, wenn man annehmen wollte, daß eine nachträgliche Mitteilung jedenfalls nicht ganz ausgeschlossen werden darf.
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Die Rechtsweggarantie des Art. 19 Abs. 4 GG dient dem individuellen Rechtsschutz. Sie gewährleistet, daß jeder durch die öffentliche Gewalt in seinen Rechten Verletzte ein Gericht anrufen kann. Das Wesentliche an dieser verfassungsrechtlichen Regelung liegt darin, daß der Rechtsschutz durch ein sachlich und persönlich unabhängiges, von Exekutive und Legislative getrenntes, also neutrales Organ gewährt wird, das bestimmten Kautelen (z.B. ordnungsmäßige Besetzung) unterliegt und selbstverständlich nur nach Anhörung des Betroffenen entscheiden kann. Wenn nun auf Grund der verfassungsändernden Bestimmung "an die Stelle des Rechtsweges die Nachprüfung durch von der Volksvertretung bestellte Organe und Hilfsorgane" tritt, so wird das eigentliche Rechtsschutzsystem ersetzt. Wenn die Bestimmung überhaupt einen Sinn haben soll, so muß sich dieses Ersatz-System von dem normalen "Rechtsweg" unterscheiden. Dies kann nur bedeuten, daß es nicht die Garantien der Unabhängigkeit und Neutralität zu haben und nicht unter dem Zwang eines bestimmten Verfahrens zu stehen braucht. Dieser Unterschied wird noch dadurch ins rechte Licht gerückt, daß Art. 10 Abs. 2 Satz 2 GG auch die Geheimhaltung der Überwachungsmaßnahme ermöglicht.
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Im übrigen ist der verfassungsändernden Vorschrift auch keine greifbare Einschränkung des Kreises derjenigen, die überwacht werden dürfen, zu entnehmen. Die Beschränkung kann ganz allgemein angeordnet werden, wann immer es dem Schutz der freiheitlichen demokratischen Grundordnung oder des Bestandes oder der Sicherung des Bundes oder eines Landes dient. Es kann durchaus zweckmäßig erscheinen, den eigentlichen Gefahrenpunkt in der Weise einzukreisen, daß zunächst ein weiter Bereich unter Kontrolle gestellt wird.
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Es ist daher ausgeschlossen, Art. 10 Abs. 2 Satz 2 GG restriktiv dahin zu interpretieren, daß er zwingend eine Regelung vorschreibt, nach der das Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnis nur in Fällen eines konkreten Verdachts beschränkt werden darf. Seinem Sinn nach schließt er auch eine ausgedehnte Beobachtungsaktion, bei der versuchsweise zahlreiche Stellen überwacht werden, nicht aus.
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b) Die dem Urteil zugrunde liegende Auslegung ist auch nicht in Einklang zu bringen mit dem Zweck der Verfassungsänderung, der sich eindeutig aus der Entstehungsgeschichte ergibt.
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Natürlich bestand Einigkeit darüber, daß die Überwachung dem Betroffenen nicht vorher bekanntgegeben werden kann; das würde die Maßnahme von vornherein sinnlos machen. Es ging um die Frage, ob dem Betroffenen die Überwachung überhaupt nicht oder wenigstens nach Beendigung mitgeteilt werden sollte. Hierzu bringt eine Äußerung des Vorsitzenden des Rechtsausschusses, Dr. Wilhelmi, in der 2. Lesung des Entwurfs im Bundestag die Vorstellung der parlamentarischen Mehrheit über den Zweck des Art. 10 Abs. 2 Satz 2 GG wie folgt zum Ausdruck:
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"Es gibt zwei Gruppen. Die eine Gruppe sind die strafrechtlichen Fälle, die andere Gruppe sind eben die Fälle vorher; bei denen liegt noch keine strafbare Handlung, aber der Verdacht einer strafbaren Handlung oder jedenfalls einer Gefährdung der Bundesrepublik, vor. Dieses Vorstadium, diese Schwelle davor, ist natürlich das politisch Interessante und das politisch Wesentliche, und dazu brauchen wir die Ermächtigung in Art. 10. Das ist der politische Kern ... dieser Ausnahmebestimmung. Deshalb ist es nicht denkbar, diejenigen, die nun dieser Kontrolle unterworfen werden, nachträglich zu verständigen und ihnen ein ordentliches Gerichtsverfahren zu gestatten ..." (StenBer. über die 174. Sitzung des Deutschen Bundestages vom 15. Mai 1968, S. 9320 C)
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Auch der Berichterstatter des Rechtsausschusses, Dr. Lenz, präzisierte die Auffassung dahin, daß mit der strafprozessualen Lösung, die eine nachträgliche Mitteilung vorsieht, in den von Art. 10 Abs. 2 Satz 2 GG erfaßten Fällen "niemandem gedient" und daß eine solche Vorschrift nicht aufzunehmen sei (StenBer. über die 178. Sitzung des Deutschen Bundestages vom 30. Mai 1968, S. 9609 B). Anträge der Opposition auf Übernahme der strafprozessualen Regelung wurden abgelehnt.
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Wenn von der Möglichkeit, Eingriffe in das Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnis geheim zu halten, Gebrauch gemacht wird, so ist praktisch der Rechtsweg ausgeschlossen; der Betroffene kann ihn nicht beschreiten, weil er nicht weiß, was vorgeht. Dementsprechend war von Anfang an auch die Möglichkeit des Ausschlusses des Rechtsweges vorgesehen. Der Regierungsentwurf der 4. Wahlperiode wollte die Regelung davon abhängig machen, daß die Beschränkung durch einen Richter angeordnet oder bestätigt würde. Dieser Plan wurde indessen in dem letzten Regierungsentwurf fallen gelassen, einmal weil keinesfalls das rechtliche Gehör gewährt werden könnte und zum anderen, weil der Richter "im Hinblick auf die zwangsläufig ziemlich weite Formulierung der Zwecke, die eine nicht anfechtbare Überwachung der Betroffenen rechtfertigen sollten", zu einer Entscheidung genötigt würde, "die nahezu außerhalb seiner berufstypischen Funktion, Sachverhalte an rechtlichen Tatbestandsvoraussetzungen zu messen, gelegen haben würde" (amtliche Begründung zum Entwurf des Gesetzes zur Ergänzung des Grundgesetzes, BTDrucks. V/1879 S. 18). Bei den Beratungen dieses Entwurfs und des gleichzeitig eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu Art. 10 GG wurde alsdann immer wieder betont, daß an die Stelle des Rechtsweges die "parlamentarische Kontrolle", "der politische Weg der Kontrolle" treten müsse. In der 1. Lesung des Gesetzes zu Art. 10 Grundgesetz wies der damalige Bundesminister des Innern, Lücke, darauf hin, daß der für die Anordnung zuständige Bundesminister einer besonderen parlamentarischen Kontrolle unterliege und neben der periodischen Berichterstattung an das politische Gremium monatlich auch noch der von dem Gremium bestellten "dreiköpfigen parlamentarischen Kommission" berichten müsse. Der Abgeordnete Hirsch hielt es für richtig
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"diese jetzt gewählte politische Lösung, nämlich die Kontrolle durch einen verantwortlichen Minister und durch die beiden vorgesehenen politischen Gremien, einer Prüfung durch den Richter vorzuziehen"; es handle sich um eine politische und nicht um eine richterliche Entscheidung." (StenBer. über die 117. Sitzung des Deutschen Bundestages vom 29. Juni 1967 S. 5862 und 5882 D)
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Später kam diese Auffassung dadurch zum Ausdruck, daß der Berichterstatter des Rechtsausschusses, Dr. Reischl, erklärte, der Ersatzrechtsweg müsse der "Weg zu einem politischen Organ" sein, "weil es sich um politische Fragen handelt" (a.a.O. S. 9322 B). Auch der Vorsitzende des Rechtsausschusses, Dr. Wilhelmi, erklärte, die Gerichte wären bei einer Nachprüfung von Überwachungsmaßnahmen völlig überfordert, da es sich um politische Fragen handle, die von Politikern entschieden werden müßten. Und dementsprechend war immer von der "Nachprüfung durch Organe und Hilfsorgane der Volksvertretung" die Rede (a.a.O. S. 9320 C f; Schriftlicher Bericht des Rechtsausschusses – BTDrucks. V/2873 S. 4).
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c) Nach Wortlaut, Sinnzusammenhang und Zweck gestattet Art. 10 Abs. 2 Satz 2 GG mithin, das Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnis zu Zwecken des Verfassungs- und Staatsschutzes in einer Weise zu beschränken, die das heimliche, dem Betroffenen auch im nachhinein geheim bleibende und von einem Gericht nicht nachzuprüfende Abhören und Kontrollieren von Telefongesprächen, Fernschreiben, Telegrammen und Briefen ermöglicht. Der Kreis der Betroffenen ist unbegrenzt und nicht auf "Verdächtige" beschränkt. Der Charakter der der "parlamentarischen Kontrolle" dienenden Organe und Hilfsorgane bleibt völlig unbestimmt; sie können vom Gesetzgeber als politische Gremien oder auch als abhängige Verwaltungskörper ausgestaltet werden. Die Auslegung, die Art. 10 Abs. 2 Satz 2 GG im Urteil findet, gibt daher dem Art. 10 Abs. 2 Satz 2 GG einen anderen Sinn. Sie engt ihn ein und verändert seinen normativen Inhalt. Dies zu tun, ist aber ausschließlich Sache des Gesetzgebers (BVerfGE 8, 71 [78 f.]; 9, 83 [87]).
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Daß das Gesetz zu Art. 10 Grundgesetz möglicherweise den weiten Spielraum der ermächtigenden Verfassungsnorm nicht ausgeschöpft hat, ist nicht von Belang. Art. 10 Abs. 2 Satz 2 GG zwingt nicht zu einer entsprechenden Regelung. Der Gesetzgeber kann es bei dem Zustand belassen, der der bisherigen Verfassungslage entspricht. Er kann von ihm auch in den verschiedensten Variationen abweichen. Für die Prüfung der Frage, ob die Verfassungsänderung nach Art. 79 Abs. 3 GG zulässig ist, ist Art. 10 Abs. 2 Satz 2 GG nur im ganzen Ausmaß der Möglichkeiten, die er dem einfachen Gesetzgeber einräumt, maßgebend.
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2. In der zu 1) dargelegten Auslegung ist die Verfassungsänderung nach Art. 79 Abs. 3 GG unzulässig.
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a) Art. 79 Abs. 3 GG erklärt bestimmte Grundsätze der Verfassung für unantastbar. Das Grundgesetz kennt also – anders als die Weimarer Reichsverfassung und die Verfassung des Kaiserreichs – Schranken der Verfassungsänderung. Eine solche gewichtige und in ihren Konsequenzen weittragende Ausnahmevorschrift darf sicherlich nicht extensiv ausgelegt werden. Aber es heißt ihre Bedeutung völlig verkennen, wenn man ihren Sinn vornehmlich darin sehen wollte, zu verhindern, daß der formallegalistische Weg eines verfassungsändernden Gesetzes zur nachträglichen Legalisierung eines totalitären Regimes mißbraucht wird. Es bedarf keiner besonderen Betonung, daß ein "Ermächtigungsgesetz" wie das von 1933 unzulässig wäre. Art. 79 Abs. 3 GG bedeutet mehr: Gewisse Grundentscheidungen des Grundgesetzgebers werden für die Dauer der Geltung des Grundgesetzes – ohne Vorwegnahme einer künftigen gesamtdeutschen Verfassung – für unverbrüchlich erklärt. Diese vor einer Änderung zu schützenden Grundentscheidungen sind nach Art. 79 Abs. 3 GG einmal die Entscheidung für das föderalistische Prinzip und zum anderen die in den Artikeln 1 und 20 GG sich manifestierende Entscheidung. Wie weit oder wie eng auch immer man den Bereich der in Art. 1 GG und Art. 20 GG niedergelegten Grundsätze ziehen mag, jedenfalls gehören diejenigen Grundsätze dazu, die dem Grundgesetz das ihm eigene Gepräge geben. Die beiden Normen sind die Eckpfeiler der grundgesetzlichen Ordnung.
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b) Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts gehört Art. 1 GG zu den "tragenden Konstitutionsprinzipien", die alle Bestimmungen des Grundgesetzes durchdringen. Das Grundgesetz sieht die freie menschliche Persönlichkeit und ihre Würde als höchsten Rechtswert an (BVerfGE 6, 32 [36]; 12, 45 [53]). Nun muß man sich bei der Beantwortung der Frage, was "Menschenwürde" bedeute, hüten, das pathetische Wort ausschließlich in seinem höchsten Sinn zu verstehen, etwa indem man davon ausgeht, daß die Menschenwürde nur dann verletzt ist, wenn "die Behandlung des Menschen durch die öffentliche Hand, die das Gesetz vollzieht", "Ausdruck der Verachtung des Wertes, der dem Menschen kraft seines Personseins zukommt, also in diesem Sinne eine 'verächtliche Behandlung'" ist. Tut man dies dennoch, so reduziert man Art. 79 Abs. 3 GG auf ein Verbot der Wiedereinführung z.B. der Folter, des Schandpfahls und der Methoden des Dritten Reichs. Eine solche Einschränkung wird indessen der Konzeption und dem Geist des Grundgesetzes nicht gerecht. Art. 79 Abs. 3 GG in Verbindung mit Art. 1 GG hat einen wesentlich konkreteren Inhalt. Das Grundgesetz erkennt dadurch, daß es die freie menschliche Persönlichkeit auf die höchste Stufe der Wertordnung stellt, ihren Eigenwert, ihre Eigenständigkeit an. Alle Staatsgewalt hat den Menschen in seinem Eigenwert, seiner Eigenständigkeit zu achten und zu schützen. Er darf nicht "unpersönlich", nicht wie ein Gegenstand behandelt werden, auch wenn es nicht aus Mißachtung des Personenwertes, sondern in "guter Absicht" geschieht. Der Erste Senat dieses Gerichts hat dies dahin formuliert, es widerspreche der menschlichen Würde, den Menschen zum bloßen Objekt staatlichen Handelns zu machen und kurzerhand von Obrigkeits wegen über ihn zu verfügen (BVerfGE 27, 1 [6]; vgl. auch BVerfGE 5, 85 [204]; 7, 198 [205]; 9, 89 [95]). Damit wird keineswegs lediglich die Richtung angedeutet, in der Fälle der Verletzung der Menschenwürde gefunden werden können. Es ist ein in Art. 1 GG wurzelnder Grundsatz, der unmittelbar Maßstäbe setzt.
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Die Frage, ob in Art. 20 GG, auf den sich Art. 79 Abs. 3 gleichfalls bezieht, das "Rechtsstaatsprinzip" als solches oder nur ganz bestimmte Grundsätze dieses Prinzips "niedergelegt" sind, bedarf keiner Erörterung; sie ist in dem hier. wesentlichen Punkt theoretischer Natur. Jedenfalls enthält Art. 20 GG ausdrücklich den Gesetzmäßigkeitsgrundsatz und den Grundsatz der Dreiteilung der Gewalten; beides sind rechtsstaatliche Prinzipien. Schon aus ihnen ergibt sich, daß die Verfassung in ihrer Wertordnung dem Menschen nicht nur einen bevorzugten Platz einräumt, sondern ihm auch Schutz gewährt. In der Tat wären die Freiheit und die verbürgten Rechte des Einzelnen ohne einen verfassungsrechtlich gesicherten wirksamen Rechtsschutz wesenlos. Der in Art. 20 Abs. 3 GG verankerte Grundsatz der Gesetzmäßigkeit bindet die Organe der Staatsgewalt an die verfassungsmäßige Ordnung, an Gesetz und Recht, und bietet damit einen objektiven Schutz. Dem Bürger muß es, wenn der Schutz wirksam sein soll, darüber hinaus aber auch möglich sein, sich selbst gegen den Eingriff der Staatsgewalt zu wehren und ihn auf seine Rechtmäßigkeit prüfen zu lassen. Dies wird durch das nach Art. 20 Abs. 2 GG von Legislative und Exekutive getrennte Organ der Rechtsprechung gewährleistet; der Gewaltenteilungsgrundsatz, dessen Sinn in der wechselseitigen Begrenzung und Kontrolle öffentlicher Macht liegt, kommt damit auch dem Einzelnen zugute. Schon Art. 20 Abs. 2 GG enthält infolgedessen das rechtsstaatliche Prinzip individuellen Rechtsschutzes, das in Art. 19 Abs. 4 GG a.F. konkretisiert ist.
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Das Bundesverfassungsgericht hat wiederholt von "der rechtsstaatlichen Forderung nach möglichst lückenlosem gerichtlichen Schutz gegen die Verletzung der Rechtssphäre des einzelnen durch Eingriffe der öffentlichen Gewalt" gesprochen (z.B. BVerfGE 8, 274 [326]). Das kann aber nicht dahin verstanden werden, ein mglichst lückenloser Rechtsschutz brauche nicht gewährt zu werden, wenn dies – aus welchen Gründen auch immer – unmöglich erscheine. Daß der Rechtsschutz möglichst lckenlos sein soll, bedeutet nicht eine Relativierung, es ist vielmehr ein Postulat.
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Auf Grund der vorstehenden Erwägungen kommen wir zu der folgenden Überzeugung: Zu "den in den Artikeln 1 und 20 GG niedergelegten Grundsätzen" gehören jedenfalls einerseits der in Art. 1 GG wurzelnde Grundsatz, daß der Mensch nicht zum bloßen Objekt des Staates gemacht, daß über sein Recht nicht kurzerhand von Obrigkeits wegen verfügt werden darf, und andererseits das sich aus Art. 20 GG ergebende rechtsstaatliche Gebot möglichst lückenlosen individuellen Rechtsschutzes. Diese beiden Grundsätze enthalten die Grundentscheidung des Grundgesetzgebers, die wesentlich das Bild des Rechtsstaates, wie ihn das Grundgesetz versteht, bestimmen und der Verfassungsordnung ihr besonderes Gepräge geben. Eben diese konstituierenden Elemente sollen nach Art. 79 Abs. 3 GG unabänderlich sein.
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c) Durch die Verfassungsänderung werden die in den Artikeln 1 und 20 GG niedergelegten Grundsätze "berührt".
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Nach Wortlaut und Sinn erfordert die Vorschrift des Art. 79 Abs. 3 GG nicht, daß die oder einer der Grundsätze vollständig aufgehoben oder "prinzipiell preisgegeben" werden. Das Wort "berührt" besagt weniger. Es genügt schon, wenn in einem Teilbereich der Freiheitssphäre des Einzelnen die sich aus Art. 1 und 20 GG ergebenden Grundsätze ganz oder zum Teil außer Acht gelassen werden. Nur dies scheint uns der Bedeutung, die Art. 79 Abs. 3 GG im System des Grundgesetzes hat, zu entsprechen. Die konstituierenden Elemente sollen "unberührt" bleiben. Sie sollen auch vor dem allmählichen Zerfallsprozeß geschützt werden, der sich entwickeln könnte, wenn den Grundsätzen nur "im allgemeinen Rechnung getragen" werden müßte. Es darf nicht unberücksichtigt bleiben, daß der Grundgesetzgeber in Art. 79 Abs. 3 GG eine andere, und zwar substantiell engere Formulierung als in Art. 19 Abs. 2 GG gewählt hat.
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Der nach Art. 10 Abs. 2 Satz 2 GG mögliche heimliche Eingriff in die Privatsphäre des Bürgers unter Ausschluß des Rechtsweges trifft nicht nur Verfassungsfeinde und Agenten, sondern gleichfalls Unverdächtige und persönlich Unbeteiligte. Auch ihr Telefon kann abgehört, ihre Briefe können geöffnet werden, ohne daß sie jemals etwas davon erfahren und ohne daß sie imstande sind, sich zu rechtfertigen oder – was für die Betroffenen von äußerster Wichtigkeit sein kann – sich aus einer unerwünschten Verstrickung zu lösen. Mit dieser Behandlung aber wird über das Recht des Einzelnen auf Achtung des privaten Bereichs "kurzerhand von Obrigkeits wegen" verfügt, der Bürger zum Objekt staatlicher Gewalt gemacht. Dem kann nicht entgegengehalten werden, der Mensch sei nicht selten Objekt nicht nur der Verhältnisse und der gesellschaftlichen Entwicklung, sondern auch des Rechts, insofern er ohne Rücksicht auf seine Interessen sich fügen müsse. Daß der Bürger der Rechtsordnung unterworfen ist, bedarf keiner Hervorhebung; er wird damit aber keineswegs zum Objekt der Staatsgewalt, sondern bleibt lebendiges Glied der Rechtsgemeinschaft. Die praktischen Beispiele, die das Urteil erwähnt, besagen schon deshalb nichts, weil solche Maßnahmen entweder nicht hinter dem Rücken des Betroffenen vorgenommen werden (etwa die ärztliche Meldung eines Kranken, dem mitgeteilt wird, daß er an einer ansteckenden Krankheit leidet) oder die geschützte Privatsphäre nicht tangieren (etwa beim Abhören des privaten Funkverkehrs, der sozusagen in der Öffentlichkeit der Atmosphäre stattfindet). Vor allem aber kann sich der Bürger in all diesen Fällen, sobald in seinen privaten Bereich eingegriffen wird, zur Wehr setzen; der Rechtsweg steht ihm offen. Der besondere Charakter der nach Art. 10 Abs. 2 Satz 2 GG möglichen Regelung tritt im übrigen durch nichts deutlicher in Erscheinung als dadurch, daß eine Änderung des Grundgesetzes für erforderlich gehalten wurde.
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Art. 10 Abs. 2 Satz 2 GG berührt aber auch die sich aus Art. 20 GG ergebende rechtsstaatliche Forderung nach individuellem Rechtsschutz. Daß der Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung dieser Forderung noch nicht genügt, ist bereits oben dargelegt. Die in Art. 10 Abs. 2 Satz 2 GG vorgesehenen Organe erfüllen schon deshalb nicht die Voraussetzungen, die die Gewährung individuellen Rechtsschutzes erfordert, weil die Vorschrift nicht zwingend vorschreibt, daß die Organe unabhängig und frei von Weisungen sein müssen. Die Voraussetzungen wären aber selbst dann nicht gegeben, wenn man davon ausginge, daß es sich um "vom Parlament bestellte oder gebildete unabhängige Institutionen innerhalb des Funktionsbereichs der Exekutive" handle. Derartige Institutionen dienen – wie etwa herkömmlicherweise die aus gewählten Mitgliedern bestehenden sog. Beschlußausschüsse in der kommunalen Selbstverwaltung – der Selbstkontrolle der Verwaltung, gewähren jedoch keinen individuellen Rechtsschutz und werden übrigens allgemein als Verwaltungsorgane angesehen. Die Gewährung eines individuellen Rechtsschutzes ist im System der Gewaltenteilung eine Funktion der Rechtsprechung, da sie dem Schutz gegen Eingriffe der beiden anderen Gewalten dient. Die Rechtsschutzorgane gehören daher in den Funktionsbereich der Rechtsprechung. Ob sie dem traditionellen Gerichtstyp entsprechen müssen, mag dahinstehen. Jedenfalls ist wesentlich, daß sie auch die Garantien der Neutralität erfüllen, was eine Trennung von Legislative und Exekutive bedingt, und daß sie in einem geordneten Verfahren entscheiden. Dies bedeutet vor allem, daß der Betroffene an dem Verfahren beteiligt wird. Es sollte nicht mehr besonders betont werden müssen, daß ein Geheimverfahren, wie es in Art. 10 Abs. 2 Satz 2 GG zugelassen ist, also ein Verfahren, in dem der Betroffene nicht gehört wird und sich nicht verteidigen kann, keinen Rechtsschutz bietet.
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3. In den parlamentarischen Verhandlungen und auch in den Äußerungen des Bundesministers des Innern zu den Verfassungsbeschwerden wurde die Verfassungsänderung zu Art. 10 GG mit folgender Erwägung gerechtfertigt: Sie müsse die Grundlage für eine Regelung schaffen, die erforderlich sei, um a) die Ablösung der Vorbehaltsrechte der Drei Westmächte herbeizuführen, b) den Schutz der freiheitlichen demokratischen Grundordnung und des Bestandes oder der Sicherung des Bundes oder eines Landes wirksam gewährleisten zu können.
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a) In den parlamentarischen Beratungen über Art. 10 Abs. 2 Satz 2 GG ist von keiner Seite eindeutig behauptet worden, daß die Drei Westmächte die Aufhebung ihrer Vorbehaltsrechte ausdrücklich von dieser bestimmten Verfassungsänderung abhängig gemacht haben. Hierauf braucht jedoch nicht näher eingegangen zu werden. Denn selbst eine ausdrückliche und präzise Forderung der Drei Westmächte könnte die verfassungswidrige Grundgesetzänderung nicht rechtfertigen.
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Das Bundesverfassungsgericht hat sich verschiedentlich über Fragen, die mit der Überleitung des Besatzungszustandes in den vollstaatlichen Status der Bundesrepublik zusammenhingen, ausgesprochen (z.B. BVerfGE 4, 157; 9, 63; 14, 1; 15, 337). Es hat dabei Regelungen hingenommen, die "näher an das Grundgesetz" heranführen oder nur eine zeitlich begrenzte und vorübergehende Abweichung unter der Voraussetzung einer Annäherung an den voll verfassungsmäßigen Zustand bedeuten. Es bedarf keiner weiteren Erläuterung, daß der Schritt vom verfassungsfremden Zustand der Postkontrolle durch Dienststellen fremder Mächte zu einer verfassungswidrigen Regelung "keinen Schritt näher an das Grundgesetz heranführt" und daß Art. 10 Abs. 2 Satz 2 GG kein Provisorium ist. Im übrigen hat das Bundesverfassungsgericht schon in der ersten Entscheidung (Band 4, 157 [169 f.]) betont, daß die Grenzen dort liegen, "wo unverzichtbare Grundprinzipien des Grundgesetzes klar verletzt würden, also etwa die in Art. 79 Abs. 3 oder 19 Abs. 2 GG bezeichneten Grundsätze". Wir haben dem nichts hinzuzufügen.
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b) In dem Urteil wird auf die besondere Bedeutung der grundgesetzlichen Entscheidung für die "streitbare Demokratie" hingewiesen, die einen Mißbrauch der Grundrechte zum Kampf gegen die freiheitliche Ordnung und den Bestand des Staates nicht hinnimmt. Niemand wird in Zweifel ziehen, daß der Bestand der Bundesrepublik und ihrer freiheitlichen demokratischen Grundordnung überragende Rechtsgüter darstellen, die es zu schützen und zu verteidigen gilt und denen sich notfalls Freiheitsrechte des Einzelnen unterordnen müssen.
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Im Falle eines kriegerischen Angriffs und des damit eintretenden – wenn auch möglicherweise länger dauernden, so doch einmal endenden – Ausnahmezustandes werden die Freiheitsrechte des Bürgers vorübergehend sehr weitgehend beschränkt werden müssen und dürfen. Anders liegen die Dinge jedoch, wenn es sich um die Maßnahmen handelt, die in der Normallage im "juristischen Alltag" (Dürig) zum Schutz der staatlichen Ordnung etwa in der Verbrechensbekämpfung oder in der Abwehr subversiver Tätigkeit von Agenten notwendig erscheinen. Hier sind der Einschränkung der Individualrechte Grenzen gesetzt. Denn die "streitbare Demokratie" verteidigt die bestehende rechtsstaatliche Verfassungsordnung, deren integraler Bestandteil die Grundrechte sind. Der Gesetzgeber, auch der verfassungsändernde, hat daher bei Regelung der Gefahrenabwehr – etwa im Bereich der Verbrechensbekämpfung oder der im Wesen nicht anders gearteten Tätigkeit der Geheimdienste – die Rechtsgüter gegeneinander abzuwägen unter Berücksichtigung des Wertes, den das Grundgesetz den Individualrechten beimißt. Die "Staatsraison" ist kein unbedingt vorrangiger Wert. Verkennt der Gesetzgeber die Schranken, so kehrt die "streitbare Demokratie" sich gegen sich selbst.
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Die Schranken, die nicht durchbrochen werden können, sind dieselben wie in Art. 79 Abs. 3 GG. Der unabänderliche Bestand der Verfassungsordnung darf – abgesehen von dem Ausnahmefall des Notstandes – nicht berührt werden. Wie in den Artikeln 9 Abs. 2, 18 und 21 GG manifestiert sich in Art. 79 Abs. 3 GG die "streitbare Demokratie". Auch diese Vorschrift ist – worauf Dürig in seinem Gutachten mit Recht hinweist – eine Norm des "Verfassungsschutzes". Es ist ein Widerspruch in sich selbst, wenn man zum Schutz der Verfassung unveräußerliche Grundsätze der Verfassung preisgibt.
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Der Spielraum des Gesetzgebers zur Regelung der Materie ist demzufolge insoweit begrenzt, als er den individuellen Rechtsschutz nicht ausschließen kann. Den besonderen Verhältnissen, unter denen sich angeblich die Tätigkeit der Geheimdienste abspielt, könnte durch besondere Vorkehrungen Rechnung getragen werden, etwa durch die Schaffung besonderer – von der Exekutive getrennter – Rechtsschutzorgane, also besonderer Gerichte, deren Verfahren trotz der unverzichtbaren Beteiligung des Betroffenen auf die Notwendigkeit der Geheimhaltung abzustellen wäre. Ob eine solche Regelung überhaupt eine Verfassungsänderung erfordert, kann dahingestellt bleiben.
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Die Verfassungsänderung ist "im Hinblick auf die zwangsläufig ziemlich weite Formulierung der Zwecke, die eine nicht anfechtbare Überwachung der Betroffenen rechtfertigen sollten" (vgl. die zu 1 b zitierte Begründung des letzten Regierungsentwurfs), um so bedenklicher, als der darin verwirklichte Gedanke im Wege der Verfassungsänderung auch in andere Bereiche übertragen werden kann. So könnte in Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG der einfache Gesetzgeber ermächtigt werden, in Abänderung des § 136 a StPO sog. "verschärfte" Vernehmungen zuzulassen, wenn dies dem Schutz der Verfassung oder des Bestandes des Staates dienlich wäre. So könnte Art. 13 GG dahin erweitert werden, daß unter bestimmten Voraussetzungen Haussuchungen ohne Zuziehung des Wohnungsinhabers und dritter Personen vorgenommen und dabei auch Geheimmikrofone unter Ausschluß des Rechtsweges angebracht werden dürften. Schließlich könnte man sogar daran denken, Art. 104 GG dahin einzuschränken, daß unter gewissen Voraussetzungen an die Stelle der richterlichen Anordnung und Kontrolle eine Kontrolle durch parlamentarische Gremien tritt. Die Gefahr einer solchen Entwicklung mag, in Anbetracht der Erfahrungen seit 1949, fernliegen. Man mag davon ausgehen, daß in einer freiheitlich-rechtsstaatlichen Demokratie alle Normen "korrekt und fair" angewendet und die Geheimdienste entsprechend kontrolliert werden. Ob dies aber für alle Zukunft gesichert ist, und ob der mit der Verfassungsänderung vollzogene erste Schritt auf dem bequemen Weg der Lockerung der bestehenden Bindungen nicht Folgen nach sich zieht, vermag niemand vorauszusehen. Deshalb sind wir der Auffassung, daß die Sperrvorschrift des Art. 79 Abs. 3 GG – zwar nicht extensiv, aber – streng und unnachgiebig ausgelegt und angewandt werden sollte. Sie ist nicht zuletzt dazu bestimmt, schon den Anfängen zu wehren.
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4. Angesichts der überragenden Bedeutung der vorstehend erörterten Frage sehen wir davon ab, noch auf das Gesetz zu Art. 10 Grundgesetz einzugehen. Den Ausführungen unter D 3 c des Urteils stimmen wir zu.
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Geller, Dr. v.Schlabrendorff, Dr. Rupp |