BVerfGE 80, 244 - Vereinsverbot
Es verletzt weder Art. 9 Abs. 2 noch Art. 19 Abs. 4 GG, daß § 20 Abs. 1 Nr. 1 VereinsG Verstöße gegen vollziehbare, aber noch nicht unanfechtbare Vereinsverbote mit Strafe bedroht. Maßnahmen und Handlungen, die der Ausschöpfung von Rechtsbehelfen gegen die Verbotsverfügung dienen, werden von dem Verbot und damit auch von der Strafvorschrift nicht erfaßt.
 
Beschluß
des Zweiten Senats vom 15. Juni 1989
-- 2 BvL 4/87 --
in dem Verfahren zur Prüfung der Verfassungsmäßigkeit des § 20 Abs. 1 des Vereinsgesetzes (VereinsG) - Aussetzungs- und Vorlagebeschluß des Landgerichts Hamburg vom 26. Februar 1987 - (93) 1/87 KLs = (37a) 5/85 KLs - 141 Js 110/84 -.
Entscheidungsformel:
§ 20 Absatz 1 Nr. 1 des Vereinsgesetzes in der Fassung vom 25. Juni 1968 (Bundesgesetzbl. I Seite 741) ist mit dem Grundgesetz vereinbar, soweit hiernach bestraft wird, wer im räumlichen Geltungsbereich des Gesetzes durch eine darin ausgeübte Tätigkeit den organisatorischen Zusammenhalt eines Vereins entgegen einem vollziehbaren Verbot aufrechterhält.
 
Gründe:
 
A.
Die Vorlage betrifft die Frage, ob § 20 Abs. 1 Nr. 1 des Vereinsgesetzes vom 5. August 1964 (BGBl. I S. 593) in der Fassung des Achten Strafrechtsänderungsgesetzes vom 25. Juni 1968 (BGBl. I S. 741) mit dem Grundgesetz, insbesondere mit Art. 9 Abs. 1 und 2 und Art. 19 Abs. 4 GG vereinbar ist, soweit er den Verstoß gegen ein vollziehbares, aber noch nicht unanfechtbares Vereinsverbot mit Strafe bedroht.
I.
1. Die Strafvorschrift des § 20 Abs. 1 Nr. 1 VereinsG lautet:
    "(1) Wer im räumlichen Geltungsbereich dieses Gesetzes durch eine darin ausgeübte Tätigkeit
    1. den organisatorischen Zusammenhalt eines Vereins entgegen einem vollziehbaren Verbot oder entgegen einer vollziehbaren Feststellung, daß er Ersatzorganisation eines verbotenen Vereins ist, aufrechterhält oder sich in einem solchen Verein als Mitglied betätigt,
    2. bis 5....
    wird mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe bestraft, wenn die Tat nicht in den §§ 84, 85, 86 a oder 129 des Strafgesetzbuches mit Strafe bedroht ist. ...
    (2) und (3)..."
Wegen der Subsidiarität zu den angeführten Bestimmungen des Strafgesetzbuchs, insbesondere zu § 85 StGB, kommt die Vorschrift hauptsächlich bei Verstößen gegen vollziehbare, aber noch nicht unanfechtbare Vereinsverbote zur Anwendung.
2. Zum Vereinsverbot trifft § 3 VereinsG folgende Regelung:
    "§ 3
    (1) Ein Verein darf erst dann als verboten (Artikel 9 Abs. 2 des Grundgesetzes) behandelt werden, wenn durch Verfügung der Verbotsbehörde festgestellt ist, daß seine Zwecke oder seine Tätigkeit den Strafgesetzen zuwiderlaufen oder daß er sich gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder den Gedanken der Völkerverständigung richtet; in der Verfügung ist die Auflösung des Vereins anzuordnen (Verbot). Mit dem Verbot ist in der Regel die Beschlagnahme und die Einziehung des Vereinsvermögens zu verbinden.
    (2) und (3) ...
    (4) Das Verbot ist schriftlich abzufassen, zu begründen und dem Verein, im Falle des Absatzes 3 Satz 2 auch den Teilorganisationen, zuzustellen. Der verfügende Teil des Verbots ist im Bundesanzeiger und danach in den amtlichen Mitteilungsblättern der Länder bekanntzumachen. Das Verbot wird mit der Zustellung, spätestens mit der Bekanntmachung im Bundesanzeiger, wirksam und vollziehbar; § 80 der Verwaltungsgerichtsordnung bleibt unberührt."
II.
1. Im Ausgangsverfahren vor dem Landgericht Hamburg wird dem Angeklagten vorgeworfen, gegen ein vollziehbares, aber noch nicht unanfechtbares Vereinsverbot verstoßen zu haben. Die Strafkammer hat nach Beweisaufnahme folgendes festgestellt:
Der Angeklagte nahm eine führende Stellung bei einer Vereinigung ein, die sich die Wiederbelebung nationalsozialistischen Gedankengutes zum Ziel gesetzt hatte. Durch Verfügung des Bundesministers des Innern vom 24. November 1983 wurde diese Organisation mit der Begründung, sie richte sich gegen die verfassungsmäßige Ordnung, verboten und aufgelöst. Zugleich wurde der sofortige Vollzug angeordnet. Gegen die Verbotsverfügung erhoben der Angeklagte und die Vereinigung fristgerecht Anfechtungsklage vor dem Bundesverwaltungsgericht.
Bereits vor Klageerhebung entschloß sich der Angeklagte, die Verbundenheit zwischen den Mitgliedern aufrechtzuerhalten und den Organisationsgrad der Bewegung auszubauen, um seine politischen Ziele aktiv weiterverfolgen zu können. Er verfaßte und verbreitete Schriften, wirkte auf die Aufrechterhaltung der verzweigten Organisation hin und war bestrebt, die dazu notwendigen Geldmittel zu erlangen. Im März 1984 hatte sich die Vereinigung in ihrer Organisation stärker verfestigt als vor dem Verbot. Die Aktivitäten zur Aufrechterhaltung des organisatorischen Zusammenhalts setzte der Angeklagte bis zu seiner Ausreise aus dem Bundesgebiet am 19. März 1984 fort. Die Verbotsverfügung wurde durch Klagerücknahme am 1. April 1986 bestandskräftig.
2. Aufgrund dieser Feststellungen ist das Landgericht zu der Überzeugung gelangt, daß der Angeklagte ein vollziehbares Vereinsverbot mißachtet hat (§ 20 Abs. 1 Nr. 1 VereinsG). Die Strafkammer sieht sich jedoch an einer Verurteilung gehindert, weil sie die anzuwendende Strafvorschrift für verfassungswidrig hält. Sie hat deshalb nach Art. 100 Abs. 1 GG das Verfahren ausgesetzt und dem Bundesverfassungsgericht die Frage vorgelegt, ob § 20 Abs. 1 Nr. 1 VereinsG mit dem Grundgesetz vereinbar ist. Sie ist der Auffassung, § 20 Abs. 1 Nr. 1 VereinsG verletze Art. 19 Abs. 4 und Art. 9 GG, soweit er auch solche Handlungen mit Strafe bedrohe, die gegen ein noch nicht unanfechtbares Verbot verstoßen. Art. 19 Abs. 4 GG gewähre der Vereinigung das Recht, die Verbotsverfügung im Verwaltungsrechtsweg anzufechten. Dies setze voraus, daß sie die Möglichkeit haben müsse, den organisatorischen Zusammenhalt zumindest in eingeschränktem Umfang aufrechtzuerhalten, um all das zu tun, was zur Führung des Anfechtungsprozesses erforderlich sei. In dieses Recht greife die Strafvorschrift ein, indem sie die Aufrechterhaltung der Organisation uneingeschränkt verbiete und damit die Prozeßführung verhindere. Zudem beschränke § 20 Abs. 1 Nr. 1 VereinsG die Vereinsfreiheit in stärkerem Maße, als dies das Grundgesetz vorsehe. Das Grundrecht aus Art. 9 GG erlaube keine Regelung, die auf die sofortige und gänzliche Beseitigung einer Vereinigung abziele, noch ehe über die Rechtmäßigkeit ihres Verbots abschließend befunden sei. Nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit müsse sich der Staat vielmehr bis zur abschließenden Entscheidung grundsätzlich auf Eingriffe beschränken, die das Wirken des Vereins nach außen unterbinden, ohne in seine organisatorische Substanz und Existenz einzugreifen. Der Tatbestand des § 20 Abs. 1 Nr. 1 VereinsG gehe weit über dieses zulässige Ziel hinaus. Durch ihn werde die Strafbarkeit an eine lediglich vorläufige Beurteilung der Rechtslage geknüpft, die sich später möglicherweise als unhaltbar erweise.
III.
Zu dem Vorlagebeschluß haben sich der Bundesminister des Innern für die Bundesregierung, der 3. Strafsenat des Bundesgerichtshofs und der Generalbundesanwalt beim Bundesgerichtshof geäußert.
1. Der Bundesminister des Innern hält § 20 Abs. 1 Nr. 1 VereinsG bei verfassungskonformer Auslegung für mit dem Grundgesetz vereinbar.
Es sei von Verfassungs wegen nicht zu beanstanden, daß § 20 Abs. 1 Nr. 1 VereinsG auch Zuwiderhandlungen gegen nicht bestandskräftige Verbote mit Strafe bedrohe. Die vorgelegte Vorschrift halte sich innerhalb der durch Art. 9 Abs. 2 GG aufgezeigten inhaltlichen Grenzen eines Vereinsverbots. Der Verfassung sei nicht zu entnehmen, daß ein Verein so lange als legal zu gelten habe, bis er unanfechtbar verboten sei. Die Strafvorschrift verstoße auch nicht gegen Art. 19 Abs. 4 GG. Aus den Rechtsschutzmöglichkeiten, die das Vereinsgesetz vorsehe, folge, daß Maßnahmen, die zur Prozeßführung erforderlich seien, nicht vom Vereinsverbot erfaßt würden. Dies entspreche auch dem Willen des Gesetzgebers, wie er aus den Gesetzesmaterialien ersichtlich sei. Außerdem gebiete es der Zweck der Vorschrift nicht, solche Handlungen mit Strafe zu bedrohen. Die spezifische Gefährlichkeit einer verbotenen Vereinigung liege in ihrer vom Vereinszweck bestimmten Tätigkeit. Das rechtsstaatlich geordnete Bemühen um die weitere Existenz durch die Anfechtung der Verbotsverfügung falle nicht mehr unter die ursprüngliche Zielsetzung, sondern ersetze diese durch eine neue. Deshalb sei auch im Blick auf den Zweck des Vereinsverbots § 20 Abs. 1 Nr. 1 VereinsG dahin auszulegen, daß eine beschränkte Aufrechterhaltung des organisatorischen Zusammenhangs zur Rechtsverfolgung den Tatbestand nicht erfülle.
2. Der Bundesgerichtshof hat darauf hingewiesen, daß der Sonderausschuß für die Strafrechtsreform bei der Beratung des Achten Strafrechtsänderungsgesetzes erwogen habe, eine klarstellende Klausel in § 3 Abs. 3 VereinsG einzufügen, wonach das Verbot nicht für Tätigkeiten gelte, die der Anfechtung der Verbotsverfügung dienten. Von dem Vorschlag einer solchen Regelung habe man abgesehen, weil Einigkeit darüber bestanden habe, daß derartige Tätigkeiten nicht von dem Vereinsverbot erfaßt werden und eine besondere Klausel zu unerwünschten Rückschlüssen auf andere Rechtsgebiete führen könnte. Bei dieser Auslegung seien unter den verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten der Art. 9 Abs. 2 und Art. 19 Abs. 4 GG keine durchgreifenden Bedenken gegen die Strafvorschrift zu erheben.
3. Der Generalbundesanwalt beim Bundesgerichtshof hält die Vorlage ebenfalls für unbegründet.
Auch er ist der Auffassung, das durch § 20 Abs. 1 Nr. 1 VereinsG strafbewehrte Verbot verwehre es den Mitgliedern einer verbotenen Vereinigung nicht, den Rechtsweg gegen die Verbotsverfügung zu beschreiten. Dies folge bereits daraus, daß die Rechtsordnung ausdrücklich Möglichkeiten der Anfechtung eines Vereinsverbots vorsehe und deshalb die hierfür erforderlichen Schritte nicht unter Strafe stellen könne. Der Zweck des Verbots werde hierdurch nicht beeinträchtigt. Dieser sei darauf gerichtet, die im Wesen des Vereins begründete Gesamtwillensbildung zu unterbinden. Ziele diese nicht mehr auf die Förderung der gesetzwidrigen Wirksamkeit der Organisation, sondern nurmehr darauf, einen Rechtsstreit um den Fortbestand der Vereinigung zu führen, sei die Strafbestimmung nicht einschlägig.
 
B.
Die Vorlage ist zulässig. Die Begründung des Vorlagebeschlusses genügt den Anforderungen, die gemäß Art. 100 Abs. 1 GG, § 80 Abs. 2 BVerfGG an die Zulässigkeit eines konkreten Normenkontrollantrages zu stellen sind.
 
C.
§ 20 Abs. 1 Nr. 1 VereinsG ist mit dem Grundgesetz vereinbar.
I.
1. Das Landgericht geht davon aus, § 20 Abs. 1 Nr. 1 VereinsG beziehe sich auf jede Maßnahme zur Aufrechterhaltung des organisatorischen Zusammenhalts eines Vereins. Es ist der Meinung, die Strafvorschrift erfasse auch solche Tätigkeiten, die ausschließlich der Durchführung des Rechtsmittelverfahrens gegen ein vollziehbares Vereinsverbot dienten. An einer Auslegung, die solche Handlungen vom Geltungsbereich der Strafdrohung ausnimmt, sieht es sich durch den - nach seiner Auffassung - eindeutigen Wortlaut der Vorschrift gehindert.
Einer so verstandenen Regelung stünde in der Tat Art. 19 Abs. 4 GG entgegen. Durch diese Verfassungsnorm ist gewährleistet, daß kein Akt der Exekutive, der in Grundrechte eingreift, der richterlichen Nachprüfung entzogen werden kann (vgl. BVerfGE 10, 264 [267]). Die verfassungsrechtliche Rechtsweggarantie schützt jedermann, der Träger eines Rechts im Sinne des Art. 19 Abs. 4 GG sein kann, also grundsätzlich auch nichtrechtsfähige Vereinigungen (vgl. Schmidt-Aßmann in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Art. 19 Abs. 4 Rdnr. 40 m.w.N. [Stand 1985]). Sie verbietet es, die Möglichkeit gerichtlichen Rechtsschutz dadurch abzuschneiden, daß die zur Vorbereitung und Durchführung des Anfechtungsverfahrens erforderlichen organisatorischen Schritte mit Strafe bedroht werden. Eine solche Verkürzung des Rechtsschutzes wäre aber die Folge, wenn die Rechtsansicht des vorlegenden Gerichts zuträfe. Dies ist jedoch nicht der Fall.
2. Das Bundesverfassungsgericht kann dies in eigener Zuständigkeit prüfen. Es ist bei der Beurteilung der Vorlagefrage nicht an die Gesetzesauslegung gebunden, die der Vorlegung zugrunde liegt (vgl. BVerfGE 7, 45 [50]; 31, 113 [117]; 51, 304 [313]). Es hat vielmehr den Sinngehalt der zur Nachprüfung gestellten Vorschrift selbständig zu ermitteln (vgl. BVerfGE 18, 70 [80]). Aus Wortlaut, Sinnzusammenhang und Entstehungsgeschichte ergibt sich, daß das Merkmal des Aufrechterhaltens des organisatorischen Zusammenhangs in § 20 Abs. 1 Nr. 1 VereinsG solche Tätigkeiten nicht erfaßt, die erforderlich sind, um einer vom Verbot betroffenen Vereinigung das Beschreiten des Rechtswegs zu ermöglichen.
Das in § 3 VereinsG bezeichnete Vereinsverbot, das durch die zur verfassungsrechtlichen Prüfung gestellte Strafvorschrift bewehrt wird, erstreckt sich ersichtlich nicht auf Handlungen, die der Ausschöpfung von Rechtsbehelfen gegen die Verbotsverfügung dienen. Das Vereinsgesetz setzt die Möglichkeit der Anfechtung des Vereinsverbots voraus. Dies ergibt sich aus § 3 Abs. 4 VereinsG, der auf § 80 VwGO verweist, und aus § 7 Abs. 1 VereinsG, der an die eingetretene Unanfechtbarkeit des Verbots anknüpft. Nach dem Sinnzusammenhang dieser Vorschriften kann § 3 Abs. 1 VereinsG nur dahin ausgelegt werden, daß das Verbot den gesetzlich vorgesehenen Anfechtungsmöglichkeiten nicht entgegensteht. Es erscheint ausgeschlossen, daß der Gesetzgeber einerseits einen Rechtsweg eröffnen, andererseits aber die zur Rechtsverfolgung notwendigen Schritte des Vereins und seiner Mitglieder verbieten und mit Strafe bedrohen wollte. Demgemäß wurde auch die Konzentration der Verbotszuständigkeit in § 3 Abs. 1 VereinsG im Gesetzgebungsverfahren mit der Erwägung begründet, dem Verein solle die Möglichkeit gegeben werden, sich in rechtlich geordneter Weise gegen das Verbot wehren zu können (vgl. den Regierungsentwurf eines Vereinsgesetzes, BTDrucks. IV/430 S. 13). Auch der Sonderausschuß für die Strafrechtsreform hat bei der Beratung des Entwurfs eines Achten Strafrechtsänderungsgesetzes, durch das § 20 VereinsG neu gefaßt wurde, es als selbstverständlich angesehen, daß der aufgelöste Verein die Maßnahmen ergreifen könne, die mit der Prozeßführung im Zusammenhang stünden. Hierzu gehörten etwa auch Mitgliederversammlungen mit dem Zweck der Erörterung der Rechtslage, die Neuwahl eines Vorstandes zur sachgerechten Vertretung im Prozeß und die Sammlung von Mitgliedsbeiträgen für die Prozeßkosten. Von dem Vorschlag einer ausdrücklichen gesetzlichen Klarstellung wurde nur deshalb abgesehen, weil man befürchtete, eine solche - als unnötig erachtete - Regelung könne unerwünschte Rückschlüsse auf andere Rechtsgebiete zulassen (vgl. Protokoll der 69. Sitzung des Sonderausschusses für die Strafrechtsreform am 21. Juni 1967; 5. Wahlperiode, S. 1341 f.; vgl. auch Seifert, DÖV 1965, S. 35).
3. Ist nach alledem davon auszugehen, daß Maßnahmen und Handlungen der Vereinigung, die auf die Einlegung von Rechtsmitteln gegen eine Verbotsverfügung gerichtet sind und diese Rechtsverfolgung unterstützend begleiten sollen, keine Zuwiderhandlung gegen das Vereinsverbot enthalten und deshalb auch vom Straftatbestand des § 20 Abs. 1 Nr. 1 VereinsG nicht erfaßt werden, so könnte die in Rede stehende Strafvorschrift nur deshalb mit der Rechtsweggarantie des Art. 19 Abs. 4 GG unvereinbar sein, weil sie bereits Verstöße gegen nicht bestandskräftige Verbote mit Strafe bedroht. Ein solcher Verfassungsverstoß liegt nicht vor.
Art. 19 Abs. 4 GG garantiert zwar auch einen Anspruch auf wirksame gerichtliche Kontrolle und will zu diesem Zweck irreparable Entscheidungen so weit als möglich ausschließen. Die Verfassungsvorschrift steht jedoch dem sofortigen Vollzug von Verwaltungsakten nicht entgegen, sofern es erforderlich ist, unaufschiebbare Maßnahmen im überwiegenden Allgemeininteresse rechtzeitig in die Wege zu leiten (vgl. BVerfGE 13, 174 [177 ff.]; 35 382 [402]; 51, 268 [284]). Ob diese Voraussetzungen vorliegen, ist im jeweiligen Einzelfall zu prüfen und kann gegebenenfalls im Verfahren nach § 80 VwGO zum Gegenstand richterlicher Kontrolle gemacht werden.
II.
In der dargelegten Auslegung genügt § 20 Abs. 1 Nr. 1 VereinsG auch im übrigen den Anforderungen des Grundgesetzes. Er verletzt weder die verfassungskräftig gewährleistete Vereinigungsfreiheit (Art. 9 GG) noch die Grundsätze der Verhältnismäßigkeit und der Gewaltenteilung oder das Gebot der Gesetzesbestimmtheit.
1. a) Das Grundrecht des Art. 9 Abs. 1 GG gewährleistet die Freiheit, sich zu Vereinigungen des privaten Rechts zusammenzuschließen (BVerfGE 10, 89 [102]; 10, 354 [361 f.]). Mit dem Recht, Vereine und Gesellschaften zu bilden, garantiert Art. 9 Abs. 1 GG das Prinzip freier sozialer Gruppenbildung (vgl. BVerfGE 38, 281 [302 f.]). Der Schutz des Grundrechts umfaßt sowohl für Mitglieder als auch für die Vereinigung die Selbstbestimmung über die eigene Organisation, das Verfahren ihrer Willensbildung und die Führung ihrer Geschäfte (BVerfGE 50, 290 [354]) sowie - unbeschadet der Frage der Rechtsfähigkeit - das Recht auf Entstehen und Bestehen (vgl. BVerfGE 13, 174 [175]). Art. 9 Abs. 1 GG schützt insbesondere vor einem Eingriff in den Kernbereich des Vereinsbestandes und der Vereinstätigkeit; die Vorschrift soll so einen effektiven Grundrechtsschutz gewährleisten (vgl. BVerfGE 30, 227 [241]).
Gemäß Art. 9 Abs. 2 GG sind Vereinigungen, deren Zwecke oder deren Tätigkeit den Strafgesetzen zuwiderlaufen oder die sich gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder gegen den Gedanken der Völkerverständigung richten, verboten. Mit dieser abschließenden Festlegung von Verbotsgründen beschränkt Art. 9 Abs. 2 GG das kollektive Recht auf Fortbestand der Vereinigung und setzt dem Grundrecht der Vereinigungsfreiheit von Verfassungs wegen eine eigenständige Grenze. Art. 9 GG ist dahin auszulegen, daß Abs. 1 die Vereinigungsfreiheit lediglich mit der sich aus Abs. 2 ergebenden Einschränkung gewährleistet (vgl. von Mangoldt/Klein, Das Bonner Grundgesetz, 2. Aufl. 1957, Art. 9 Anm. IV 2 m. w. N.; Scholz in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Art. 9 Rdnr. 112 ff. [Stand 1979]). Das Verbot des Art. 9 Abs. 2 GG geht weiter als die Einschränkungen, die in der Verfassung des Deutschen Reiches vom 11. August 1919 (RGBl. S. 1383) vorgesehen waren. Während Art. 124 Abs. 1 WRV noch die Bildung von Vereinen und Gesellschaften zu allen Zwecken erlaubte, die den Strafgesetzen nicht zuwiderliefen, zieht das Grundgesetz engere Schranken zum Schutz der in Art. 9 Abs. 2 GG genannten Rechtsgüter, eine Haltung, die vor dem Hintergrund der Erfahrungen der Auseinandersetzung mit einem totalitären System zu verstehen ist (vgl. BVerf- GE 5, 85 [138]). Soweit es um den Schutz dieser Rechtsgüter geht, enthält Art. 9 Abs. 2 GG ein Instrument des "präventiven Verfassungsschutzes" (vgl. Stern, Staatsrecht, Bd. I, 2. Aufl., S. 183) und ist, ebenso wie Art. 21 Abs. 2 und Art. 18 GG, Ausdruck des Bekenntnisses des Grundgesetzes zu einer "streitbaren Demokratie" (vgl. BVerfGE 5, 85 [139]; 25, 88 [100]).
b) Die in § 3 VereinsG vorgesehene Ausgestaltung des Vereinsverbots, das durch die vorgelegte Vorschrift strafbewehrt wird, hält der Nachprüfung anhand dieses verfassungsrechtlichen Maßstabes stand.
Art. 9 Abs. 2 GG enthält die einzige von der Verfassung vorgesehene Begrenzung der Vereinsfreiheit. Der Gesetzgeber ist darauf beschränkt, das verfassungsrechtliche Verbot näher auszufüllen; er darf dessen Grenzen nicht ausdehnen. Die in § 3 Abs. 1 VereinsG enthaltene Bestimmung, wonach die Feststellung der Voraussetzungen des Art. 9 Abs. 2 GG stets mit der Anordnung der Auflösung des Vereins zu verbinden ist, hält sich im Rahmen dieser Regelungsbefugnis. Es ist von Verfassungs wegen nicht geboten, die Auflösung einer Vereinigung, der vom Grundgesetz selbst untersagte Aktivitäten angelastet werden, erst dann zu verfügen und durchzusetzen, wenn die die Auflösung begründenden Feststellungen unanfechtbar geworden sind. Auszugehen ist von Sinn und Zweck der verfassungsrechtlichen Vorgabe des Art. 9 Abs. 2 GG. Die Vorschrift verlangt, drohenden Gefährdungen des Staates, seines Bestandes und seiner Grundordnung, die aus kollektiven strafbaren oder verfassungswidrigen Bestrebungen erwachsen können, rechtzeitig und wirksam entgegenzutreten (vgl. Scholz, a. a. O., Rdnr. 113). Im Blick auf diese Entscheidung der Verfassung bestehen keine Bedenken, daß eine Vereinigung, unbeschadet der Möglichkeit, den Rechtsweg zu beschreiten, bereits vor Bestandskraft der Verbotsverfügung aufgelöst und damit ihrem Wirken ein Ende gesetzt wird. Die Gegenmeinung (vgl. Willms, JZ 1965, S. 86 ff. [90]; ders. in: Leipziger Kommentar zum StGB, 10. Aufl., § 85 Rdnr. 13; von Feldmann, DÖV 1965, S. 29 [33 f.]; Schmidt, NJW 1965, S. 424 [429]; Schnorr, Öffentliches Vereinsrecht [1965], § 20 Rdnr. 2; Meyer in: Erbs/Kohlhaas, Strafrechtliche Nebengesetze, V 52 [Vereinsgesetz], 53. Erg.Liefg., § 20 Anm. 3 b; Spiller, Das Vereinsverbot nach geltendem Verfassungsrecht, Diss.Jur. Würzburg 1968, S. 107) legt dem in Art. 9 Abs. 2 GG zum Ausdruck kommenden Willen des Verfassungsgebers zu wenig Gewicht bei. Dessen Anliegen, den Grundrechtsschutz für Organisationen auszuschließen, deren Tätigkeit elementaren Grundsätzen der Rechtsordnung und der Völkerverständigung zuwiderläuft, beruht nicht zuletzt auf der Erkenntnis, daß derartige Aktivitäten besonders gefährliche Entwicklungen auszulösen vermögen, wenn sie sich auf eine gemeinschaftliche Basis stützen können. Die unverzügliche Auflösung solcher Vereinigungen wird in aller Regel die erforderliche Maßnahme sein, solche Gefahren für die durch Art. 9 Abs. 2 GG verfassungsrechtlich geschützten Rechtsgüter abzuwehren.
2. Auch die der Strafvorschrift des § 20 Abs. 1 Nr. 1 VereinsG zugrundeliegende Wertung, bereits Verstöße gegen noch nicht unanfechtbare Vereinsverbote seien strafwürdig und strafbedürftig, begegnet keinen verfassungsrechtlichen Bedenken. Sie verstößt weder gegen den Schuldgrundsatz noch gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit.
a) Nach dem den Bereich staatlichen Strafens wesentlich bestimmenden Schuldgrundsatz setzt jede Strafe Schuld voraus. Dieser Grundsatz hat Verfassungsrang; er ist an der Idee der Gerechtigkeit orientiert und findet seine Grundlage im Rechtsstaatsprinzip und in Art. 1 Abs. 1 GG (vgl. BVerfGE 50, 205 (214) m. w. N.). Das bedeutet, daß Tatbestand und Rechtsfolge sachgerecht aufeinander abgestimmt sein müssen (vgl. BVerfGE 25, 269 [286]). Dabei ist es grundsätzlich Sache des Gesetzgebers, den Bereich strafbaren Handelns unter Berücksichtigung der jeweiligen Lage im einzelnen verbindlich festzulegen. Das Bundesverfassungsgericht kann dessen Entscheidung nicht darauf prüfen, ob er dabei die zweckmäßigste, vernünftigste oder gerechteste Lösung gefunden hat; es hat lediglich darüber zu wachen, daß die Norm materiell im Einklang mit den Bestimmungen der Verfassung steht und den ungeschriebenen Verfassungsgrundsätzen und Grundentscheidungen des Grundgesetzes entspricht (vgl. BVerfGE 27, 18 [30]; 37, 201 [212]; 45, 272 [289]; 51, 60 [74]; 80, 182 [186]).
b) Da von einer Vereinigung, die nach der Einschätzung oberster Bundes- oder Landesbehörden die Voraussetzungen des Art. 9 Abs. 2 GG erfüllt, Gefahren ausgehen können, die ein besonderes öffentliches Interesse an der alsbaldigen Unterbindung solcher Bestrebungen begründen, kann die Entscheidung des Gesetzgebers, schon das vollziehbare Vereinsverbot strafbewehrt auszugestalten, von Verfassungs wegen nicht beanstandet werden. Der Unwert der Tathandlung des § 20 Abs. 1 Nr. 1 VereinsG erschöpft sich nicht in bloßem Ungehorsam. Es handelt sich vielmehr um eine Betätigung, die wichtige Anliegen der Allgemeinheit gefährdet. Hinzu kommt, daß die Mittel des Verwaltungszwangs gegenüber weitverzweigten Organisationen und vor allem gegenüber geheimer oder getarnter Fortsetzung eines verbotenen Vereins in aller Regel nicht ausreichen werden. Auch aus diesem Grund konnte es der Gesetzgeber für geboten erachten, den Verstoß gegen ein Vereinsverbot in gewissem Umfang schon vor Eintritt der Unanfechtbarkeit mit einer Kriminalstrafe zu bedrohen. Dies begegnet um so weniger Bedenken, als es der verbotenen Vereinigung freisteht, im Verfahren nach § 80 VwGO die Aufschiebung der Vollziehbarkeit des Verbots zu erreichen (vgl. § 3 Abs. 4 Satz 3 Halbsatz 2 VereinsG) und damit zugleich die Strafbarkeit nach § 20 Abs. 1 Nr. 1 VereinsG jedenfalls für die Dauer der Aufschiebung zu beseitigen.
3. Die Strafbewehrung eines Verwaltungsaktes und die dadurch bedingte Bindung des Strafrichters an die Entscheidung einer Verwaltungsbehörde verstößt nicht gegen den Grundsatz der Gewaltenteilung (Art. 20 Abs. 3 GG). Der Zweck der vorgelegten Vorschrift, dem organisatorischen Zusammenhalt eines verbotenen Vereins und damit Verstößen gegen verwaltungsrechtliche Anordnungen auch mit Mitteln des Strafrechts entgegenzuwirken, bedingt zwangsläufig eine enge Verzahnung von Strafrecht und Verwaltungsrecht. Die Pflicht des Strafrichters, ein vollziehbares Vereinsverbot, auch wenn es noch nicht unanfechtbar ist, jedenfalls grundsätzlich als gegeben hinzunehmen, folgt aus der Formulierung des gesetzlichen Tatbestandes (vgl. BVerfGE 75, 329 [346]). Es ist insoweit Sache des Gesetzgebers, verwaltungsrechtliche Anordnungen, zu deren Durchsetzung die Strafbewehrung als erforderlich erscheint, zum Tatbestandsmerkmal einer Strafvorschrift zu bestimmen.
4. Die Strafvorschrift genügt auch dem verfassungsrechtlichen Bestimmtheitsgebot (Art. 103 Abs. 2, Art. 104 Abs. 1 Satz 1 GG). Danach ist der Gesetzgeber verpflichtet, die Voraussetzungen der Strafbarkeit so konkret zu umschreiben, daß Tragweite und Anwendungsbereich der Straftatbestände zu erkennen sind und sich durch Auslegung ermitteln lassen (vgl. BVerfGE 25, 269 [285]; 73, 206 [234 f.]; 75, 329 [340 ff.]; 78, 374 [381 f.]; st. Rspr.). Eine hinreichend verläßliche, rechtsstaatlicher Gewichtung entsprechende und sachgerechte Beschränkung der mit Strafe bedrohten Verhaltensweisen kann aus den Tatbestandsmerkmalen des § 20 Abs. 1 Nr. 1 VereinsG im Wege der Auslegung gewonnen werden. In Anbetracht der Rechtsschutzmöglichkeiten, die der Gesetzgeber bei Vereinsverboten vorsieht, kann der Normadressat unschwer erkennen, daß die Wahrnehmung verwaltungsrechtlicher Rechtsbehelfe nicht von der Strafnorm des § 20 Abs. 1 Nr. 1 VereinsG umfaßt wird.
Träger, Böckenförde, Graßhof, Kruis, Franßen, Kirchhof