BVerfGE 34, 160 - Wahlsendung NPD |
Beschluß |
des Zweiten Senats vom 17. November 1972 |
- 2 BvR 820/72 - |
in dem Verfahren über die Verfassungsbeschwerde des Südwestfunks, Baden-Baden, Hans-Bredow-Straße - gesetzlich vertreten durch den Intendanten - gegen a) den Beschluß des Verwaltungsgerichts Freiburg vom 9. November 1972 - VS V 206/72 -, b) das Urteil des Verwaltungsgerichts Freiburg vom 16. November 1972 - VS V 206/72 -, hier: einweilige Anordung. |
Entscheidungsformel: |
Die Vollziehung des Beschlusses des Verwaltungsgerichts Freiburg vom 9. November 1972 - VS V 206/72 - und des Urteils des Verwaltungsgerichts Freiburg vom 16. November 1972 - VS V 206/72 - wird bis zur Entscheidung über die von dem Antragsteller eingelegte Verfassungsbeschwerde ausgesetzt. Solange sind die in der Arbeitsgemeinschaft der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten der Bundesrepublik (ARD) zusammengefaßten Landesrundfunkanstalten, nämlich der Bayerische Rundfunk, der Hessische Rundfunk, der Norddeutsche Rundfunk, Radio Bremen, der Saarländische Rundfunk, der Süddeutsche Rundfunk, der Südwestfunk und der Westdeutsche Rundfunk sowie das Zweite Deutsche Fernsehen nicht verpflichtet, der Nationaldemokratischen Partei Deutschlands über die im Gemeinschaftsprogramm "Deutsches Fernsehen" bereits gewährten 5 Minuten hinaus zusätzliche Sendezeit für Wahlpropaganda zur Verfügung zu stellen. |
Gründe: |
I. |
1. Die ARD hat den politischen Parteien, die sich am Wahlkampf für die Bundestagswahl am 19. November 1972 beteiligen, Sendezeiten für Wahlpropaganda eingeräumt, und zwar der CDU und der SPD je 9 mal 2,5 Minuten, der FPD und der CSU je 5 mal 2,5 Minuten, der DKP, der EFP und der NPD je 2 mal 2,5 Minuten.
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Durch Beschluß vom 9. November 1972 hat das Verwaltungsgericht Freiburg im Wege der einstweiligen Anordnung den in der ARD zusammengeschlossenen Rundfunkanstalten aufgegeben, der NPD bis zum 19. November 1972 über die bereits gewährten 5 Minuten hinaus zusätzliche Sendezeiten von insgesamt 10 Minuten für Wahlpropaganda zur Verfügung zu stellen. Mit Urteil vom 16. November 1972 hat es diese Entscheidung inhaltlich bestätigt.
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2. Hiergegen hat der Antragsteller am 16. November 1972 Verfassungsbeschwerde eingelegt; er rügt eine Verletzung des Art. 5 Abs. 1 GG und weist darauf hin, daß er durch die angegriffenen Entscheidungen genötigt wäre, die Chancengleichheit der politischen Parteien im Wahlkampf zu verletzen. Gleichzeitig beantragt er, im Wege der einstweiligen Anordnung gemäß § 32 BVerfGG festzustellen, daß die Rundfunkanstalten nicht verpflichtet seien, der NPD im Gemeinschaftsprogramm "Deutsches Fernsehen" bis zum 19. November 1972 über die bereits gewährten 5 Minuten hinaus zusätzliche Sendezeiten von insgesamt 10 Minuten für Wahlpropaganda zur Verfügung zu stellen, und die Vollstreckbarkeit der angefochtenen Entscheidungen einstweilen auszusetzen.
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II. |
Die beantragte Entscheidung kann ohne mündliche Verhandlung ergehen. Wegen der besonderen Dringlichkeit kann auch davon abgesehen werden, der NPD Gelegenheit zur Stellungnahme zu geben (§ 32 Abs. 2 BVerfGG).
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III. |
Der Antrag auf Erlaß der einstweiligen Anordnung ist zulässig.
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1. Eine einstweilige Anordnung darf nicht erlassen werden, wenn die Entscheidung über die Hauptsache nicht in die Zuständigkeit des Bundesverfassungsgerichts fällt oder wenn die in der Hauptsache begehrte Feststellung unzulässig oder offensichtlich unbegründet ist (BVerfGE 7, 367 [371]).
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Die von dem Antragsteller erhobene Verfassungsbeschwerde ist zulässig. Rundfunkanstalten können mit der Verfassungsbeschwerde eine Verletzung ihres Grundrechts auf Rundfunkfreiheit geltend machen (BVerfGE 31, 314 [321 f.]). Der Antragsteller ist durch die angefochtenen Entscheidungen unmittelbar betroffen.
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2. Durch eine einstweilige Anordnung darf zwar nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts die Hauptsache nicht vorweggenommen werden (BVerfGE 3, 41 [43]; 8, 42 [46]; 11, 306 [308]; 12, 276 [279]; 14, 192 [193]; 15, 77 [78]; 16, 220 [226]). Dies ist hier bei formaler Betrachtung auch nicht der Fall, da die Aufhebung der mit der Verfassungsbeschwerde angefochtenen Entscheidungen im Wege der einstweiligen Anordnung nicht beantragt ist. Die Aussetzung des Vollzugs bis zum Wahltag kommt jedoch in ihrer Wirkung einer Vorwegnahme der Hauptsache sehr nahe. Dadurch wird jedoch die Zulässigkeit des Antrages auf Erlaß einer einstweiligen Anordnung nicht in Frage gestellt, da unter den obwaltenden Umständen eine Entscheidung in der Hauptsache zu spät kommen würde und den Antragstellern in anderer Weise ausreichender Rechtsschutz nicht mehr gewährt werden könnte.
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IV. |
Das Bundesverfassungsgericht kann im Streitfall einen Zustand durch einstweilige Anordnung vorläufig regeln, wenn dies aus einem wichtigen Grund zum gemeinen Wohl dringend geboten ist (§ 32 Abs. 1 BVerfGG). Diese Voraussetzungen sind gegeben.
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Die Wahlpropaganda im Hörfunk und Fernsehen gehört heute zu den wichtigsten Mitteln im Wahlkampf der politischen Parteien. Die Vergabe von Hörfunk- und Fernsehzeiten zur Wahlpropaganda muß daher dem Grundsatz der gleichen Wettbewerbschancen der politischen Parteien als dem für den gesamten Wahlvorgang gültigen Maßstab Rechnung tragen. Die öffentliche Gewalt muß, wenn sie in den Bereich der politischen Willensbildung bei Wahlen in einer Weise eingreift, daß dadurch die Chancengleichheit der politischen Parteien verändert werden kann, die ihrem Ermessen in diesem Bereich besonders eng gezogenen Grenzen beachten. Ihr ist jede verschiedene Behandlung der Parteien verfassungskräftig versagt, die sich nicht durch einen besonderen zwingenden Grund rechtfertigen läßt (BVerfGE 14, 121 [133] mit weiteren Nachweisen). Der Grundsatz der gleichen Wettbewerbschancen fordert, daß die Rechtsordnung jeder Partei grundsätzlich die gleichen Möglichkeiten im Wahlkampf und Wahlverfahren und damit die gleiche Chance im Wettbewerb um die Wählerstimmen gewährleistet. Dies bedeutet jedoch nicht, daß allen an der Wahl beteiligten Parteien die gleiche Sendezeit einzuräumen ist. Mit dem Grundsatz der gleichen Wettbewerbschancen verträgt es sich vielmehr, daß die jeweilige politische Bedeutung der Parteien bis zu einem gewissen Grade bei der Bemessung der Sendezeiten zur Wahlpropaganda in Rechnung gestellt wird. Dabei sind unter anderem die jeweilige Bedeutung der Parteien, ihre Vertretung im Parlament, ihre Beteiligung an den Regierungen in Bund und Ländern sowie die Ergebnisse der vorhergehenden Wahlen zu berücksichtigen (BVerfGE 14, 121 [134 ff.]).
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In Anbetracht dessen liegt - auch bei Berücksichtigung des Vortrags der NPD im Ausgangsverfahren - die Annahme einer Verletzung des Grundsatzes der gleichen Wettbewerbschancen durch die Rundfunkanstalten nicht sehr nahe. Offenkundig ist indessen, daß der Vollzug der angefochtenen Entscheidungen zu einer nicht mehr vertretbaren Ungleichbehandlung führen würde. Da die Zuteilung weiterer Sendezeiten an die übrigen Parteien praktisch nicht mehr möglich wäre, würde die Gewährung von weiteren 10 Minuten Sendezeit an die NPD dazu führen, daß diese Partei, obwohl sie bei der letzten Bundestagswahl die 5 v. H.-Sperrklausel nicht zu überwinden vermochte und ihr Stimmenanteil bei späteren Wahlen erheblich zurückgegangen ist, mehr als 14% der Gesamtsendezeit für Wahlwerbung zur Verfügung hätte, während beispielsweise die nach den maßgeblichen Kriterien sehr viel "bedeutendere" FDP auf einen Anteil dieser Sendezeit von 13,1% beschränkt bliebe.
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Bei dieser Sachlage ergab eine Abwägung der Folgen, die eintreten würden, wenn die angegriffenen Entscheidungen vollzogen würden, gegen die Nachteile, die entstehen, wenn deren Vollzug ausgesetzt wird, daß der Erlaß der einstweiligen Anordnung zum gemeinen Wohl dringend geboten ist.
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Diese Entscheidung ist einstimmig ergangen.
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Seuffert v. Schlabrendorff Rupp Geiger Hirsch Rinck Rottmann |