BVerfGE 82, 43 - Anti-Strauß-Komitee
Will sich ein Strafgericht unter mehreren möglichen Deutungen einer Äußerung für die zur Bestrafung führende entscheiden, so muß es dafür besondere Gründe angeben. Dabei darf es nur Umstände berücksichtigen, die dem sich Äußernden zurechenbar sind.
 
Beschluß
des Ersten Senats vom 19. April 1990
– 1 BvR 40, 42/86 –
in den Verfahren über die Verfassungsbeschwerden 1. der Frau R..., – Bevollmächtigter: Rechtsanwalt Hans Lafontaine, Rotenbergstraße 17, Saarbrücken 3 – 1 BvR 40/86 – ; 2. der Frau C... – Bevollmächtigter: Rechtsanwalt Eberhard Kempf, Eckenheimer Landstraße 17, Frankfurt l – 1 BvR 42/86 – gegen a) den Beschluß des Bayerischen Obersten Landesgerichts vom 29. November 1985 – RReg. 2 St 128/85 –, b) das Urteil des Landgerichts Regensburg vom 6. November 1984 – 3 Ns 2 Js 8133/81 a b –, c) das Urteil des Amtsgerichts Regensburg vom 30. Juni 1982 – Cs 2 Js 8133/81 –.
 
Entscheidungsformel:
Das Urteil des Landgerichts Regensburg vom 6. November 1984 – 3 Ns 2 Js 8133/81 a b – und der Beschluß des Bayerischen Obersten Landesgerichts vom 29. November 1985 – RReg. 2 St 128/85 – verletzen die Beschwerdeführerinnen in ihren Grundrechten aus Artikel 5 Absatz 1 Satz 1 des Grundgesetzes. Die Entscheidungen werden aufgehoben. Die Sache wird an das Landgericht zurückverwiesen.
Im übrigen werden die Verfassungsbeschwerden verworfen.
Der Freistaat Bayern hat die notwendigen Auslagen der Beschwerdeführerinnen zu erstatten.
 
Gründe:
 
A.
Die Verfassungsbeschwerden betreffen strafgerichtliche Verurteilungen wegen Beleidigung durch ein Transparent, das die Beschwerdeführerinnen während einer Demonstration trugen.
I.
Die Beschwerdeführerinnen waren Mitglieder eines sogenannten Anti-Strauß-Komitees, das sich die politische Bekämpfung des damaligen bayerischen Ministerpräsidenten Strauß zum Ziel gesetzt hatte. Als dieser am 10. Juli 1981 in Regensburg vor etwa 300 Bürgern einen Baum pflanzte, traf er auf rund 30 Mitglieder des Anti-Strauß-Komitees, darunter die Beschwerdeführerinnen, die sich dort versammelt hatten und riefen: "Stoppt Strauß! Strauß raus!". Dabei trugen die beiden Beschwerdeführerinnen ein Stofftransparent mit der Aufschrift:
    "Strauß deckt Faschisten!"
In unmittelbarer Nähe der Beschwerdeführerinnen stand eine weitere Demonstra[n]tin – die anderweitig verfolgte Frau P. – und hielt ein Plakat mit der Aufschrift:
    "Strauß, der Faschistenfreund, schützt Hoffmann, den Oktoberfestmörder!"
II.
1. Ministerpräsident Strauß stellte wegen dieses Vorfalls gegen die Beschwerdeführerinnen Strafantrag wegen Beleidigung und schloß sich dem nachfolgenden Strafverfahren als Nebenkläger an.
Das Amtsgericht verurteilte die Beschwerdeführerinnen wegen Beleidigung zu Geldstrafen, gestattete dem Nebenkläger die Veröffentlichung der Verurteilung und zog das sichergestellte Transparent ein. Es sah in der Transparentaufschrift eine ehrverletzende Äußerung, mit der der Nebenkläger nicht nur in die geistige Nähe des Faschismus und seiner Führer gerückt, sondern diesen als Komplize gleichgestellt werde.
2. Die Berufungen der Beschwerdeführerinnen wurden vom Landgericht unter Herabsetzung der Höhe des Tagessatzes verworfen. Es führte aus, die Äußerung "Strauß deckt Faschisten" bedeute, der Nebenkläger schütze Zeitgenossen dieser politischen Grundhaltung, womit notwendig die Aussage verbunden sei, daß er selber diese Grundhaltung teile. Die Formulierung stelle eine Schmähung dar, für die auch im politischen Meinungskampf kein Platz sein könne.
3. Auf die Revision der Beschwerdeführerinnen hob das Bayerische Oberste Landesgericht das Berufungsurteil auf und verwies die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung an eine andere Strafkammer zurück. Zur Begründung führte es aus: Gegen die Art und Weise der vom Landgericht vorgenommenen Auslegung der Transparentaufschrift bestünden durchgreifende Bedenken. Zwar seien die Feststellungen des Tatrichters für das Revisionsgericht grundsätzlich bindend. Das gelte auch für die Auslegung von Texten. Vorausgesetzt sei dabei jedoch, daß der Tatrichter den Sachverhalt erschöpfend gewürdigt habe. Wenn mehrere Deutungen eines Textes möglich seien, so müsse er, bevor er sich für eine entscheide, andere abwägen und ausscheiden. Ein sachlich-rechtlicher Fehler liege vor, wenn er die Möglichkeit mehrerer Folgerungen nicht erkannt oder eine lediglich mögliche Schlußfolgerung für zwingend erachtet und deshalb bei seiner Überzeugungsbildung andere denkbare Schlüsse außer acht gelassen habe.
Der Satz "Strauß deckt Faschisten" lasse verschiedene Auslegungen zu. Er könne eine verallgemeinernde oder eine bestimmte Behauptung, aber auch einen Vorwurf oder eine Warnung bedeuten. Der Schluß des Landgerichts, daß mit der Behauptung, jemand decke eine Person, notwendig zum Ausdruck gebracht werde, er stimme mit deren Grundhaltung überein, sei weder denkgesetzlich zutreffend noch durch Erfahrungen belegt. Wer einen anderen "decke", könne aus unterschiedlichen Gründen handeln. Er könne es tun, weil er von gleicher Gesinnung sei. Er könne es aber auch tun, weil er es aus anderen Erwägungen für angezeigt, zweckmäßig oder geboten erachte. Die Schlußfolgerung des Landgerichts bedürfe deswegen der Darlegung entsprechender Umstände, die seine Deutung stützten.
4. In der erneuten Berufungsverhandlung verwarf das Landgericht die Berufungen, wobei es die Höhe des Tagessatzes der Geldstrafe abermals herabsetzte. In den Gründen führte es aus: Die Beschwerdeführerinnen hätten sich einer Beleidigung gemäß § 185 StGB schuldig gemacht. Ihre Äußerung sei objektiv so zu verstehen, daß der Nebenkläger Faschisten decke, weil er ebenfalls eine faschistische Gesinnung besitze. Dies ergebe sich aus den besonderen Umständen, unter denen die Kundgabe erfolgt sei. Die Demonstration sei vom Anti-Strauß-Komitee veranstaltet worden, einer Vereinigung, die den Nebenkläger als Hauptvertreter der faschistischen Kräfte in der Bundesrepublik ansehe. Das Komitee habe zu der Veranstaltung verschiedene Plakate mitgebracht, die von den Mitgliedern hätten genommen und gezeigt werden können. Die Demonstranten seien als Gruppe aufgetreten und hätten ihre dem Nebenkläger feindliche Gesinnung in Wort und Schrift zum Ausdruck gebracht. Eine Mitdemonstrantin, die in unmittelbarer Nähe der Beschwerdeführerinnen gestanden habe, habe ein Plakat mit der Aufschrift "Strauß, der Faschistenfreund, schützt Hoffmann, den Oktoberfestmörder!" getragen. Diese Umstände ließen nur den Schluß zu, daß die Beschwerdeführerinnen objektiv zum Ausdruck gebracht hätten, der Nebenkläger sei ebenfalls von faschistischer Gesinnung. Dieser Vorwurf stelle eine Kundgabe der Nichtachtung oder Mißachtung dar. Bei dem kundgebenden Satz handele es sich um ein Werturteil, das nicht durch eine tatsächliche Behauptung belegt worden sei. Für die Entscheidung komme es daher auf die Tatsachen, mit denen die Beschwerdeführerinnen die Berechtigung des Werturteils untermauern wollten, nicht an.
Das Verhalten der Beschwerdeführerinnen sei nicht durch den Rechtfertigungsgrund der Wahrnehmung berechtigter Interessen gedeckt. Bei Auseinandersetzungen, in denen es um die öffentliche Meinungsbildung gehe, entfalte das Grundrecht auf Meinungsfreiheit zwar besondere Bedeutung. Die grundrechtliche Rechtfertigung komme aber nicht Äußerungen zugute, die sich jenseits sachlicher Kritik in Schmähungen und Diffamierungen erschöpften. Bei der Äußerung der Beschwerdeführerinnen handele es sich um eine bloße Beschimpfung und Schmähung, die jegliche Sachaussage vermissen lasse und zu der weder das Ereignis noch das Verhalten des Nebenklägers Anlaß gegeben hätten.
Auch ein Recht zum Gegenschlag könne das Verhalten der Beschwerdeführerinnen nicht rechtfertigen. Selbst wenn es zuträfe, daß der Nebenkläger bei anderen Gelegenheiten seinerseits mit politischen Gegnern nicht zimperlich umgegangen sei, so gebe das den Beschwerdeführerinnen kein Recht, ihn anläßlich dieser Veranstaltung öffentlich herabzusetzen.
5. Die neuerliche Revision der Beschwerdeführerinnen verwarf das Bayerische Oberste Landesgericht als offensichtlich unbegründet. Es wies die Verfahrensrügen, die insbesondere die Ablehnung von Beweisanträgen betrafen, zurück. Auch die Rüge der Verletzung materiellen Rechts blieb erfolglos. Es sei nicht zu beanstanden, daß das Landgericht in dem Satz "Strauß deckt Faschisten!" ein Werturteil gesehen habe. Der tatsächliche Gehalt der Äußerung trete gegenüber der subjektiven Wertung in den Hintergrund. Auch die Darlegung des Landgerichts, die Kundgabe der Beschwerdeführerinnen sei so zu verstehen, daß der Nebenkläger selbst eine faschistische Gesinnung besitze, halte rechtlicher Nachprüfung stand. Die Annahme, der dem Nebenkläger gemachte Vorwurf stelle eine reine Schmähung und einen offenkundigen Wertungsexzeß dar, der weder durch das Recht der freien Meinungsäußerung noch durch die Wahrnehmung berechtigter Interessen und auch nicht durch das Recht des Gegenschlages gedeckt sei, entspreche der obergerichtlichen Rechtsprechung.
III.
Mit ihren Verfassungsbeschwerden rügen die Beschwerdeführerinnen Verletzungen des Art. 5 Abs. 1 und des Art. 103 Abs. 1 GG, die Beschwerdeführerin zu 1) hält zusätzlich einen Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG für gegeben.
1. Die Beschwerdeführerin zu 1) macht geltend:
a) Das Berufungsgericht habe seine Überzeugung, die umstrittene Äußerung sei so zu verstehen, daß der Nebenkläger Faschisten decke, weil er selbst eine faschistische Gesinnung besitze, auf Umstände gestützt, die nicht Gegenstand der Hauptverhandlung gewesen seien und zu denen die Beschwerdeführerin sich nicht habe äußern können. In der Hauptverhandlung seien die Aktionen und Veröffentlichungen des Anti-Strauß-Komitees nicht zur Sprache gekommen. Mit der Revision habe sie deshalb eine Verletzung des § 261 StPO gerügt. Das Revisionsgericht habe zwar dienstliche Äußerungen eingeholt, den Verfahrensverstoß im Hinblick auf deren widersprüchlichen Inhalt jedoch nicht als erwiesen betrachtet. Dies verletze Art. 103 Abs. 1 GG, weil sich das Revisionsgericht nicht um eine weitere Aufklärung des Sachverhalts bemüht habe.
b) Verletzt sei auch Art. 5 Abs. 1 GG. Der Satz "Strauß deckt Faschisten!" sei so kurz, klar und einfach, daß er nicht wie geschehen umgedeutet werden könne. Die Äußerung stelle zwar ein Werturteil dar. Die Beschwerdeführerinnen hätten es aber auf Tatsachen, nämlich bestimmte Handlungen des Nebenklägers, gestützt. Eine Verurteilung, die diese Tatsachen völlig unberücksichtigt lasse, könne Art. 5 Abs. 1 GG nicht gerecht werden.
c) Die Verurteilung verstoße ferner gegen Art. 3 Abs. 1 GG, weil das Verhalten eines umstrittenen Politikers willkürlich der öffentlichen Auseinandersetzung entzogen worden sei.
2. Die Beschwerdeführerin zu 2) macht geltend:
a) Art. 103 Abs. 1 GG sei dadurch verletzt, daß ihre Beweisanträge auf Vernehmung des Nebenklägers abgelehnt worden seien. Mit diesen Beweisanträgen habe nachgewiesen werden sollen, daß der Nebenkläger umfangreiche Beziehungen zu in- und ausländischen Alt- und Neofaschisten unterhalte und ihnen in verschiedener Form Unterstützung zuteil werden lasse. Die Beweisanträge seien mit der Begründung abgelehnt worden, die Transparentaufschrift stelle ein Werturteil dar, das einem Wahrheitsbeweis nicht zugänglich sei. Ein solches Vorgehen verletze den Anspruch auf rechtliches Gehör.
b) Vor allem aber liege in der Verurteilung eine Verletzung des Grundrechts auf freie Meinungsäußerung. Die Gerichte hätten dessen Auswirkung auf die strafrechtlichen Bestimmungen des Ehrenschutzes verkannt und sich nur formelhaft mit Art. 5 GG und § 193 StGB auseinandergesetzt. Bereits die Auslegung, die sie dem inkriminierten Satz gegeben hätten, verletze Art. 5 Abs. 1 GG. Mit dieser Äußerung sei ein Beitrag zum geistigen Meinungskampf in einer die Öffentlichkeit wesentlich berührenden Frage geleistet worden. Es sei unzulässig, bei der Auslegung dieses Satzes auf frühere Äußerungen einer Vereinigung (des Anti-Strauß-Komitees) abzustellen. Nicht die Absicht des Äußernden, sondern der Empfängerhorizont müsse maßgeblich dafür sein, welche Bedeutung dem Satz beigelegt werde. Werde gemäß dem Beweisantrag davon ausgegangen, daß der Nebenkläger tatsächlich Beziehungen zu Faschisten unterhalte und diese unterstütze, so beschränke sich der Aussagengehalt der Äußerung auf eine – wenn auch scharfe – Kritik. Die Äußerung stelle dann gerade nicht eine bloße Schmähung oder Beschimpfung dar, sondern bilde einen zulässigen Beitrag im politischen Meinungskampf.
3. Das Bayerische Staatsministerium der Justiz hat die Ansicht vertreten, die Verurteilung verstoße nicht gegen Art. 5 Abs. 1 GG; die Tatsachenfeststellung wie die Auslegung und Anwendung einfachen Rechts seien Sache der Fachgerichte und vom Bundesverfassungsgericht grundsätzlich nicht nachzuprüfen. Es sei nicht zu beanstanden, daß die Strafgerichte den Satz "Strauß deckt Faschisten" aufgrund der konkreten Umstände als Werturteil angesehen hätten, mit dem zum Ausdruck gebracht werden sollte, der Nebenkläger sei selbst faschistischer Gesinnung. Bei diesem Vorwurf handele es sich aber um eine vom Grundrecht der Meinungsfreiheit nicht mehr gedeckte reine Schmähkritik.
 
B. – I.
Die Verfassungsbeschwerden sind unzulässig, soweit sie sich gegen das Urteil des Amtsgerichts wenden. In dieser Hinsicht genügen sie nicht den Anforderungen des § 92 BVerfGG. Die Darlegungen der Beschwerdeführerinnen gehen auf die Urteilsgründe des Amtsgerichts nicht ein, sondern beziehen sich ausschließlich auf die zweite Berufungs- und die zweite Revisionsentscheidung. Das Amtsgericht hat zur Deutung der Transparentaufschrift weder die Zielsetzungen des Anti-Strauß-Komitees noch den Text anderer Plakate herangezogen. Gerade darin sehen die Beschwerdeführerinnen aber den Verfassungsverstoß des Berufungs- und des Revisionsgerichts.
II.
Im übrigen sind die Verfassungsbeschwerden zulässig und begründet. Die angegriffenen Entscheidungen des Landgerichts und des Bayerischen Obersten Landgerichts verstoßen gegen das Grundrecht der Beschwerdeführerinnen aus Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG. Zwar findet dieses Grundrecht seine Schranken in den allgemeinen Gesetzen und den Vorschriften zum Schutz der persönlichen Ehre, zu denen auch §§ 185,193 StGB zählen. Doch muß das grundrechtsbeschränkende Gesetz seinerseits wieder im Lichte des beschränkten Grundrechts ausgelegt werden (vgl. BVerfGE 7, 198 [208 f.]; st. Rspr.). Diesem Erfordernis haben die Strafgerichte nicht in ausreichendem Maß Rechnung getragen.
1. Auch im Strafverfahren sind die Feststellung und Würdigung des Tatbestandes sowie die Auslegung und Anwendung des einfachen Rechts Sache der Fachgerichte. Das Bundesverfassungsgericht hat im Rahmen der Verfassungsbeschwerde nur zu überprüfen, ob gegen Grundrechte des Beschwerdeführers verstoßen wurde. Bei Eingriffen in die Meinungsfreiheit kann sich diese Überprüfung jedoch nicht auf die Frage beschränken, ob die angegriffenen Entscheidungen Fehler erkennen lassen, die auf einer grundsätzlich unrichtigen Anschauung von der Bedeutung des Grundrechts, insbesondere vom Umfang seines Schutzbereichs, beruhen (vgl. BVerfGE 18, 85 [93]). Das Bundesverfassungsgericht hat vielmehr auch im einzelnen zu prüfen, ob jene Entscheidungen bei der Feststellung und Würdigung des Tatbestandes sowie der Auslegung und Anwendung einfachen Rechts die verfassungsrechtlich gewährleistete Meinungsfreiheit verletzt haben (BVerfGE 43, 130 [136]).
Bei Äußerungsdelikten können schon die tatsächlichen Feststellungen des erkennenden Gerichts eine solche Verletzung enthalten. Das kann insbesondere der Fall sein, wenn der Inhalt einer schriftlichen Äußerung zu ermitteln ist und der Äußerung eine Deutung gegeben wird, die sich aus ihrem Wortlaut nicht oder nicht mit hinreichender Klarheit ergibt. Der Inhalt einer Äußerung muß durch Interpretation ermittelt werden. Hat die Äußerung eine Einflußnahme auf den Prozeß der Meinungsbildung zum Ziel, so müssen die Gesichtspunkte und Maßstäbe, die das Gericht bei der Interpretation heranzieht, mit Art. 5 Abs. 1 GG vereinbar sein. Insoweit stehen einer verfassungsgerichtlichen Überprüfung der tatsächlichen Feststellung nicht diejenigen Umstände entgegen, die bei sonstigen Tatsachenfeststellungen regelmäßig zu einer Bindung an die Feststellungen der Fachgerichte führen (vgl. BVerfG, a.a.O., S. 137; st. Rspr.).
Eine derart intensivierte Kontrolle ist etwa dann für nötig erachtet worden, wenn eine Äußerung von den Fachgerichten als unrichtige Tatsachenbehauptung qualifiziert wird, weil der sich Äußernde aufgrund dieser Einordnung die Möglichkeit der Berufung auf das Grundrecht der Meinungsfreiheit weitgehend verliert (vgl. BVerfGE 61, 1 [10]). Entsprechendes gilt für die Einordnung einer Äußerung als Formalbeleidigung, weil auch solche Äußerungen nicht den Schutz des Grundrechts genießen (vgl. BVerfGE 60, 234 [242]). Eine verfassungsgerichtliche Überprüfung muß ferner stattfinden, wenn die Fachgerichte eine Äußerung als Schmähkritik einordnen. Schmähkritik fällt im Gegensatz zu Formalbeleidigungen zwar nicht von vornherein aus dem Schutzbereich des Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG heraus. Bei der Abwägung zwischen dem Ehrenschutz und der Meinungsäußerungsfreiheit tritt in Fällen der Schmähkritik die Meinungsfreiheit aber regelmäßig hinter dem Ehrenschutz zurück (vgl. BVerfGE 66, 116 [151]). Der Überprüfung steht endlich auch die fachgerichtliche Ermittlung des Sinns einer Äußerung offen, weil diese die Grundlage für ihre rechtliche Qualifizierung als Tatsachenbehauptung oder Werturteil, Formalbeleidigung oder Schmähkritik bildet (vgl. BVerfGE 43, 130 [137]). In all diesen Fallkonstellationen hat das Bundesverfassungsgericht darauf zu achten, daß nicht schon bei der Einordnung von Äußerungen, die zugleich Reichweite und Gewicht des Grundrechtsschutzes präjudiziert, die freie geistige Auseinandersetzung über Gebühr eingeschränkt wird.
Das gilt besonders dann, wenn es sich um einen Meinungsbeitrag in einer die Öffentlichkeit wesentlich berührenden Frage handelt (vgl. BVerfGE 66, 116 [150] m.w.N.). Dabei ist nicht allein darauf zu achten, daß dem Betroffenen keine Äußerungen zur Last gelegt werden, die er nicht getan hat (vgl. BVerfGE 43, 130 [136]; 54, 148 [155]; 208 [217]). Es kommt vielmehr auch darauf an sicherzustellen, daß der Sinn einer Äußerung nicht in einer Weise ermittelt wird, die der Bedeutung der Meinungsäußerung für die Persönlichkeitsentfaltung des Einzelnen und seine Teilnahme am politischen Leben wie auch für die freie Kommunikation in der Gesellschaft insgesamt widerspricht.
2. Es ist von Verfassungs wegen nicht zu beanstanden, daß die Strafgerichte eine Äußerung des Inhalts, der Nebenkläger sei von faschistischer Gesinnung, als Schmähkritik betrachten, die nicht mehr durch berechtigte Interessen gedeckt ist und daher hinter dem Persönlichkeitsrecht des Betroffenen zurückstehen muß. Dagegen sind die Strafgerichte unter Verstoß gegen Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG zu der Annahme gelangt, daß die Beschwerdeführerinnen eine Äußerung dieses Inhalts kundgegeben hätten.
Wie das Bayerische Oberste Landesgericht in dem ersten Revisionsurteil zu Recht ausgeführt hat, ist die Transparentaufschrift "Strauß deckt Faschisten" verschiedenen Deutungen zugänglich. Sie kann bedeuten, daß der Betroffene sich in der behaupteten Weise verhalte, weil er selber dem Faschismus zuneige. Sie muß aber nicht in diesem Sinn gemeint sein und verstanden werden, sondern kann auch einen anderen Inhalt haben. Will das Strafgericht sich unter mehreren möglichen Deutungen für die zur Bestrafung führende entscheiden, so muß es dafür besondere Gründe angeben, die nicht allein dem Wortlaut entnommen werden können.
Gründe dieser Art können sich auch aus den Umständen ergeben, unter denen die Äußerung gefallen ist. Da Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG jedem ein individuelles Recht verleiht, seine Meinung frei zu äußern, muß es sich dabei aber um Umstände handeln, die demjenigen, der von diesem Recht Gebrauch macht, zurechenbar sind. Daran fehlt es zunächst bei Umständen, die der sich Äußernde gar nicht kennt. Aber auch Umstände, die er kennt, können ihm ohne Verkürzung seiner Meinungsfreiheit nur zugerechnet werden, wenn sie im konkreten Fall erkennbar zum Inhalt seiner Äußerung werden. Frühere eigene Kundgebungen kommen danach nur in Betracht, wenn zu ihnen bei der fraglichen Äußerung ein eindeutiger Bezug hergestellt wird. Äußerungen Dritter kommen nur in Betracht, wenn sie als Teil einer Gesamtaussage gedacht und kenntlich gemacht oder von dem sich Äußernden ersichtlich gestützt werden. Die bloße zeitliche und räumliche Nähe reicht dazu für sich allein ebensowenig aus wie ein organistorischer Zusammenhang zwischen den Trägern verschiedener Äußerungen, weil auch bei organisiertem Zusammenwirken und erst recht bei bloßer Nähe durchaus unterschiedliche oder abgestufte Meinungskundgaben gewollt sein können.
Andernfalls wäre es möglich, daß der Einzelne in der Freiheit seiner Meinungsäußerung aufgrund von Meinungen eingeengt wird, die nicht er, sondern ein Dritter kundgegeben hat, oder die er zwar hegen oder bei früherer Gelegenheit geäußert haben mag, aber im konkreten Fall nicht kundgegeben hat. Auf diese Weise würde nicht nur die Freiheit des Einzelnen über das in Art. 5 Abs. 2 GG zugelassene Maß hinaus eingeschränkt. Vielmehr wäre auch eine Beeinträchtigung des Prozesses der öffentlichen Meinungsbildung zu befürchten, wenn jeder sich öffentlich Äußernde damit rechnen müßte, daß ihm die Äußerungen weiterer anwesender Personen oder die Auffassungen einer Gruppe, der er angehört, angelastet würden.
3. Das Landgericht hat seine Deutung der Äußerung der Beschwerdeführerinnen zum einen darauf gestützt, daß diese dem Anti-Strauß-Komitee angehörten und gemeinsam mit weiteren Mitgliedern dieser Gruppe auftraten, die den Ministerpräsidenten Strauß für den Hauptvertreter der faschistischen Kräfte in der Bundesrepublik hielt. Zum anderen hat das Gericht zur Sinnermittlung des von den Beschwerdeführerinnen gehaltenen Transparents auf den Text eines anderen, in unmittelbarer Nachbarschaft gezeigten Transparents mit einer weitergehenden Äußerung zurückgegriffen und sie so behandelt, als hätten sie eine aus zwei Aufschriften zusammengesetzte Äußerung kundgegeben.
Beide Bezugnahmen sind im vorliegenden Fall mit dem Grundrecht der Meinungsfreiheit unvereinbar. Die Vorschrift des § 185 StGB knüpft die strafrechtliche Sanktion an die Kundgabe der Nichtachtung oder Mißachtung einer Person an. Gefühle der Nichtachtung oder Mißachtung, die jemand zwar hegt, aber nicht äußert, können nicht eine Bestrafung wegen herabsetzen der Äußerungen tragen. Was die Aufschrift des in unmittelbarer Nachbarschaft der Beschwerdeführerinnen gezeigten Transparents angeht, so haben sich die Gerichte mit der Feststellung begnügt, daß die Transparente vom Anti-Strauß-Komitee hergestellt und zur Mitnahme bereitgelegt waren. Sie haben aber keine Feststellungen darüber getroffen, daß sich die Beschwerdeführerinnen auch den Inhalt des Transparents der Mitdemonstrantin P. für die Anwesenden erkennbar zu eigen machen wollten.
4. Da die Verurteilungen bereits aus diesem Grund keinen Bestand haben, können die übrigen Rügen auf sich beruhen.
(gez.) Herzog Henschel Seidl Grimm Söllner Dieterich Kühling Seibert