BVerfGE 37, 271 - Solange I
Solange der Integrationsprozeß der Gemeinschaft nicht so weit fortgeschritten ist, daß das Gemeinschaftsrecht auch einen von einem Parlament beschlossenen und in Geltung stehenden formulierten Katalog von Grundrechten enthält, der dem Grundrechtskatalog des Grundgesetzes adäquat ist, ist nach Einholung der in Art. 177 EWGV geforderten Entscheidung des Europäischen Gerichtshofes die Vorlage eines Gerichts der Bundesrepublik Deutschland an das Bundesverfassungsgericht im Normenkontrollverfahren zulässig und geboten, wenn das Gericht die für es entscheidungserhebliche Vorschrift des Gemeinschaftsrechts in der vom Europäischen Gerichtshof gegebenen Auslegung für unanwendbar hält, weil und soweit sie mit einem der Grundrechte des Grundgesetzes kollidiert.
 
Beschluß
des Zweiten Senats vom 29. Mai 1974
-- BvL 52/71 --
in dem Verfahren zur Prüfung der Verfassungsmäßigkeit a) der in Art. 12 Abs. 1 Unterabsatz 3 Verordung Nr. 120/67/EWG des rates vom 13. Juni 1967 begründeten Verpflichtung zur Ausfuhr, der daran anknüpfenden Gestellung einer Kaution und deren Verfall bei Nichtdurchführung der Ausfuhr im Gültigkeitszeitraum, b) des Artikels 9 der zur Verordnung Nr. 120/67/EWG ergangenen Verordnung Nr. 473/67/EWG der Kommission vom 21. August 1967 - Aussetzungs- und Vorlagebeschluß des Verwaltungsgerichts Frankfurt/Main vom 24. November 1971 (II/2-E228/69)-.
Entscheidungsformel:
Der Anwendung des Artikels 12 Absatz 1 Unterabsatz 3 der Verordnung Nr. 120/67/EWG des rates vom 13. Juni 1967 und des Artikels 9 der Verordnung Nr. 473/67/EWG der Kommission vom 21. August 1967 in der Auslegung, die sich durch den Europäischen Gerichtshof erhalten haben, durch Behörden und Gerichte der Bundesrepublik Deutschland steht ein Grundrecht des Grundgesetzes nicht entgegen.
 
Gründe:
 
A.
Vor dem Verwaltungsgericht Frankfurt/Main klagt ein deutsches Import- und Exportunternehmen auf Aufhebung eines Bescheides der Einfuhr- und Vorratsstelle für Getreide- und Futtermittel, in dem eine Kaution in Höhe von 17 026,47 DM für verfallen erklärt worden ist, nachdem die Firma eine ihr erteilte Ausfuhrlizenz über 20 000 Tonnen Maisgrieß nur teilweise ausgenutzt hatte.
1. Der Bescheid ist auf Art. 12 Abs. 1 Unterabsatz 3 der Verordnung Nr. 120/67/EWG des Rates der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft vom 13. Juni 1967 (Amtsbl. der Europäischen Gemeinschaften S. 2269) und auf Art. 9 der Verordnung Nr. 473/ 67/EWG der Kommission der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft vom 21. August 1967 (Amtsbl. der Europäischen Gemeinschaften Nr. 204, S. 16) gestützt:
Art. 12 Abs. 1 VO Nr. 120/67/EWG lautet:
    "(1) Für alle Einfuhren der in Artikel 1 genannten Erzeugnisse in die Gemeinschaft sowie für alle Ausfuhren dieser Erzeugnisse aus der Gemeinschaft ist die Vorlage einer Einfuhr- bzw. Ausfuhrlizenz erforderlich, die von den Mitgliedstaaten jedem Antragsteller unabhängig vom Ort seiner Niederlassung in der Gemeinschaft erteilt wird. ...
    Die Erteilung dieser Lizenzen hängt von der Stellung einer Kaution ab, die die Erfüllung der Verpflichtung sichern soll, die Einfuhr oder Ausfuhr während der Gültigkeitsdauer der Lizenz durchzuführen; die Kaution verfällt ganz oder teilweise, wenn die Ein- bzw. Ausfuhr innerhalb dieser Frist nicht oder nur teilweise erfolgt ist."
Art. 8 Abs. 2 der Verordnung Nr. 473/67/EWG lautet:
    "(2) Wenn die Verpflichtung zur Einfuhr oder Ausfuhr während der Gültigkeitsdauer der Lizenz nicht erfüllt worden ist, verfällt vorbehaltlich von Art. 9 die Kaution ..."
Art. 9 der Verordnung Nr. 473/67/EWG lautet:
    "(1) Wird die Einfuhr oder Ausfuhr innerhalb der Gültigkeitsdauer der Lizenz durch einen als höhere Gewalt anzusehenden Umstand verhindert, und wenn die Berücksichtigung dieser Umstände beantragt wird:
    a) so ist in den in Absatz (2) Buchstaben a) bis d) genannten Fällen die Verpflichtung zur Einfuhr oder Ausfuhr erloschen, und die Kaution verfällt nicht. ...
    b) so wird in den in Absatz (2) Buchstaben e) bis h) genannten Fällen die Gültigkeitsdauer der Lizenz um die Frist verlängert, die die zuständige Stelle infolge dieses Umstands als notwendig erachtet.
    Auf Antrag kann die zuständige Stelle jedoch bestimmen, daß die Verpflichtung zur Einfuhr oder Ausfuhr erlischt und die Kaution nicht verfällt. ...
    (2) Folgende Umstände sind als höhere Gewalt im Sinne des Absatzes
    (1) anzusehen, und zwar in dem Maße, als sie der Grund für die Nichterfüllung der Verpflichtung des Ein- oder Ausführers sind:
    a) Krieg und Unruhen;
    b) staatliche Einfuhr- oder Ausfuhrverbote;
    c) Behinderung der Schiffahrt durch hoheitliche Maßnahmen;
    d) Schiffsuntergang;
    e) Havarie des Schiffes oder der Ware;
    f) Streik;
    g) Unterbrechung der Schiffahrt wegen Eisgangs oder wegen Niedrigwassers;
    h) Maschinenschaden.
    Nicht als höhere Gewalt im Sinne des Absatzes (1) ist die Anwendung der "extension clause" anzusehen.
    (3) Erkennen die zuständigen Stellen andere Umstände als die in Absatz (2) genannten als höhere Gewalt im Sinne des Absatzes (1) an, so teilen sie diese unverzüglich der Kommission mit. Dabei ist anzugeben, ob Absatz (1) Buchstabe a) oder Buchstabe b) angewandt wird.
    (4) ...
    (5) Der Importeur oder Exporteur weist die als höhere Gewalt angesehenen Umstände durch amtliche Unterlagen nach."
2. Das Verwaltungsgericht hat zunächst eine Vorabentscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften gemäß Art. 177 des Vertrags zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (im folgenden kurz: Vertrag) eingeholt, ob die zitierten Vorschriften der genannten Verordnungen nach dem Recht der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft rechtens sind. Im Urteil dieses Gerichtshofs vom 17. Dezember 1970 - Rechtssache 11/70 - wird die Rechtmäßigkeit der umstrittenen Verordnungen bestätigt (ebenso im Urteil vom 10. März 1971 - Rechtssache 38/70 -).
Dazu wird ausgeführt: Innerstaatliche Rechtsvorschriften könnten wegen der Eigenständigkeit des Gemeinschaftsrechts diesem nicht vorgehen. Die in ihrer Gültigkeit angezweifelten Vorschriften des Gemeinschaftsrechts seien ein notwendiges und angemessenes Mittel, um den Behörden die unentbehrliche Intervention auf dem Getreidemarkt zu ermöglichen. Die Kautionsregelung trage der Tatsache Rechnung, daß die Lizenzanträge aus freier Entscheidung des Unternehmens gestellt würden, und daß sie gegenüber anderen denkbaren Systemen den doppelten Vorzug der Einfachheit und Wirksamkeit habe. Gegenüber einer im öffentlichen Interesse der Gemeinschaft eingeführten Regelung müsse das ausschließlich auf das Interesse bestimmter Unternehmer abgestellte Verhalten zurücktreten. Der Kautionsverfall sei weder eine Geldbuße noch eine Strafe, sondern eine Sicherung für die Erfüllung einer freiwillig übernommenen Verpflichtung. Die Ausnahmeregelung für den Fall höherer Gewalt sei eine Bestimmung, die geeignet sei, das normale Funktionieren der Getreidemarktordnung zu gewährleisten, ohne die Importeure und Exporteure über Gebühr zu belasten. Der Begriff der höheren Gewalt sei elastisch, da er sich nicht auf die Fälle der absoluten Unmöglichkeit beschränke, sondern auch Fälle einer ungewöhnlichen, vom Willen des Lizenzinhabers unabhängigen Lage umfasse, deren Folgen trotz aller aufgewandten Sorgfalt nur um den Preis unverhältnismäßiger Opfer vermieden werden könnten.
3. Das Verwaltungsgericht hat dann mit Beschluß vom 24. November 1971 sein Verfahren ausgesetzt und gemäß Art. 100 Abs. 1 GG die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts begehrt, ob die nach dem Europäischen Gemeinschaftsrecht bestehende Ausfuhrverpflichtung und die damit verbundene Pflicht zur Kautionshinterlegung mit dem Grundgesetz vereinbar sei, und ob bei Bejahung dieser Frage die Regelung, daß nur bei höherer Gewalt die Kaution freizugeben sei, mit dem Grundgesetz vereinbar sei.
Es ist der Auffassung, die von ihm angegriffenen Vorschriften des Gemeinschaftsrechts seien auch in der Auslegung des Europäischen Gerichtshofs mit dem Grundgesetz unvereinbar. Sei der Auffassung des Europäischen Gerichtshofs zu folgen, müsse die Klage abgewiesen werden, weil ein Fall höherer Gewalt nicht vorliege; sei die Auffassung des vorlegenden Gerichts zutreffend, müsse die Klage Erfolg haben. Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts sei also entscheidungserheblich.
Das Europäische Gemeinschaftsrecht könne auf seine Vereinbarkeit mit dem Grundgesetz überprüft werden; ihm gebühre nicht der Vorrang vor allem innerstaatlichen Recht. Zuständig für die Kontrolle sei das Bundesverfassungsgericht. Zwar handle es sich bei den von Organen der Gemeinschaft erlassenen Verordnungen um Normen einer autonomen Rechtsordnung, auf die Art. 100 Abs. 1 GG seinem Wortlaut nach nicht anwendbar sei. Die Zuständigkeit des Bundesverfassungsgerichts ergebe sich jedoch zum einen aus der unmittelbaren innerstaatlichen Wirkung der Verordnungen gemäß Art. 189 Abs. 2 des Vertrags und zum anderen aus der Erwägung, daß es eine nationale Instanz für die Normenkontrolle geben müsse, wenn man die Überprüfung des Gemeinschaftsrechts an den Strukturprinzipien des nationalen Verfassungsrechts für zulässig halte. Die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs stehe einer Prüfung der in Frage stehenden Bestimmungen durch das Bundesverfassungsgericht nicht entgegen; der vom Europäischen Gerichtshof angewandte Grundsatz der Verhältnismäßigkeit sei nicht in allen Punkten mit dem für das deutsche Verfassungsrecht entwickelten Grundsatz identisch.
Die in Frage stehende Kautionsregelung taste die wirtschaftliche Freiheit der Exporteure in ihrem Wesensgehalt an. Hier werde ein Mittel der Marktlenkung zur statistischen Erfassung der Marktlage eingesetzt. Das angestrebte Ziel könne auch mit weniger einschneidenden Mitteln erreicht werden.
Verfassungswidrig sei außerdem, daß die Kaution selbst dann verfalle, wenn den Exporteur an der Nichtausnutzung der Lizenz kein Verschulden treffe.
4. Der Bundesminister der Justiz, der sich für die Bundesregierung geäußert hat, hält die Vorlage für unzulässig, weil Art. 100 Abs. 1 GG auf Verordnungen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft weder unmittelbar noch analog anwendbar sei.
Ergänzend hat der Bundesminister der Justiz folgende Erwägungen vorgetragen: Die Unzulässigkeit der Normenkontrolle nach Art. 100 Abs. 1 GG bedeute nicht, daß jedes Gericht der Bundesrepublik Deutschland über die Unanwendbarkeit von Bestimmungen des Gemeinschaftsrechts, die es für mit dem Grundgesetz unvereinbar halte, selbst entscheiden dürfe. Vielmehr müsse das Gericht in einem solchen Fall gemäß Art. 100 Abs. 1 GG dem Bundesverfassungsgericht die Frage vorlegen, ob Art. 1 des Vertragsgesetzes zum EWG-Vertrag in Verbindung mit den Kompetenznormen des Vertrags mit dem Inhalt, mit dem die Gemeinschaftsorgane durch die in Frage stehende Verordnung von ihnen Gebrauch gemacht hätten, mit dem Grundgesetz vereinbar seien. Das Verwaltungsgericht hätte dem Bundesverfassungsgericht somit die Frage der Verfassungsmäßigkeit des Vertragsgesetzes zum EWG-Vertrag in Verbindung mit den bei Erlaß der Verordnungen Nr. 120/67/EWG und Nr. 473/67/EWG in Anspruch genommenen Kompetenznormen des Vertrags vorlegen können und müssen. Gegen eine Umdeutung des Vorlagebeschlusses in diesem Sinne bestünden jedoch erhebliche Bedenken, weil das Verwaltungsgericht erkennbar das Zustimmungsgesetz für verfassungsmäßig halte und bewußt nicht das Vertragsgesetz, sondern die Bestimmungen des Gemeinschaftsrechts selbst zur Prüfung vorgelegt habe.
5. Der VII. Senat des Bundesverwaltungsgerichts hat mitgeteilt, daß er in seiner bisherigen Rechtsprechung zu der Verfassungsmäßigkeit der in Rede stehenden Vorschriften noch nicht Stellung genommen habe. In einem Fall, der die gleichlautenden Bestimmungen der Verordnung Nr. 19/1962 betroffen habe, sei das Gericht stillschweigend von der Rechtmäßigkeit dieser Vorschrift ausgegangen.
6. Die Klägerin des Ausgangsverfahrens hatte Gelegenheit zur Äußerung.
 
B. -- I.
Die Vorlage ist zulässig.
1. Für diese Entscheidung ist vorgreiflich die nähere, wenn auch noch nicht abschließende Bestimmung des Verhältnisses von Verfassungsrecht der Bundesrepublik Deutschland und Europäischem Gemeinschaftsrecht, das auf der Grundlage des Vertrags zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft entstanden ist (im folgenden kurz: Gemeinschaftsrecht). Der vorliegende Fall zwingt nur zur Klärung des Verhältnisses zwischen den Grundrechtsgarantien des Grundgesetzes und den Vorschriften des sekundären Gemeinschaftsrechts der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, deren Vollzug in der Hand von Verwaltungsbehörden der Bundesrepublik Deutschland liegt. Denn dafür, daß Vorschriften des Vertrags zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, also primäres Gemeinschaftsrecht, mit Bestimmungen des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland kollidieren könnten, gibt es im Augenblick keinen Anhalt. Ebenso kann offenbleiben, ob für das Verhältnis des Rechts des Grundgesetzes außerhalb seines Grundrechtskatalogs zum Gemeinschaftsrecht dasselbe gilt, was nach den folgenden Darlegungen für das Verhältnis zwischen den Grundrechtsgarantien des Grundgesetzes und dem sekundären Gemeinschaftsrecht gilt.
2. Der Senat hält - insoweit in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs - an seiner Rechtsprechung fest, daß das Gemeinschaftsrecht weder Bestandteil der nationalen Rechtsordnung noch Völkerrecht ist, sondern eine eigenständige Rechtsordnung bildet, die aus einer autonomen Rechtsquelle fließt (BVerfGE 22, 293 [296]; 31, 145 [173 f.]); denn die Gemeinschaft ist kein Staat, insbesondere kein Bundesstaat, sondern "eine im Prozeß fortschreitender Integration stehende Gemeinschaft eigener Art", eine "zwischenstaatliche Einrichtung" im Sinne des Art. 24 Abs. 1 GG.
Daraus folgt, daß grundsätzlich die beiden Rechtskreise unabhängig voneinander und nebeneinander in Geltung stehen und daß insbesondere die zuständigen Gemeinschaftsorgane einschließlich des Europäischen Gerichtshofs über die Verbindlichkeit, Auslegung und Beachtung des Gemeinschaftsrechts und die zuständigen nationalen Organe über die Verbindlichkeit, Auslegung und Beachtung des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland zu befinden haben. Weder kann der Europäische Gerichtshof verbindlich entscheiden, ob eine Regel des Gemeinschaftsrechts mit dem Grundgesetz vereinbar ist, noch das Bundesverfassungsgericht, ob und mit welchem Inhalt eine Regel des sekundären Gemeinschaftsrechts mit dem primären Gemeinschaftsrecht vereinbar ist. Das führt zu keinerlei Schwierigkeiten, solange beide Rechtsordnungen inhaltlich nicht miteinander in Konflikt geraten. Deshalb erwächst aus dem besonderen Verhältnis, das zwischen der Gemeinschaft und ihren Mitgliedern durch die Gründung der Gemeinschaft entstanden ist, für die zuständigen Organe, insbesondere für die beiden zur Rechtskontrolle berufenen Gerichte - den Europäischen Gerichtshof und das Bundesverfassungsgericht - zunächst die Pflicht, sich um die Konkordanz beider Rechtsordnungen in ihrer Rechtsprechung zu bemühen. Nur soweit das nicht gelingt, kann überhaupt der Konflikt entstehen, der zwingt, die Konsequenzen aus dem dargelegten grundsätzlichen Verhältnis zwischen den beiden Rechtskreisen zu ziehen.
Für diesen Fall genügt es nicht, einfach vom "Vorrang" des Gemeinschaftsrechts gegenüber dem nationalen Verfassungsrecht zu sprechen, um das Ergebnis zu rechtfertigen, daß sich Gemeinschaftsrecht stets gegen das nationale Verfassungsrecht durchsetzen müsse, weil andernfalls die Gemeinschaft in Frage gestellt würde. So wenig das Völkerrecht durch Art. 25 GG in Frage gestellt wird, wenn er bestimmt, daß die allgemeinen Vorschriften des Völkerrechts nur dem einfachen Bundesrecht vorgehen, und so wenig eine andere (fremde) Rechtsordnung in Frage gestellt wird, wenn sie durch den ordre public der Bundesrepublik Deutschland verdrängt wird, so wenig wird das Gemeinschaftsrecht in Frage gestellt, wenn ausnahmsweise das Gemeinschaftsrecht sich gegenüber zwingendem Verfassungsrecht nicht durchsetzen läßt. Die Bindung der Bundesrepublik Deutschland (und aller Mitgliedstaaten) durch den Vertrag ist nach Sinn und Geist der Verträge nicht einseitig, sondern bindet auch die durch sie geschaffene Gemeinschaft, das ihre zu tun, um den hier unterstellten Konflikt zu lösen, also nach einer Regelung zu suchen, die sich mit einem zwingenden Gebot des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland verträgt. Die Berufung auf einen solchen Konflikt ist also nicht schon eine Vertragsverletzung, sondern setzt den Vertragsmechanismus innerhalb der europäischen Organe in Gang, der den Konflikt politisch löst.
3. Art. 24 GG spricht von der Übertragung von Hoheitsrechten auf zwischenstaatliche Einrichtungen. Das kann nicht wörtlich genommen werden. Art. 24 GG muß wie jede Verfassungsbestimmung ähnlich grundsätzlicher Art im Kontext der Gesamtverfassung verstanden und ausgelegt werden. Das heißt, er eröffnet nicht den Weg, die Grundstruktur der Verfassung, auf der ihre Identität beruht, ohne Verfassungsänderung, nämlich durch die Gesetzgebung der zwischenstaatlichen Einrichtung zu ändern. Gewiß können die zuständigen Gemeinschaftsorgane Recht setzen, das die deutschen zuständigen Verfassungsorgane nach dem Recht des Grundgesetzes nicht setzen könnten und das gleichwohl unmittelbar in der Bundesrepublik Deutschland gilt und anzuwenden ist. Aber Art. 24 GG begrenzt diese Möglichkeit, indem an ihm eine Änderung des Vertrags scheitert, die die Identität der geltenden Verfassung der Bundesrepublik Deutschland durch Einbruch in die sie konstituierenden Strukturen aufheben würde. Und dasselbe würde für Regelungen des sekundären Gemeinschaftsrechts gelten, die aufgrund einer entsprechenden Interpretation des geltenden Vertrags getroffen und in derselben Weise die dem Grundgesetz wesentlichen Strukturen berühren würden. Art. 24 GG ermächtigt nicht eigentlich zur Übertragung von Hoheitsrechten, sondern öffnet die nationale Rechtsordnung (in der angegebenen Begrenzung) derart, daß der ausschließliche Herrschaftsanspruch der Bundesrepublik Deutschland im Geltungsbereich des Grundgesetzes zurückgenommen und der unmittelbaren Geltung und Anwendbarkeit eines Rechts aus anderer Quelle innerhalb des staatlichen Herrschaftsbereichs Raum gelassen wird.
4. Ein unaufgebbares, zur Verfassungsstruktur des Grundgesetzes gehörendes Essentiale der geltenden Verfassung der Bundesrepublik Deutschland ist der Grundrechtsteil des Grundgesetzes. Ihn zu relativieren, gestattet Art. 24 GG nicht vorbehaltlos. Dabei ist der gegenwärtige Stand der Integration der Gemeinschaft von entscheidender Bedeutung. Sie entbehrt noch eines unmittelbar demokratisch legitimierten, aus allgemeinen Wahlen hervorgegangenen Parlaments, das Gesetzgebungsbefugnisse besitzt und dem die zur Gesetzgebung zuständigen Gemeinschaftsorgane politisch voll verantwortlich sind; sie entbehrt insbesondere noch eines kodifizierten Grundrechtskatalogs, dessen Inhalt ebenso zuverlässig und für die Zukunft unzweideutig feststeht wie der des Grundgesetzes und deshalb einen Vergleich und eine Entscheidung gestattet, ob derzeit der in der Gemeinschaft allgemein verbindliche Grundrechtsstandard des Gemeinschaftsrechts auf die Dauer dem Grundrechtsstandard des Grundgesetzes, unbeschadet möglicher Modifikationen, derart adäquat ist, daß die angegebene Grenze, die Art. 24 GG zieht, nicht überschritten wird. Solange diese Rechtsgewißheit, die allein durch die anerkanntermaßen bisher grundrechtsfreundliche Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs nicht gewährleistet ist, im Zuge der weiteren Integration der Gemeinschaft nicht erreicht ist, gilt der aus Art. 24 GG hergeleitete Vorbehalt. Es handelt sich also um eine rechtliche Schwierigkeit, die ausschließlich aus dem noch in Fluß befindlichen fortschreitenden Integrationsprozeß der Gemeinschaft entsteht und mit der gegenwärtigen Phase des Übergangs beendet sein wird.
Vorläufig entsteht also in dem unterstellten Fall einer Kollision von Gemeinschaftsrecht mit einem Teil des nationalen Verfassungsrechts, näherhin der grundgesetzlichen Grundrechtsgarantien, die Frage, welches Recht vorgeht, das andere also verdrängt. In diesem Normenkonflikt setzt sich die Grundrechtsgarantie des Grundgesetzes durch, solange nicht entsprechend dem Vertragsmechanismus die zuständigen Organe der Gemeinschaft den Normenkonflikt behoben haben.
5. Aus dem dargelegten Verhältnis von Grundgesetz und Gemeinschaftsrecht folgt für die Zuständigkeiten des Europäischen Gerichtshofs und des Bundesverfassungsgerichts:
a) Der Europäische Gerichtshof ist, entsprechend den Kompetenzregeln des Vertrags, zuständig, über die Rechtsgültigkeit der Normen des Gemeinschaftsrechts (einschließlich der nach seiner Auffassung existierenden ungeschriebenen Normen des Gemeinschaftsrechts) und ihre Auslegung zu entscheiden. Inzidentfragen aus dem nationalen Recht der Bundesrepublik Deutschland (oder eines anderen Mitgliedstaates) entscheidet er jedenfalls nicht mit Verbindlichkeit für diesen Staat. Ausführungen in der Begründung seiner Entscheidungen, daß ein bestimmter Inhalt einer Gemeinschaftsnorm inhaltlich übereinstimme oder vereinbar sei mit einer Verfassungsvorschrift des nationalen Rechts - hier: mit einer Grundrechtsgarantie des Grundgesetzes -, stellen unverbindliche obiter dicta dar.
Im Rahmen dieser Kompetenz stellt der Gerichtshof mit Verbindlichkeit für alle Mitgliedstaaten den Inhalt des Gemeinschaftsrechts fest. Dementsprechend haben die Gerichte der Bundesrepublik Deutschland unter den Voraussetzungen des Art. 177 des Vertrags die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs einzuholen, bevor sie die Frage der Vereinbarkeit der für sie entscheidungserheblichen Norm des Gemeinschaftsrechts mit Grundrechtsgarantien des Grundgesetzes aufwerfen.
b) Das Bundesverfassungsgericht entscheidet, wie sich aus den vorangegangenen Darlegungen ergibt, niemals über die Gültigkeit oder Ungültigkeit einer Vorschrift des Gemeinschaftsrechts. Es kann höchstens zu dem Ergebnis kommen, daß eine solche Vorschrift von den Behörden oder Gerichten der Bundesrepublik Deutschland nicht angewandt werden darf, soweit sie mit einer Grundrechtsvorschrift des Grundgesetzes kollidiert. Inzidentfragen aus dem Gemeinschaftsrecht kann es (ebenso wie umgekehrt der Europäische Gerichtshof) selbst entscheiden, sofern nicht die Voraussetzungen des auch für das Bundesverfassungsgericht verbindlichen Art. 177 des Vertrags vorliegen oder schon eine nach dem Gemeinschaftsrecht das Bundesverfassungsgericht bindende Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs eingreift.
6. Grundrechte können mehrfach rechtlich garantiert sein und dementsprechend mehrfachen gerichtlichen Schutz genießen. Der Europäische Gerichtshof hält sich, wie seine Judikatur ausweist, auch für zuständig, die Grundrechte nach Maßgabe des Gemeinschaftsrechts durch seine Rechtsprechung zu schützen. Die im Grundgesetz garantierten Grundrechte zu schützen, ist dagegen allein das Bundesverfassungsgericht im Rahmen der ihm im Grundgesetz eingeräumten Kompetenzen berufen. Diese verfassungsrechtliche Aufgabe kann ihm kein anderes Gericht abnehmen. Soweit also danach Bürger der Bundesrepublik Deutschland einen Anspruch auf gerichtlichen Schutz ihrer im Grundgesetz garantierten Grundrechte haben, kann ihr Status keine Beeinträchtigung erleiden nur deshalb, weil sie durch Rechtsakte von Behörden oder Gerichten der Bundesrepublik Deutschland unmittelbar betroffen werden, die sich auf Gemeinschaftsrecht stützen. Andernfalls entstünde gerade für die elementarsten Statusrechte des Bürgers eine empfindliche Lücke des gerichtlichen Schutzes. Im übrigen gilt für die Verfassung einer Gemeinschaft von Staaten mit einer freiheitlich-demokratischen Verfassung im Zweifel grundsätzlich nichts anderes wie für einen freiheitlichdemokratisch verfaßten Bundesstaat: Es schadet der Gemeinschaft und ihrer freiheitlichen (und demokratischen) Verfassung nicht, wenn und soweit ihre Mitglieder in ihrer Verfassung die Freiheitsrechte ihrer Bürger stärker verbürgen als die Gemeinschaft es tut.
7. Im einzelnen bemißt sich der Gerichtsschutz durch das Bundesverfassungsgericht ausschließlich nach dem Verfassungsrecht der Bundesrepublik Deutschland und der näheren Regelung im Bundesverfassungsgerichtsgesetz:
a) Im Normenkontrollverfahren auf Vorlage eines Gerichts geht es immer um die Überprüfung einer gesetzlichen Vorschrift. Da das Gemeinschaftsrecht die im nationalen Recht herkömmliche Unterscheidung zwischen Vorschriften eines förmlichen Gesetzes und Vorschriften einer auf ein förmliches Gesetz gestützten Verordnung nicht kennt, ist jede Form einer Verordnung der Gemeinschaft im Sinne der Verfahrensvorschriften für das Bundesverfassungsgericht eine gesetzliche Vorschrift.
b) Eine erste Schranke ergibt sich für die Zuständigkeit des Bundesverfassungsgerichts daraus, daß es nur Akte der deutschen Staatsgewalt, also Entscheidungen der Gerichte, Verwaltungsakte der Behörden und Maßnahmen der Verfassungsorgane der Bundesrepublik Deutschland zum Gegenstand seiner Kontrolle machen kann. Deshalb hält das Bundesverfassungsgericht die Verfassungsbeschwerde eines Bürgers der Bundesrepublik Deutschland unmittelbar gegen eine Verordnung der Gemeinschaft für unzulässig (BVerfGE 22, 293 [297]).
c) Vollzieht eine Verwaltungsbehörde der Bundesrepublik Deutschland oder handhabt ein Gericht der Bundesrepublik Deutschland eine Verordnung der Gemeinschaft, so liegt darin Ausübung deutscher Staatsgewalt; und dabei sind Verwaltungsbehörde und Gerichte auch an das Verfassungsrecht der Bundesrepublik Deutschland gebunden. Was den Grundrechtsschutz anlangt, vollzieht er sich nach dem Verfahrensrecht des Bundesverfassungsgerichts, wenn man von der Verfassungsbeschwerde absieht, die erst nach Erschöpfung des Rechtswegs zulässig ist - die Ausnahme des § 90 Abs. 2 BVerfGG kommt bei der Anfechtung eines auf eine Vorschrift des Gemeinschaftsrechts gestützten Verwaltungsakts kaum je in Betracht -, im Wege der Gerichtsvorlage im sog. Normenkontrollverfahren vor dem Bundesverfassungsgericht. Dieses Verfahren bedarf im Hinblick auf die dargelegten Besonderheiten des Verhältnisses von nationalem Verfassungsrecht und Gemeinschaftsrecht einiger Modifikationen, wie sie das Bundesverfassungsgericht auch sonst in der Vergangenheit in seiner Rechtsprechung für notwendig gehalten hat. So hat es beispielsweise im Rahmen einer Normenkontrolle die bestehende Rechtslage im Hinblick auf einen Verfassungsauftrag als nicht mit dem Grundgesetz vereinbar festgestellt und eine Frist zur Behebung des Mangels gesetzt; so hat es sich mit der Feststellung der Unvereinbarkeit einer Regelung mit dem Gleichheitssatz begnügt, ohne die Regelung für nichtig zu erklären; so hat es eine von den Besatzungsmächten in Kraft gesetzte Regelung als mit dem Grundgesetz in Widerspruch stehend erklärt und die Bundesregierung verpflichtet, darauf hinzuwirken, daß sie durch den deutschen Gesetzgeber mit dem Grundgesetz in Einklang gebracht werden kann; so hat es die vorbeugende Normenkontrolle gegenüber Vertragsgesetzen entwickelt. Im Zuge dieser Rechtsprechung liegt es, wenn sich das Bundesverfassungsgericht in Fällen der hier in Rede stehenden Art darauf beschränkt, die Unanwendbarkeit einer Vorschrift des Gemeinschaftsrechts durch die Verwaltungsbehörden oder Gerichte der Bundesrepublik Deutschland festzustellen, soweit sie mit einer Grundrechtsgarantie des Grundgesetzes kollidiert.
Die Konzentrierung dieser Entscheidung beim Bundesverfassungsgericht ist nicht nur verfassungsrechtlich aus demselben Grund geboten, der zum sog. Verwerfungsmonopol des Gerichts geführt hat, sondern liegt auch im Interesse der Gemeinschaft und ihres Rechts. Nach dem Grundgedanken des Art. 100 Abs. 1 GG ist es Aufgabe des Bundesverfassungsgerichts zu verhüten, daß jedes deutsche Gericht sich über den Willen des Gesetzgebers hinwegsetzt, indem es die von ihm beschlossenen Gesetze nicht anwendet, weil sie nach Auffassung des Gerichts gegen das Grundgesetz verstoßen (BVerfGE 1, 184 [197]; 2, 124 [129]). Das innerstaatliche Gesetzesrecht erhält damit einen Geltungsschutz gegenüber Gerichten, die ihm aus verfassungsrechtlichen Gründen die Gültigkeit versagen möchten. Ähnlich verhält es sich mit der Regelung des Art. 100 Abs. 2 GG, nach der bei Zweifeln, ob eine allgemeine Regel der Völkerrechts Rechte und Pflichten für den Einzelnen erzeugt, das Bundesverfassungsgericht angerufen werden muß. Deshalb erfordert es der Grundgedanke des Art. 100 GG, die Geltung des Gemeinschaftsrechts in der Bundesrepublik Deutschland in gleicher Weise wie das nationale Recht vor Beeinträchtigung zu schützen.
Das Ergebnis ist: Solange der Integrationsprozeß der Gemeinschaft nicht so weit fortgeschritten ist, daß das Gemeinschaftsrecht auch einen von einem Parlament beschlossenen und in Geltung stehenden formulierten Katalog von Grundrechten enthält, der dem Grundrechtskatalog des Grundgesetzes adäquat ist, ist nach Einholung der in Art. 177 des Vertrags geforderten Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs die Vorlage eines Gerichts der Bundesrepublik Deutschland an das Bundesverfassungsgericht im Normenkontrollverfahren zulässig und geboten, wenn das Gericht die für es entscheidungserhebliche Vorschrift des Gemeinschaftsrechts in der vom Europäischen Gerichtshof gegebenen Auslegung für unanwendbar hält, weil und soweit sie mit einem der Grundrechte des Grundgesetzes kollidiert.
II.
Die Fortbildung des Verfahrensrechts des Bundesverfassungsgerichts kann ohne Anrufung des Plenums getroffen werden, weil sie nicht in Widerspruch zu einer Entscheidung des Ersten Senats dieses Gerichts steht:
Der Erste Senat hat bisher entschieden, daß eine Maßnahme eines fremden Staats nicht der Kontrolle des Bundesverfassungsgerichts unterliegt, und daß auch eine Maßnahme, die auf ein Militärregierungsgesetz gestützt und von einer deutschen Behörde "auf Anordnung der Militärregierung" ergangen ist, keine Maßnahme der deutschen öffentlichen Gewalt ist und deshalb ebenfalls der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts entzogen ist (BVerfGE 1, 10). Aus dem gleichen Grund hat er die Verfassungsbeschwerde, die sich mittelbar oder unmittelbar gegen Entscheidungen eines obersten Rückerstattungsgerichts wendet, für unzulässig gehalten (BVerfGE 6, 15; 22, 91) und eine Verfassungsbeschwerde gegen eine rein innerkirchliche Maßnahme als unzulässig verworfen (BVerfGE 18, 385). Er hat außerdem entschieden, daß das Bundesverfassungsgericht nicht zuständig ist, deutsches Recht (nämlich ein Durchführungsgesetz zum Kontrollratsgesetz) auf seine Vereinbarkeit mit dem Besatzungsrecht zu überprüfen (BVerfGE 3, 368). In diesem Zusammenhang heißt es wörtlich: "Das Grundgesetz und das Gesetz über das Bundesverfassungsgericht enthalten keine verfassungsgerichtliche Generalklausel für die Zuständigkeit des Bundesverfassungsgerichts. ... Für die Prüfung deutschen Rechts auf seine Vereinbarkeit mit Besatzungsrecht ist dem Bundesverfassungsgericht keine besondere Zuständigkeit zugewiesen. Das Bundesverfassungsrecht und das im Rahmen des Grundgesetzes geltende Bundesrecht sind für das Bundesverfassungsgericht einziger Prüfungsmaßstab. Seine Zuständigkeit kann nicht aus rechtspolitischen Erwägungen über die positive Zuständigkeitsregelung hinaus erweitert werden" (BVerfGE 3, 368 [376 f.]). In einem Normenkontrollverfahren, das eine Bestimmung der 42. Durchführungsverordnung zum Umstellungsgesetz betraf, hat der Erste Senat weiter entschieden, daß die angegriffene Bestimmung Besatzungsrecht sei und Besatzungsrecht auf seine Vereinbarkeit mit dem Grundgesetz nicht geprüft werden könne (BVerfGE 4, 45). Dieser Entscheidung folgen aber aus der Zeit nach Inkrafttreten des Pariser Vertragswerks die Entscheidungen, in denen Besatzungsrecht auf seine Vereinbarkeit mit dem Grundgesetz überprüft und den zuständigen Verfassungsorganen der Bundesrepublik Deutschland aufgegeben wird, nach entsprechender Konsultation der Drei Mächte den Inhalt des Gesetzes mit dem Grundgesetz in Übereinstimmung zu bringen (BVerfGE 15, 337 und Entscheidung vom 14. November 1973 - 1 BvR 719/69 - betreffend Ehegesetz [BVerfGE 36, 146]). In der Entscheidung vom 18. Oktober 1967 (BVerfGE 22, 293) wird schließlich, wie schon bemerkt, eine Verfassungsbeschwerde unmittelbar gegen Verordnungen des Rates oder der Kommission der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft als unzulässig verworfen, weil sie sich nicht gegen einen Akt der deutschen, an das Grundgesetz gebundenen öffentlichen Gewalt richtet. In diesem Zusammenhang wird ausgeführt: Die Zulässigkeit könne nicht begründet werden mit der Erwägung, es bestehe ein dringendes Bedürfnis für einen verfassungsgerichtlichen Rechtsschutz, weil die im Gemeinschaftsrecht gebotenen Möglichkeiten nicht ausreichten, um einen hinlänglichen Schutz der Grundrechte der Angehörigen von Mitgliedstaaten zu gewährleisten. Die Zuständigkeit des Bundesverfassungsgerichts könne auch durch ein noch so dringendes rechtspolitisches Bedürfnis nicht erweitert werden. Danach folgt der Satz: "Nicht entschieden ist damit, ob und in welchem Umfang das Bundesverfassungsgericht im Rahmen eines zulässigerweise bei ihm anhängig gemachten Verfahrens Gemeinschaftsrecht an den Grundrechtsnormen des Grundgesetzes messen kann ..." Das hänge u. a. davon ab, "ob und in welchem Maße die Bundesrepublik Deutschland bei der Übertragung von Hoheitsrechten nach Art. 24 Abs. 1 GG die Gemeinschaftsorgane von solcher Bindung (an Grundrechte) freistellen konnte".
Mit keiner der genannten Entscheidungen des Ersten Senats und ihrer tragenden Begründung stellt sich die unter I, 1 bis 7 gegebene Begründung der vorliegenden Entscheidung in Widerspruch. Sie knüpft vielmehr an die Begründung der Entscheidung des Ersten Senats vom 30. Juli 1952 (BVerfGE 1, 396) an, die das Verfahrensrecht der Normenkontrolle fortgebildet hat, indem sie die vorbeugende Normenkontrolle für Vertragsgesetze entwickelt und dabei auf die Notwendigkeit abgehoben hat, für diese Fälle das Verfahren entsprechend der Eigenart der Vertragsgesetz zu modifizieren (BVerfGE 1, 396 [410]) und an die weiteren Entscheidungen dieses Senats, in denen Besatzungsrecht auf seine Übereinstimmung mit dem Grundgesetz geprüft und dem Gesetzgeber aufgegeben wurde, durch entsprechende Verhandlungen mit den Drei Mächten die Voraussetzungen zu schaffen, das verfassungswidrige besatzungsrechtliche Gesetz inhaltlich mit dem Grundgesetz in Übereinstimmung zu bringen. Die vorliegende Entscheidung führt außerdem die eigene Rechtsprechung des Zweiten Senats weiter, die sich bisher über das Verhältnis von Gemeinschaftsrecht und einfachem Recht der Bundesrepublik Deutschland ausläßt (BVerfGE 29, 198; 31, 145).
III.
Die angegriffene Regelung des Gemeinschaftsrechts in der vom Europäischen Gerichtshof gegebenen Auslegung kollidiert nicht mit einer Grundrechtsgarantie des Grundgesetzes, weder mit Art. 12 noch mit Art. 2 Abs. 1 GG.
1. Vorweg ist zu bemerken, daß der im System der Lizenzierung mit Kautionsgestellung für Ausfuhr und Einfuhr gewisser Erzeugnisse und Waren vorgesehene Verfall der Kaution nicht als ein durch staatliche Anordnung auferlegtes Übel für vorwerfbares rechtswidriges Verhalten ähnlich einer Strafe oder eines Bußgeldes gewertet werden kann. In diesem System ist vielmehr eine der Privatrechtsordnung bekannte Rechtsfigur eingebaut, die dem Charakter von Risikogeschäften Rechnung trägt (z.B. Termingeschäfte, Abzahlungsgeschäfte, Geschäfte über wiederkehrende Lieferung von Waren usw.). Solchen Geschäften ist die Gestellung einer Kaution und der Verfall einer Kaution unter den vertraglich vereinbarten Bedingungen nicht fremd. Auch bei der Ausfuhr und Einfuhr von Gütern, die der Regelung der angegriffenen Vorschriften unterfallen, weiß der interessierte Kaufmann, welches Risiko er eingeht, und hat die Freiheit der Entscheidung, ob er den Vertrag unter den - hier nicht vereinbarten, aber gesetzlich festgelegten - Bedingungen eingehen will oder nicht. Alle Bedenken, die aus dem Vergleich mit einer strafrechtlichen oder strafrechtsähnlichen Sanktion hergeleitet werden, gehen deshalb von vornherein fehl (ebenso BVerfGE 9, 137 [144]).
2. Das in den angegriffenen Vorschriften enthaltene System ist im gegenwärtigen Stadium der Entwicklung der Europäischen Gemeinschaft, in dem der wirtschaftliche Verkehr ohne Planung und wirksame Kontrolle nicht funktionieren kann, nicht nur angemessen, sondern (noch) unentbehrlich und durch ein anderes, ähnlich wirksames und einfaches, andererseits marktkonformes System nicht zu ersetzen.
3. Was das Grundrecht der Berufsfreiheit (Art. 12 GG) anlangt, so sind die im Urteil vom 11. Juni 1958 (BVerfGE 7, 377 [397 ff.]) entwickelten Grundsätze auch hier maßgebend. Die Regelung der Lizenzierung von Ausfuhr- und Einfuhrgeschäften mit Kautionsgestellung und Kautionsverfall berührt die Berufsausübung, deren Beschränkung der Gesetzgeber vorsehen kann. Dabei ist er allerdings nicht frei. Hier hat er eine "reine Ausübungsregelung" getroffen, "die auf die Freiheit der Berufswahl nicht zurückwirkt, vielmehr nur bestimmt, in welcher Art und Weise die Berufsangehörigen ihre Berufstätigkeit im einzelnen zu gestalten haben. Hier können in weitem Maße Gesichtspunkte der Zweckmäßigkeit zur Geltung kommen; nach ihnen ist zu bemessen, welche Auflagen den Berufsangehörigen gemacht werden müssen, um Nachteile und Gefahren für die Allgemeinheit abzuwehren ... Der Grundrechtsschutz beschränkt sich insoweit auf die Abwehr in sich verfassungswidriger, weil übermäßig belastender und nicht zumutbarer gesetzlicher Auflagen; von diesen Ausnahmen abgesehen, trifft die hier in Frage stehende Beeinträchtigung der Berufsfreiheit den Grundrechtsträger nicht allzu empfindlich, da er bereits im Beruf steht und die Befugnis, ihn auszuüben, nicht berührt wird" (BVerfGE 7, 377 [405 f.]).
Bei Anlegung dieses Maßstabs kollidiert die angegriffene Regelung nicht mit Art. 12 GG. Denn für sie sprechen, wie schon der Europäische Gerichtshof in seiner Entscheidung dargelegt hat, wohlerwogene Gründe, um empfindliche Nachteile für die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft abzuwehren. Eine "in sich verfassungswidrige, weil übermäßig belastende und nicht zumutbare" Auflage steht hier ebensowenig in Rede wie in dem insoweit vergleichbaren Fall, der mit der sog. Reugeld-Entscheidung vom 3. Februar 1959 (BVerfGE 9, 137) entschieden wurde; in jener Entscheidung hat das Gericht nicht einmal erwogen, daß Art. 12 GG verletzt sein könnte (BVerfGE 9, 137 [146]).
4. Soweit in den Formeln "übermäßig belastend" und "nicht zumutbar" die Berücksichtigung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit gefordert wird, ist bei der Regelung über die Voraussetzungen eines Verfalls der Kaution zu beachten: Es entspricht dem Zweck einer Kaution, daß sie verfällt, wenn die im Vertrag oder im Gesetz festgelegten Verpflichtungen, gleichgültig ob schuldhaft oder nicht schuldhaft, nicht erfüllt werden. Daß sie nicht verfällt, muß demnach eine Ausnahme bleiben, die nicht alle Fälle umfaßt, in denen der Gesteller der Kaution schuldlos, also mit der gehörigen Sorgfalt eines Kaufmanns gehandelt hat. Die angegriffene Regelung faßt die Ausnahme unter dem Rechtsbegriff der höheren Gewalt, und der Europäische Gerichtshof hat diesen Begriff dahin verbindlich ausgelegt, daß darunter neben den in der Regelung ausdrücklich genannten Fällen nicht nur alle Fälle absoluter Unmöglichkeit der Ein- oder Ausfuhr, sondern auch Fälle einzubeziehen sind, in denen die Ein- oder Ausfuhr nicht erfolgte wegen vom Willen des Im- oder Exporteurs unabhängiger Umstände, deren Folgen trotz aller aufwendbaren Sorgfalt nur um den Preis unverhältnismäßiger Opfer vermeidbar gewesen wären. Das umschreibt, zumal der Europäische Gerichtshof hinzufügt, die Begriffselemente "Sorgfalt, die er hätte aufwenden müssen" und "Schwere des Opfers, das er ... hätte auf sich nehmen müssen" seien elastisch, den im deutschen Recht geläufigen, im Verfassungsgrundsatz der Verhältnismäßigkeit mitenthaltenen Rechtsgedanken, daß der Verpflichtete in Fällen dieser Art bei einer "überobligationsmäßigen Belastung" von seiner Verpflichtung frei werden kann.
5. Der Anwendung der angegriffenen Regelung durch die deutschen Behörden und Gerichte im vorliegenden Fall steht demnach Art. 12 GG nicht entgegen. Neben dem Art. 12 GG kommt nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts als weiterer selbständiger Prüfungsmaßstab Art. 2 Abs. 1 GG im vorliegenden Fall nicht in Betracht (BVerfGE 9, 63 [73]; 9, 73 [77]; 9, 338 [343]; 10, 185 [199]; 21, 227 [234]; 23, 50 [55 f.]).
IV.
Diese Entscheidung ist zu B.I und II mit fünf zu drei Stimmen, zu B.III einstimmig ergangen.
Dr. Seuffert, Dr. v. Schlabrendorff, Dr. Rupp, Dr. Geiger, Hirsch, Dr. Rinck, Dr. Rottmann, Wand
 
Abweichende Meinung der Richter Dr. Rupp, Hirsch und Wand zum Beschluß des Zweiten Senats vom 29. Mai 1974 - BvL 52/71 -
Wir halten die Vorlage für unzulässig und können daher dem Beschluß zu B.I und II nicht zustimmen.
I.
Rechtsvorschriften, die von Organen der Europäischen Gemeinschaften aufgrund der ihnen übertragenen Kompetenzen erlassen worden sind (sekundäres Gemeinschaftsrecht), können nicht auf ihre Vereinbarkeit mit den Grundrechtsnormen des Grundgesetzes geprüft werden.
1. Die Verfassung der Bundesrepublik Deutschland sieht in Art. 24 Abs. 1 GG vor, daß der Bund durch Gesetz Hoheitsrechte auf zwischenstaatliche Einrichtungen übertragen kann. Von dieser Befugnis hat er durch Ratifizierung des EWG-Vertrags Gebrauch gemacht (vgl. Art. 1 des Gesetzes vom 27. Juli 1957 - BGBl. II S. 753 -). Damit ist auf einem begrenzten Sektor (Art. 2, 3 EWGV) eine eigenständige Rechtsordnung entstanden, die über eigene Organe, einen eigenen Normenbestand und ein eigenes Rechtsschutzsystem verfügt. Gemeinschaftsorgane sind mit Rechtsetzungsbefugnissen ausgestattet. Die von ihnen erlassenen Rechtsvorschriften, die weder der nationalen Rechtsordnung noch dem Völkerrecht angehören, bilden - zusammen mit den Bestimmungen des Vertrags und ungeschriebenen Rechtsgrundsätzen - den Normenbestand der Gemeinschaft. Der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften sichert die Wahrung des Rechts bei der Auslegung und Anwendung des Vertrags. Diese Gemeinschaftsrechtsordnung ist autonom und unabhängig vom nationalen Rechtskreis.
2. Beide Rechtskreise kennen - jeweils für ihren Bereich - Grundrechtsnormen und ein zu ihrer Durchsetzung geeignetes Rechtsschutzsystem.
a) Grundrechte werden nicht nur vom Grundgesetz innerhalb der nationalen Rechtsordnung der Bundesrepublik Deutschland verbürgt, sondern auch von der Rechtsordnung der Europäischen Gemeinschaften gewährleistet.
Der EWG-Vertrag enthält neben vereinzelten Bestimmungen mit grundrechtsähnlichem Gehalt (z.B. Art. 7 Abs. 1 und 119) in Art. 215 Abs. 2 eine Bezugnahme auf die allgemeinen Rechtsgrundsätze, die den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten gemeinsam sind. Vor allem sind in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes die wesentlichen Bestandteile des Rechtsstaatsprinzips und die Grundrechte auf Gemeinschaftsebene garantiert. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ist vom Europäischen Gerichtshof schon seit Beginn seiner Rechtsprechung als Maßstab für die Rechtmäßigkeit des Handelns der Gemeinschaftsorgane anerkannt worden (siehe u. a. Sammlung der Rechtsprechung des Gerichtshofes - Slg. - 1955/56, 297 [311]; 1958, 159 [196 f.]; 1962, 653 [686]; 1970, 1125 [1137]; 1973, 1091 [1112]). In der vom Verwaltungsgericht Frankfurt im Ausgangsverfahren eingeholten Vorabentscheidung hat der Gerichtshof nicht nur geprüft, ob die in den jetzt dem Bundesverfassungsgericht zur Prüfung vorliegenden EWG-Verordnungen vorgeschriebene Kautionsstellung ein "notwendiges und angemessenes Mittel" zur Erreichung des angestrebten Zieles ist, sondern auch erörtert, ob der Handel durch die Kautionsstellung übermäßig belastet wird (Slg. 1970, 1125 [1137]).
Das Gebot der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung findet in der Rechtsprechung des Gerichtshofes ebenfalls seinen Ausdruck (vgl. Slg. 1958, 9 [41 f.]).
Das Erfordernis der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes ist vom Gerichtshof wiederholt anerkannt worden (vgl. u. a. Slg. 1961, 239 [259]; 1962, 653 [686]; 1964, 1213 [1233 f.]; 1967, 591 [611]; 1973, 575 [584] und 723 [729]). Die Achtung des Grundsatzes des rechtlichen Gehörs (vgl. Slg. 1961, 108 [169]) und des Verbots der Doppelbestrafung (Slg. 1966, 153 [178]; 1969, 1 [15]; 1972, 1281 [1290]) ist durch die Rechtsprechung des Gerichtshofes gewährleistet.
Während dem Diskriminierungsverbot in der Rechtsprechung des Gerichtshofes von Anfang an große Bedeutung zukam (vgl. u. a. Slg. 1958, 233 [257]; 1961, 345 [364]; 1962, 653 [692]; 1971, 823 [838]; 1973, 1055 [1073 f.]; Urteil vom 30. Januar 1974 - Rs 148/73 - S. 14 f. des hektographierten Textes), ist der Schutz der Freiheitsrechte erst in den letzten Jahren klarer zum Ausdruck gekommen. Inzwischen liegt aber auch hierzu genügend Rechtsprechung vor, um die Feststellung zu gestatten, daß die Grundrechte auf Gemeinschaftsebene ausreichend geschützt sind. Der Gerichtshof hat wiederholt betont, daß die Beachtung der Grundrechte zu den allgemeinen Rechtsgrundsätzen gehört, deren Wahrung er zu sichern hat (Slg. 1969, 419 [425]; 1970 1125 [1135]; Urteil vom 14. Mai 1974 - RS 4/73 - S. 29 f. des hektographierten Textes). Maßstab hierfür sind in erster Linie die gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten. Das bedeutet, wie der Gerichtshof in seinem Urteil vom 14. Mai 1974 ausführt, daß keine Maßnahme als rechtmäßig anerkannt werden kann, die mit den von den Verfassungen der Mitgliedstaaten anerkannten und geschützten Grundrechten unvereinbar ist. In der gleichen Entscheidung hat der Gerichtshof darüber hinaus klargestellt, daß Beschränkungen der Grundrechte zur Verwirklichung der dem allgemeinen Wohle dienenden Ziele der Europäischen Gemeinschaften ihre Grenze dort finden, wo die Grundrechte in ihrem Wesen angetastet würden (a.a.O. S. 30). Trotz des Fehlens eines Grundrechtskatalogs ist somit der Schutz der im Grundgesetz gewährleisteten Grundrechte auch in der Rechtsordnung der Europäischen Gemeinschaften - wenn auch teilweise in modifizierter Form - durch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes gewährleistet. Es kommt hinzu, daß nach der Ratifikation der Europäischen Menschenrechtskonvention und des Zusatzprotokolls vom 20. März 1952 durch Frankreich nunmehr alle Mitgliedstaaten der Gemeinschaften auch Vertragspartner der Konvention sind. Deshalb ist damit zu rechnen, daß der Gerichtshof auch die in der Konvention und im Zusatzprotokoll enthaltenen Bestimmungen zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten zur Konkretisierung der "allgemeinen Rechtsgrundsätze, die den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten gemeinsam sind", heranziehen wird, wie in der Entscheidung vom 14. Mai 1974 bereits angedeutet ist.
b) Die Rechtsordnung der Europäischen Gemeinschaften verfügt auch über ein zur Durchsetzung dieser Grundrechte geeignetes Rechtsschutzsystem.
Der Einzelne kann den Europäischen Gerichtshof gegen Handlungen der Gemeinschaftsorgane zwar nur anrufen, wenn er von einer solchen Handlung unmittelbar und individuell betroffen ist (Art. 173 Abs. 2 EWGV). Soweit Rechtsvorschriften der Gemeinschaften oder an die Mitgliedstaaten gerichtete Entscheidungen der Ausführung durch staatliche Organe der Bundesrepublik Deutschland bedürfen, steht dem Einzelnen aber der gegen den innerstaatlichen Akt gegebene Rechtsweg offen. In diesem Verfahren haben die deutschen Gerichte auch zu prüfen, ob die Vorschriften des Gemeinschaftsrechts, auf die sich die angegriffene Maßnahme stützt, mit höherrangigen Normen der Gemeinschaftsrechtsordnung vereinbar sind. Zu diesen höherrangigen Normen gehören auch die vom Europäischen Gerichtshof anerkannten Grundrechte und rechtsstaatlichen Grundsätze. Ergeben sich Zweifel, ob die anzuwendende Vorschrift mit den Grundrechten oder dem Rechtsstaatsprinzip in Einklang steht, so hat das deutsche Gericht die Möglichkeit und - soweit es in letzter Instanz entscheidet - auch die Pflicht, diese Frage gemäß Art. 177 EWGV dem Europäischen Gerichtshof zur Vorabentscheidung vorzulegen.
3. Normen beider Rechtsordnungen, sowohl des Gemeinschaftsrechts als auch des nationalen Rechts, entfalten im Bereich der Bundesrepublik Deutschland unmittelbare Rechtswirkungen. Die von Gemeinschaftsorganen erlassenen Rechtsvorschriften sind für die deutschen Behörden und Gerichte ebenso verbindlich wie die Normen des innerstaatlichen Rechts. Damit stellt sich die Frage, welches Recht maßgebend ist, wenn Vorschriften des Gemeinschaftsrechts von Bestimmungen des nationalen Rechts inhaltlich abweichen.
Diese Frage ist für das Verhältnis des europäischen Gemeinschaftsrechts zum nationalen Recht der Bundesrepublik Deutschland durch Art. 24 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Zustimmungsgesetz zum EWG-Vertrag entschieden. Art. 24 Abs. 1 GG besagt bei sachgerechter Auslegung nicht nur, daß die Übertragung von Hoheitsrechten auf zwischenstaatliche Einrichtungen überhaupt zulässig ist, sondern auch, daß die Hoheitsakte der zwischenstaatlichen Einrichtungen von der Bundesrepublik Deutschland anzuerkennen sind (BVerfGE 31, 145 [174]). Das schließt es von vornherein aus, sie nationaler Kontrolle zu unterwerfen. Denn darauf hat die Bundesrepublik Deutschland durch den Beitritt zur EWG, ihre Zustimmung zur Errichtung von Gemeinschaftsorganen und ihre Mitwirkung an der Begründung autonomer Hoheitsgewalt gerade verzichtet. Zu den anzuerkennenden, keiner nationalen Kontrolle unterliegenden Hoheitsakten gehört auch die Rechtsetzung der europäischen Gemeinschaftsorgane. Die von ihnen erlassenen Rechtsvorschriften können daher in ihrer Geltung und Anwendbarkeit nicht davon abhängig sein, ob sie den Maßstäben des innerstaatlichen Rechts entsprechen. Gemeinschaftsrecht geht inhaltlich abweichenden Bestimmungen des nationalen Rechts vor. Dies gilt nicht nur im Verhältnis zu innerstaatlichen Normen des einfachen Rechts, sondern auch gegenüber Grundrechtsnormen der nationalen Verfassung.
Die Mehrheit des Senats hält dem entgegen, Art. 24 Abs. 1 GG eröffne nicht den Weg, "die Grundstruktur der Verfassung, auf der ihre Identität beruht" und zu der besonders ihr Grundrechtsteil rechnet, durch die Gesetzgebung zwischenstaatlicher Einrichtungen zu ändern. Dieser Einwand geht jedoch fehl. Richtig ist zwar, daß der Vorrang des Gemeinschaftsrechts gegenüber Vorschriften des innerstaatlichen Rechts nur insoweit gelten kann, als das Grundgesetz die Übertragung von Hoheitsgewalt auf Gemeinschaftsorgane gestattet. Darüber hinaus trifft es zu, daß Art. 24 Abs. 1 GG die Übertragung von Hoheitsrechten auf zwischenstaatliche Einrichtungen nicht schrankenlos zuläßt. Wie alle Verfassungsvorschriften ist diese Bestimmung so auszulegen, daß sie mit den elementaren Grundsätzen des Grundgesetzes und seiner Wertordnung in Einklang steht (vgl. BVerfGE 30, 1 [19]). Dabei ist einerseits das Bekenntnis zu einem vereinten Europa in der Präambel des Grundgesetzes, andererseits die besondere Sorge um die Wahrung einer freiheitlichen und demokratischen Ordnung, wie sie in zahlreichen Verfassungsvorschriften ihren Ausdruck gefunden hat, zu berücksichtigen. Die Auslegung des Art. 24 Abs. 1 GG aus dem Gesamtzusammenhang der Verfassung ergibt, daß der Verzicht auf die Ausübung von Hoheitsgewalt in bestimmten Bereichen und die Duldung der Ausübung von Hoheitsgewalt durch Organe einer überstaatlichen Gemeinschaft dann - und nur dann - zulässig ist, wenn die öffentliche Gewalt der überstaatlichen Gemeinschaft nach ihrer Rechtsordnung den gleichen Bindungen unterliegt, wie sie sich für den Bereich des innerstaatlichen Rechts aus den fundamentalen und unabdingbaren Prinzipien des Grundgesetzes ergeben; dazu gehört insbesondere der Schutz des Kernbestandes der Grundrechte.
Diese Voraussetzung ist bei der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft erfüllt. Der innerhalb der Gemeinschaft gewährleistete Grundrechtsschutz unterscheidet sich seinem Wesen und seiner Struktur nach nicht von dem Grundrechtssystem der nationalen Verfassung. In beiden Rechtsordnungen wird der Kernbestand der Grundrechte anerkannt und geschützt. Die Grundrechte, die innerhalb des Rechtskreises der Europäischen Gemeinschaften gelten, sind denen, die das Grundgesetz garantiert, wesensgleich; ihre Grundlage bilden die gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten - ihre Anerkennung beruht auf den gleichen Wert- und Ordnungsvorstellungen. Das reicht aus. Kein Mitgliedstaat kann verlangen, daß die Grundrechte auf Gemeinschaftsebene gerade in der Gestalt gewährleistet werden, wie sie die nationale Verfassung kennt. Art. 24 Abs. 1 GG läßt es zu, Hoheitsrechte in eine Gemeinschaft einzubringen, die zwar die national verbürgten Grundrechte nicht für sich gelten läßt, innerhalb ihrer Rechtsordnung aber einen Grundrechtsschutz garantiert, der in seinen Grundzügen dem Standard des Grundgesetzes entspricht. Daraus folgt, daß Vorschriften des Gemeinschaftsrechts nur an die Grundrechtsnormen gebunden sind, die auf Gemeinschaftsebene gelten, nicht aber zusätzlich noch den Grundrechtsnormen der nationalen Verfassung genügen müssen.
Die "Grundstruktur der Verfassung, auf der ihre Identität beruht", steht dabei nicht auf dem Spiel. Die Frage, ob Art. 24 Abs. 1 GG eine Übertragung von Hoheitsrechten gestattet, die Gemeinschaftsorganen die Möglichkeit gibt, überhaupt frei von Grundrechtsbindungen innerstaatlich verbindliches Recht zu setzen, stellt sich heute nicht mehr. Darum ist es im Ansatz verfehlt, wenn die Mehrheit des Senats glaubt, einen "Einbruch" in die das Grundgesetz konstituierenden Strukturen, insbesondere seinen Grundrechtsteil, abwehren zu müssen, indem sie Gemeinschaftsrecht an die Grundrechtsnormen der nationalen Verfassung bindet. Dies läßt sich auch nicht mit dem Hinweis begründen, die Europäischen Gemeinschaften besäßen noch keinen kodifizierten Grundrechtskatalog. Die Art und Weise der Grundrechtsverbürgung ist in diesem Zusammenhang ohne Belang, die Behauptung, nur eine Kodifikation biete ausreichende Rechtsgewißheit, nicht stichhaltig. Weshalb - wie die Mehrheit des Senats meint - für das Verhältnis zwischen Gemeinschaftsrecht und Grundgesetz "der gegenwärtige Stand der Integration der Gemeinschaft" bedeutsam sein soll, leuchtet nicht ein. Das Argument, die Grundrechte der Verfassung müßten sich gegenüber sekundärem Gemeinschaftsrecht auch deswegen durchsetzen, weil die Gemeinschaft noch eines unmittelbar legitimierten Parlamentes entbehre, ist in sich nicht schlüssig. Grundrechtsschutz und demokratisches Prinzip sind innerhalb eines freiheitlich und demokratisch verfaßten Gemeinwesens nicht austauschbar; sie ergänzen sich. Die Verwirklichung des demokratischen Prinzips in der EWG könnte zwar den Gesetzgeber und die Exekutive zu einer stärkeren Beachtung der Grundrechte veranlassen; dadurch würde sich aber gerichtlicher Grundrechtsschutz nicht erübrigen.
Die von der Mehrheit des Senats vertretene Rechtsauffassung führt überdies zu unannehmbaren Ergebnissen. Wäre die Anwendbarkeit sekundären Gemeinschaftsrechts davon abhängig, daß es den Grundrechtsnormen einer nationalen Verfassung genügt, so könnte - da die Mitgliedstaaten Grundrechte in unterschiedlichem Ausmaß gewährleisten - der Fall eintreten, daß Rechtsvorschriften der Gemeinschaften in einigen Mitgliedstaaten anwendbar sind, dagegen in anderen nicht. Damit käme es gerade auf dem Gebiet des Gemeinschaftsrechts zur Rechtszersplitterung. Diese Möglichkeit eröffnen, heißt ein Stück europäischer Rechtseinheit preisgeben, den Bestand der Gemeinschaft gefährden und den Grundgedanken der europäischen Einigung verleugnen.
Die Mehrheit des Senats setzt sich mit ihrer Rechtsansicht auch in Widerspruch zur ständigen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs. Der Gerichtshof hat aus Wortlaut und Geist des EWG-Vertrags geschlossen, daß dem aus einer autonomen Rechtsquelle fließenden Gemeinschaftsrecht keine wie immer gearteten innerstaatlichen Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten - auch nicht Bestimmungen des nationalen Verfassungsrechts - vorgehen können (Slg. 1964, 1251 [1270]; 1970, 1125 [1135]). Die gleiche Auffassung hat das Europäische Parlament wiederholt zum Ausdruck gebracht (Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften - Amtsbl. - 1965/2923 in Verbindung mit dem Bericht Dehousse, Dokument 43/65; Bericht des Rechtsausschusses vom 28. Februar 1973, Dokument 297/72). Darüber hinaus hat der Italienische Verfassungsgerichtshof in seinem Urteil vom 18. Dezember 1973 (Nr. 183/73) klargestellt, daß Verordnungen des Gemeinschaftsrechts einer Kontrolle auf ihre Vereinbarkeit mit italienischem Verfassungsrecht nicht unterliegen.
Das Bundesverfassungsgericht besitzt keine Kompetenz, Vorschriften des Gemeinschaftsrechts am Maßstab des Grundgesetzes, insbesondere seines Grundrechtsteiles, zu prüfen, um danach die Frage ihrer Gültigkeit zu beantworten. Die Mehrheit des Senats räumt zwar ein, daß das Bundesverfassungsgericht über die Gültigkeit oder Ungültigkeit einer Norm des Gemeinschaftsrechts nicht zu entscheiden habe, nimmt jedoch diese Feststellung im Ergebnis wieder zurück, indem sie hinzusetzt, das Bundesverfassungsgericht könne eine solche Norm im Bereich der Bundesrepublik Deutschland für unanwendbar erklären. Diese Unterscheidung zwischen Ungültigkeit und Unanwendbarkeit einer Norm erschöpft sich aber im Gebrauch verschiedener Worte. Ein sachlicher Unterschied liegt ihr nicht zugrunde. Erklärt ein Gericht eine Rechtsnorm wegen Verstoßes gegen höherrangiges Recht für generell unanwendbar, so spricht es damit der Sache nach aus, daß die Norm nicht gilt, also ungültig ist. Diese Befugnis steht dem Bundesverfassungsgericht gegenüber den Rechtsvorschriften der Gemeinschaftsorgane nicht zu. Daß die Mehrheit des Senats sie gleichwohl in Anspruch nimmt, ist ein unzulässiger Eingriff in die dem Europäischen Gerichtshof vorbehaltene Kompetenz, deren Anerkennung Art. 24 Abs. 1 GG gebietet; dieser Eingriff schafft für die Bundesrepublik Deutschland einen Sonderstatus und setzt sie dem berechtigten Vorwurf einer Verletzung des EWG-Vertrags und der Gefährdung der Gemeinschaftsrechtsordnung aus.
II.
Die Frage, ob ein deutsches Gericht, das in einem bei ihm anhängigen Verfahren Vorschriften des sekundären Gemeinschaftsrechts anzuwenden hat, diese gemäß Art. 100 Abs. 1 GG dem Bundesverfassungsgericht zur verfassungsrechtlichen Prüfung vorlegen kann, stellt sich nicht, wenn man der zu I dargelegten Rechtsauffassung über das Verhältnis zwischen Gemeinschaftsrecht und nationalem Verfassungsrecht folgt. Den Ausführungen zu B I 7 und II des Beschlusses kann aber auch aus anderen rechtlichen Gründen nicht gefolgt werden. Selbst wenn man davon ausgeht, daß deutsche Gerichte befugt sind, Vorschriften des sekundären Gemeinschaftsrechts wegen Unvereinbarkeit mit den Grundrechtsgarantien oder anderen wesentlichen Prinzipien des Grundgesetzes die Anwendung zu versagen, ist die Vorlage des Verwaltungsgerichts Frankfurt dennoch unzulässig. Wegen der grundsätzlichen Bedeutung dieser Frage muß ungeachtet der zu I vertretenen Rechtsauffassung auch hierauf noch eingegangen werden.
1. Art. 100 Abs. 1 GG ist auf Vorschriften des sekundären Gemeinschaftsrechts nicht anwendbar. Schon dem Wortlaut dieser Bestimmung wie auch dem Zusammenhang zwischen Art. 100 Abs. 1 und Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG ist zu entnehmen, daß unter einem "Gesetz" nur Vorschriften des Bundes- und des Landesrechts zu verstehen sind. Von dieser Auslegung ist das Bundesverfassungsgericht auch bisher ausgegangen (vgl. BVerfGE 1, 184 [197]; 4, 45 [48 f.]). Dieses Auslegungsergebnis folgt zudem aus Wesen und Zielrichtung des Normenkontrollverfahrens. Normenkontrolle bedeutet ihrem Kern nach Prüfung, ob eine Norm gültig ist. Das Verwerfungsmonopol des Bundesverfassungsgerichts nach Art. 100 Abs. 1 GG stellt eine Kontrolle des Gerichts gegenüber dem Gesetzgeber dar, nicht aber eine Kontrolle des Bundesverfassungsgerichts über die anderen Gerichte (vgl. BVerfGE 7, 1 [15]). Die Ausübung dieser Kontrolle über den Gesetzgeber setzt voraus, daß es sich bei der Rechtsetzung um Akte eines deutschen Rechtsetzungsorgans handelt. Wie auch in dem Beschluß des Senats anerkannt wird, können Maßnahmen einer nicht deutschen öffentlichen Gewalt vom Bundesverfassungsgericht nicht überprüft werden (vgl. BVerfGE 1, 10 [11]; 6, 15 [18]; 6, 290 [295]; 22, 91 [92]; 22, 293 [295]). Gleichzeitig bestätigt der Senat die bisherige Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, daß die Vorschriften des sekundären Gemeinschaftsrechts als Normen einer eigenständigen Rechtsordnung, die aus einer autonomen Rechtsquelle fließen (vgl. BVerfGE 22, 293 [296]; 29, 198 [210]; 31, 145 [173 f.]), nicht Akte der deutschen staatlichen Gewalt sind (vgl. BVerfGE 22, 293 [297]). Somit kann Art. 100 Abs. 1 GG auf Vorschriften des Gemeinschaftsrechts keine Anwendung finden (so auch die ganz überwiegende Meinung im Schrifttum, siehe unter anderem: Maunz in Maunz-Dürig-Herzog, Grundgesetz, Rdnr. 11 zu Art. 100; Stern in Bonner Kommentar [Zweitbearbeitung], Rdnr. 78 zu Art. 100; Leibholz/Rupprecht, Bundesverfassungsgerichtsgesetz, Rdnr. 11 zu § 80; Sigloch in Maunz/Sigloch/Schmidt-Bleibtreu/Klein, Bundesverfassungsgerichtsgesetz, Rdnr. 55 zu § 80).
Die Tatsache, daß die Anwendung der von den Gemeinschaftsorganen erlassenen Verordnungen durch Behörden und Gerichte der Bundesrepublik Deutschland Ausübung deutscher öffentlicher Gewalt darstellt, kann diese Verordnungen selbst nicht zu einem geeigneten Prüfungsgegenstand im Verfahren nach Art. 100 Abs. 1 GG machen. Durch die Anwendung im Einzelfall werden diese Vorschriften nicht Bestandteil der deutschen Rechtsordnung. Akte der deutschen öffentlichen Gewalt, die vom Bundesverfassungsgericht gegebenenfalls überprüft werden können, sind nur die Verwaltungsakte und gerichtlichen Entscheidungen selbst. Diese aber können nicht im Wege der konkreten Normenkontrolle, sondern nur in dem in Art. 93 Abs. 1 Nr. 4 a GG, § 90 BVerfGG vorgesehenen Verfassungsbeschwerdeverfahren zur verfassungsrechtlichen Prüfung gestellt werden. Die Anwendbarkeit von Art. 100 Abs. 1 GG auf Vorschriften des sekundären Gemeinschaftsrechts kann schließlich auch nicht aus dem in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts wiederholt hervorgehobenen Grundgedanken des Verwerfungsmonopols - den Gesetzgeber vor der Nichtbeachtung seiner Gesetze zu schützen - hergeleitet werden. Abgesehen davon, daß dieser Grundgedanke allein die Zuständigkeit des Bundesverfassungsgerichts nicht begründen kann, wenn ein "Gesetz" im Sinne von Art. 100 Abs. 1 GG nicht vorliegt, sondern nur der genaueren Bestimmung des Gesetzesbegriffes dient, trifft dieser Grundgedanke hier auch nicht zu; denn er setzt den an das Grundgesetz gebundenen Gesetzgeber voraus. Das Verwerfungsmonopol des Bundesverfassungsgerichts soll verhüten, daß sich jedes einzelne Gericht über den Willen des unter der Geltung der Verfassung tätig gewordenen Gesetzgebers hinwegsetzen und seinem Gesetz die Anerkennung versagen kann (BVerfGE 10, 124 [127]). Der "Gesetzgeber" der Europäischen Gemeinschaften wird aber nicht unter der Geltung des Grundgesetzes tätig.
Ebensowenig kann aus Art. 10C Abs. 2 GG auf die Zulässigkeit der konkreten Normenkontrolle in Fällen wie dem vorliegenden geschlossen werden; denn Art. 100 Abs. 2 GG betrifft nicht die Kontrolle gegenüber dem Gesetzgeber. Das hier geregelte Verfahren dient der Normenverifikation, nicht der Normenkontrolle; es ersetzt im Ergebnis das Gesetzgebungsverfahren (BVerfGE 23, 288 [318]).
2. Wenn der Senat die Zulässigkeit der Vorlage im wesentlichen mit der Erwägung bejaht, daß zwar nicht die zur Prüfung gestellten EWG-Vorschriften selbst, wohl aber die Anwendung dieser Vorschriften durch die deutschen Gerichte der Bindung an das Grundgesetz und der Überprüfbarkeit durch das Bundesverfassungsgericht unterliegen, so wird - auch wenn dies nicht klar zum Ausdruck kommt - Art. 100 Abs. 1 GG nicht mehr unmittelbar, sondern analog angewandt, denn eine solche Rechtsfolge wird vom möglichen Wortsinn der Bestimmung unter Berücksichtigung des mit ihr verfolgten Ziels nicht mehr getragen. Eine analoge Anwendung kann hier aber schon deshalb nicht in Betracht kommen, weil gerade die wesentlichen Voraussetzungen für ein Normenkontrollverfahren nicht gegeben sind. Zudem steht einer analogen Anwendung entgegen, daß die Zuständigkeit des Bundesverfassungsgerichts im Grundgesetz und in dem Gesetz über das Bundesverfassungsgericht im einzelnen abschließend geregelt ist. Eine Ausdehnung der Kompetenzen über den gesetzlich gezogenen Rahmen hinaus in analoger Anwendung der Zuständigkeitsbestimmung ist unzulässig (BVerfGE 2, 341 [346]). Die Aufgabe des Bundesverfassungsgerichts, Hüter der Verfassung zu sein, kann auch bei Vorliegen eines noch so dringenden rechtspolitischen Bedürfnisses nicht zu einer Erweiterung der Zuständigkeit führen (vgl. BVerfGE 1, 396 [408 f.]; 3, 368 [376 f.]; 13, 54 [96]; 22, 293 [298]).
Die Erwägung, daß das Bundesverfassungsgericht in weitem Umfang zur freien Gestaltung seines Verfahrens befugt ist, kann eine Ausdehnung der Zuständigkeit ebenfalls nicht rechtfertigen. Die Fortbildung des Verfahrensrechts darf nur im Rahmen eines zugelassenen Verfahrens erfolgen, nicht aber die Zuständigkeit über das Gesetz hinaus gegenständlich erweitern (vgl. BVerfGE 1, 396 [408]).
3. Wird aber trotz der dargelegten Bedenken die Zulässigkeit einer analogen Anwendung von Art. 100 Abs. 1 GG bejaht, so hätte zuvor zumindest nach § 16 Abs. 1 BVerfGG eine Entscheidung des Plenums herbeigeführt werden müssen; denn der Senat weicht in mehrfacher Hinsicht von Rechtsauffassungen ab, die in den tragenden Gründen von Entscheidungen des Ersten Senats enthalten sind.
a) Wie im Beschluß selbst erwähnt ist, hat der Erste Senat eine Vorlage, mit der Vorschriften des Besatzungsrechts nach Art. 100 Abs. 1 GG zur Prüfung gestellt wurden, mit der Begründung für unzulässig erklärt, daß Besatzungsrecht vom Bundesverfassungsgericht nicht auf seine Vereinbarkeit mit dem Grundgesetz geprüft werden könne (BVerfGE 4, 45 [48 f.]). Zur näheren Begründung wird auf eine frühere Entscheidung des Ersten Senats verwiesen, in der festgestellt wurde, daß Besatzungsrecht nicht als Bundesrecht angesehen werden kann (BVerfGE 3, 368 [374 f.]).
Diese den Beschluß tragende Rechtsauffassung ist nicht in späteren Entscheidungen aufgegeben worden. Die vom Senat zitierten Entscheidungen über die Vereinbarkeit von Bestimmungen des Besatzungsrechts mit dem Grundgesetz (BVerfGE 15, 337; 36, 146) ergingen nicht auf Vorlagen im Verfahren der konkreten Normenkontrolle, sondern in Verfassungsbeschwerdeverfahren. Über die Zulässigkeit einer unmittelbar Bestimmungen des Besatzungsrechts zur Prüfung stellenden Vorlage nach Art. 100 Abs. 1 GG hatte der Erste Senat in diesen Verfahren daher nicht zu befinden. In beiden Entscheidungen wird aber die Rechtsprechung bestätigt, daß dem Bundesverfassungsgericht hinsichtlich der Bestimmungen des Besatzungsrechts eine Verwerfungskompetenz nicht zusteht (BVerfGE 15, 337 [346]; 36, 146 [171]). In dem Beschluß vom 14. November 1973 erklärt der Erste Senat, das Bundesverfassungsgericht könne Kontrollratsrecht auch nicht förmlich für mit dem Grundgesetz unvereinbar erklären (BVerfGE 36, 146 [161]).
Hierzu steht nicht in Widerspruch, daß der Erste Senat die in Frage stehenden Bestimmungen des Besatzungsrechts materiell auf ihre Vereinbarkeit mit dem Grundgesetz geprüft hat. Damit wurde nicht das Besatzungsrecht selbst zum Prüfungsgegenstand gemacht. Vielmehr ergab sich die Zulässigkeit dieses Vorgehens aus der Befugnis des Bundesverfassungsgerichts zu prüfen, ob dem an das Grundgesetz gebundenen Gesetzgeber ein verfassungswidriges Unterlassen vorzuwerfen ist, weil er besatzungsrechtliche Vorschriften, die mit dem Grundgesetz nicht vereinbar sind, nicht in angemessener Frist nach Inkrafttreten des Überleitungsvertrags aufgehoben oder geändert hat, um eine dem Grundgesetz entsprechende Rechtsordnung zu schaffen (vgl. BVerfGE 15, 337 [349 f.]; 36, 146 [171]).
b) Der vorstehende Beschluß weicht außerdem von der Entscheidung des Ersten Senats vom 17. Juni 1953 ab, in der ausdrücklich festgestellt wurde, daß eine Ausdehnung der Kompetenzen des Bundesverfassungsgerichts über den gesetzlich gezogenen Rahmen hinaus in analoger Anwendung der Zuständigkeitsbestimmungen unzulässig ist (BVerfGE 2, 341 [346]). Diese Rechtsauffassung hat der Erste Senat in späteren Entscheidungen nicht aufgegeben. Vielmehr wird in dem Beschluß, der eine Verfassungsbeschwerde gegen Bestimmungen in Verordnungen des Rates und der Kommission der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaften für unzulässig erklärte, erneut festgestellt, daß die Zuständigkeit des Bundesverfassungsgerichts im Grundgesetz und im Gesetz über das Bundesverfassungsgericht abschließend geregelt ist (BVerfGE 22, 293 [298]).
Dr. Rupp, Hirsch, Wand