BVerfGE 88, 103 - Streikeinsatz von Beamten |
Bei einem rechtmäßigen Streik darf die Deutsche Bundespost nicht den Einsatz von Beamten auf bestreikten Arbeitsplätzen anordnen, solange dafür keine gesetzliche Regelung vorhanden ist. |
Beschluß |
des ersten Senats vom 2. März 1993 |
- 1 BvR 1213/85 - |
In dem Verfahren über die Verfassungsbeschwerde der Deutschen Postgewerkschaft, vertreten durch den Hauptvorstand ... - Bevollmächtigte: 1. Rechtsanwälte Reinhard Mendel, Gabriele Voltz und Andreas Braun. Neuer Wall 59, Hamburg 36, 2. Rechtsanwalt Karl Kehrmann, Hans-Böckler-Straße 39, Düsseldorf - gegen das Urteil des Bundesarbeitsgerichts vom 10. September 1985 - 1 AZR 262/84 |
Entscheidungsformel: |
Das Urteil des Bundesarbeitsgerichts vom 10. September 1985 - 1 AZR 262/84 - verletzt die Beschwerdeführerin in ihrem Grundrecht aus Artikel 9 Absatz 3 Satz 1 des Grundgesetzes. Es wird aufgehoben, soweit es die Revision der Beschwerdeführerin hinsichtlich des Hilfsantrags zurückgewiesen hat. Die Sache wird insoweit an das Bundesarbeitsgericht zurückverwiesen. Im übrigen wird die Verfassungsbeschwerde verworfen. |
Die Bundesrepublik Deutschland hat der Beschwerdeführerin die notwendigen Auslagen zu erstatten. |
Gründe |
A. |
Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Frage, ob es der Deutschen Bundespost in einem Arbeitskampf gestattet ist, Beamte zu verpflichten, Arbeiten anstelle von streikenden Arbeitnehmern auszuführen.
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I. |
Die Beschwerdeführerin ist eine Mitgliedsgewerkschaft des Deutschen Gewerkschaftsbundes, bei der sowohl Arbeitnehmer als auch Beamte der Deutschen Bundespost, der Beklagten des Ausgangsverfahrens, organisiert sind. Im November 1980 führte sie einen Arbeitskampf durch, in dessen Verlauf 75 Postämter bestreikt wurden. Am Streik waren rund 25.000 Tarifkräfte beteiligt; es fielen etwa 500.000 Arbeitsstunden aus. Eine von der Beschwerdeführerin vorgeschlagene Notdienstregelung war seitens der Deutschen Bundespost abgelehnt worden.
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Mit Erlaß vom 18. November 1980 ordnete der Bundesminister für das Post- und Fernmeldewesen gegenüber den Oberpostdirektionen "zur Minderung zu erwartender Betriebsstörungen" an, beamtete Kräfte zu Mehrarbeit heranzuziehen. Dazu seien diese bei einer Arbeitsniederlegung des Tarifpersonals verpflichtet. Vorübergehend könnten die Beamten dabei auch mit anderen als den ihnen regelmäßig obliegenden, darunter auch sogenannten unterwertigen, Aufgaben betraut werden. Ein bezirklicher Personalausgleich aus Anlaß der Streikmaßnahmen sei zulässig. Für den Fall der Verweigerung einer entsprechenden dienstlichen Weisung wurden disziplinarrechtliche Maßnahmen angekündigt. Im Durchschnitt waren während des Arbeitskampfes etwa 1.600 Beamte aus anderen Dienststellen des jeweils bestreikten Amtes, 700 Beamte aus anderen Ämtern und 1.000 Beamte von den Oberpostdirektionen auf bestreikten Arbeitsplätzen eingesetzt.
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II. |
Die Beschwerdeführerin hat Klage gegen die Deutsche Bundespost mit dem Ziel erhoben, die Beklagte zur Unterlassung des Einsatzes von Beamten auf Arbeitsplätzen streikender Arbeitnehmer bei künftigen rechtmäßigen Streiks zu verpflichten. Hilfsweise hat sie die Feststellung beantragt, daß ein solcher Einsatz gegen ihr Koalitionsrecht verstoße.
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Das Arbeitsgericht entsprach dem Hauptantrag. Auf die Berufung der Beklagten änderte das Landesarbeitsgericht das erstinstanzliche Urteil und wies die Klage ab. In der Revisionsinstanz stellte die Beschwerdeführerin einen neuen Hilfsantrag auf Unterlassung des Beamteneinsatzes bei Streiks, die die Post selbst für rechtmäßig hält. Ihren in den Vorinstanzen gestellten Feststellungsantrag verfolgte die Beschwerdeführerin nicht weiter.
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Das Bundesarbeitsgericht wies die Revision zurück. Der Hauptantrag sei zu unbestimmt und deshalb unzulässig. Der Hilfsantrag sei zwar zulässig aber nicht begründet. Die Beschwerdeführerin werde durch einen Einsatz von Beamten auf bestreikten Arbeitsplätzen nicht in ihren Rechten aus Art. 9 Abs. 3 GG verletzt.
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Dem Arbeitgeber sei es grundsätzlich erlaubt, die Auswirkungen eines Streiks auf seinen Betrieb zu mindern. Der Erfolg eines Streiks werde durch das Grundgesetz nicht gewährleistet. Der Beamteneinsatz verletze weder das Gebot fairen Verhaltens im Arbeitskampf noch den Paritätsgrundsatz. Er führe auch nicht zur Funktionsunfähigkeit der Tarifautonomie im öffentlichen Dienst. Das Recht zum Streik bleibe unberührt; dieser werde in seiner Effektivität durch den Beamteneinsatz nicht entscheidend geschwächt. Ein Einsatz von Beamten werde durch die Arbeitszeitvorschriften und die Belastbarkeit der Beamten begrenzt. Mehrarbeit müsse ausgeglichen werden; andere Arbeiten und Aufgaben blieben unerledigt. Dies alles verursache Störungen im Betriebsablauf und erzeuge Druck auf den Arbeitgeber, den Arbeitskampf alsbald zu beenden. Durch den Beamteneinsatz erlange die Beklagte auch kein strukturelles Übergewicht gegenüber der Beschwerdeführerin. Der Staat sei seinen Beamten gegenüber zur Fortzahlung der Bezüge verpflichtet, auch wenn er sie wegen eines Arbeitskampfes nicht beschäftigen könne, während der private Arbeitgeber dann von der Lohnzahlungspflicht frei werde. Durch den Einsatz von Beamten könne diese besondere Belastung ausgeglichen werden. Die Pflicht des Staates, sich gegenüber Arbeitskämpfen neutral zu verhalten, werde nicht verletzt, weil die Bundespost, wenn sie Beamte auf bestreikten Arbeitsplätzen einsetze, nicht mit hoheitlicher Gewalt in den Streik eingreife.
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III. |
Mit ihrer Verfassungsbeschwerde rügt die Beschwerdeführerin eine Verletzung ihrer Rechte aus Art. 3 Abs. 1, Art. 9 Abs. 3 und aus Art. 20 Abs. 3 in Verbindung mit Art. 9 Abs. 3 GG sowie - sinngemäß - einen Verstoß gegen den Grundsatz des rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG).
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1. Art. 9 Abs. 3 GG schütze die Tarifautonomie auch im Bereich des öffentlichen Dienstes. Bestimmender Grundsatz der Tarifautonomie sei das freie Spiel der Kräfte zwischen den Tarifvertragsparteien.
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a) Hieraus folge eine Neutralitätspflicht des Staates. Sie bestehe unabhängig davon, ob dieser als Partei am Arbeitskampf beteiligt sei oder nicht. Denn sie diene dem Zweck, die Tarifparteien mit dem anerkannten arbeits- und tarifrechtlichen Instrumentarium durch autonomes Handeln zu einer von beiden Seiten akzeptierten Regelung kommen zu lassen. Dieses Gleichgewicht werde gestört, wenn der Arbeitgeber auf eine ihm nur in seiner Eigenschaft als Staat zustehende Kompetenz zurückgreife.
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b) Die in Art. 9 Abs. 3 GG enthaltene Koalitionsbestandsgarantie schütze die Organisation als solche einschließlich des Mitgliederbestandes. Voraussetzung für das Bestehen einer Arbeitnehmerkoalition sei die Solidarität ihrer Mitglieder. Die Koalition sei deshalb verfassungsrechtlich gegen Maßnahmen geschützt, die die Aufrechterhaltung und Ausübung des Solidaritätsprinzips beeinträchtigten oder gar unmöglich machten. Durch den Beamteneinsatz werde die Solidargemeinschaft der Arbeitnehmer und damit ihre Durchsetzungsfähigkeit geschwächt. Zwischen den Mitgliedern der Beschwerdeführerin entstünden Interessenkonflikte; hierdurch werde die Durchsetzung der tariflichen Ziele erschwert. Die Möglichkeit des Streikeinsatzes beeinträchtige Beamte, die sich mit Angestellten und Arbeitern in einer Einheitsgewerkschaft organisieren wollten, in ihrer individuellen Koalitionsbetätigung. Das wirke sich auch auf die Beschwerdeführerin nachteilig aus.
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c) Die Parität der Tarifvertragsparteien sei Bestandteil des Arbeitskampfrechts und werde durch Art. 9 Abs. 3 GG geschützt. Das Prinzip der Kampfparität enthalte zunächst die normative Gleichstellung der Koalitionen, die Rechtsgleichheit. Ferner folge daraus die Gleichwertigkeit der Kampfmittel sowie ein materielles Gleichgewicht der Tarifvertragsparteien. Das funktionale Gleichgewicht der Tarifvertragsparteien sei nur gewahrt, solange Kampfmittel eingesetzt würden, die der Tarifautonomie entsprängen. Hierzu gehöre der Beamteneinsatz nicht. Dieser sei als hoheitliche Maßnahme im staatsfreien Raum der Arbeitskampfordnung unzulässig. Wenn der Staat nicht nur als gleichberechtigte Tarifvertragspartei, sondern auch als Dienstherr mit hoheitlichen Befugnissen auftrete, ergebe sich ein Machtungleichgewicht, das einem ausgewogenen Verhandlungsergebnis abträglich sei. Beschäftige der Staat Arbeitnehmer, müsse er auch die sich hieraus ergebenden tarif- und arbeitskampfrechtlichen Folgen akzeptieren.
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Durch einen Einsatz von Beamten auf bestreikten Arbeitsplätzen werde der öffentliche Arbeitgeber im Streikfall in die Lage versetzt, die nach außen auftretenden Kampffolgen durch hoheitliche Anordnung zu minimieren und praktisch auszuschalten. Als einziger Nachteil verbleibe die Nichterledigung der nach innen gerichteten und jederzeit aufschiebbaren Tätigkeiten. Angesichts der Vielzahl der Beamten, die im Bereich der Deutschen Bundespost tätig seien, könnten durch ihren Einsatz die Wirkungen eines Streiks weitgehend aufgefangen werden. Somit bestehe von vornherein ein erhebliches Übergewicht für den Arbeitgeber.
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d) Bei der Konkretisierung des vom Verfassungsgeber nicht näher umrissenen Schutzbereichs von Art. 9 Abs. 3 GG seien auch die in nationales Recht transformierten Regelungen des EWG-Vertrages zu berücksichtigen. In den anderen Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft bestehe kein Berufsbeamtentum in der Form, wie es sich in der Bundesrepublik Deutschland finde. Ferner sei kein Fall aus anderen Mitgliedstaaten bekannt, in dem Berufsbeamte ohne Weigerungsmöglichkeit auf bestreikten Arbeitsplätzen eingesetzt worden seien. Mithin hätte das Bundesarbeitsgericht ein Urteil fällen müssen, durch das die Situation in der Bundesrepublik Deutschland derjenigen in den übrigen Ländern der Europäischen Gemeinschaft angeglichen werde. Durch den Beamteneinsatz verschaffe sich die Bundespost einen Wettbewerbsvorteil im Sinne von Art. 92 EWG-Vertrag; dieser Wettbewerbsvorteil stärke die wirtschaftliche Macht der Bundespost und störe daher die geschützte Parität.
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2. Die Beschwerdeführerin werde in ihren Rechten aus Art. 3 Abs. 1 GG verletzt, weil sie ohne sachlichen Grund gegenüber den außerhalb des öffentlichen Dienstes tätigen Gewerkschaften benachteiligt werde. Die Besonderheiten des öffentlichen Dienstes rechtfertigten diesen Unterschied nicht. Auch hier gelte die Tarifautonomie uneingeschränkt.
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Die angegriffene Entscheidung beruhe ferner auf einem ohne Beweisaufnahme festgestellten streitigen Sachverhalt. Außerdem bestimme das Bundesarbeitsgericht den Inhalt der Koalitionsfreiheit ohne Beachtung der Vorschriften der Europäischen Sozialcharta. Darin liege eine Verletzung des Rechtsstaatsgebots.
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3. Mit einem nachgereichten Schriftsatz hat die Beschwerdeführerin erklärt, daß die Verfassungsbeschwerde sich auch gegen die Verwerfung des Hauptantrages richte. Auch hierdurch werde Art. 9 Abs. 3 GG verletzt.
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IV. |
1. Die Bundesregierung hält die Verfassungsbeschwerde für unbegründet. Die Neutralitätspflicht sei nicht verletzt. Werde der Staat selbst in einen Arbeitskampf verwickelt, so sei zweifelhaft, ob überhaupt eine Neutralitätspflicht bestehe. Jedenfalls sei der Staat nicht gehindert, bei der Erfüllung öffentlicher Aufgaben Beamte einzusetzen. Er müsse dabei die Parität der Tarifvertragsparteien mit dem Interesse an einer Erfüllung der Aufgaben abwägen, deren Erledigung durch den Arbeitskampf beeinträchtigt werde. Zur Minderung der Streikauswirkungen dürfe der Staat hoheitlich eingreifen. Unzulässig würden hoheitliche Mittel erst, wenn sie zur Gewinnung eines Übergewichts im Arbeitskampf eingesetzt würden. Aufgrund der besonderen Verhältnisse im öffentlichen Dienst könne die Kampfparität ohne Einsatz hoheitlicher Mittel nicht herbeigeführt werden.
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Von einer Beeinträchtigung des Bestands- und Betätigungsschutzes könne keine Rede sein. Konsequenzen aus ihrer Mitgliederstruktur müsse die Koalition selbst tragen. Art. 9 Abs. 3 GG schütze nur gegen Maßnahmen, durch die der Staat gezielt auf Bestand und Betätigung der Koalition einwirke. Die Behauptung innerer Interessenkonflikte zwischen Beamten und Arbeitnehmern sei im übrigen unzutreffend, weil die Beamten aufgrund hoheitlicher Anordnung tätig würden.
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Der Beamteneinsatz führe zu keiner Verletzung des Paritätsgrundsatzes. Art. 9 Abs. 3 GG vertraue auf die Herstellung materieller Parität durch formelle Rechts- und Waffengleichheit. Fehlten diese Voraussetzungen, sei der neutrale Staat zur Herstellung materieller Parität aufgerufen.
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Zur Ergänzung ihres Vorbringens hat die Bundesregierung ein Rechtsgutachten vorgelegt.
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2. Für die Landesregierung von Nordrhein-Westfalen hat der Ministerpräsident - ebenfalls unter Vorlage eines Gutachtens - den Standpunkt der Beschwerdeführerin unterstützt. Die Koalitionsfreiheit gelte auch für Beamte. Erforderlich sei eine Abwägung zwischen dem Interesse an der öffentlichen Aufgabenerfüllung und einer effektiven Wahrnehmung der Rechte aus Art. 9 Abs. 3 GG. Zur Sicherung eines Mindestmaßes an Funktionsfähigkeit des Staates - aber auch nur dann - komme ein Einsatz von Beamten auf bestreikten Arbeitsplätzen in Betracht.
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Die Anordnung von Streikarbeit verletze die kollektive Koalitionsfreiheit der Gewerkschaft, da diese auf die Förderung durch ihre Mitglieder angewiesen sei. Der Beamteneinsatz beeinträchtige die Koalition bei der Führung eines rechtmäßigen Arbeitskampfes. Hiergegen stehe der Koalition ein verfassungsrechtlicher Abwehranspruch zu. Auch liege ein Verstoß gegen den Grundsatz der fairen Kampfführung vor. Der Dienstherr zwinge gewerkschaftlich organisierte Beamte, gegen ihre Loyalitätspflicht gegenüber der Gewerkschaft zu verstoßen.
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Die Senate der Freien und Hansestadt Hamburg sowie der Freien Hansestadt Bremen haben sich dieser Stellungnahme angeschlossen.
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3. Die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände, der Bundesverband der Deutschen Industrie und mit Einschränkungen auch die Tarifgemeinschaft deutscher Länder treten der Verfassungsbeschwerde entgegen.
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Die verfassungsrechtliche Gewährleistung des Arbeitskampfes garantiere nicht die Wirksamkeit des Streiks. Als Arbeitgeber sei der Staat befugt, die Folgen eines Streiks zu mindern. Daraus folge das Recht, auf bestreikten Arbeitsplätzen Beamte einzusetzen. Der Beamteneinsatz verletze nicht die Kampfparität, sondern entspreche dem in Art. 87 Satz 1 GG zum Ausdruck kommenden Verfassungsgebot, die Aufgaben der Bundespost wahrzunehmen. Art. 33 Abs. 4 GG wolle die Funktionsfähigkeit der öffentlichen Verwaltung garantieren. Könnten Beamte im Streikfall nicht eingesetzt werden, wäre die Erfüllung dieser öffentlichen Aufgaben gefährdet.
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Die Tarifgemeinschaft deutscher Länder bezweifelt die Rechtmäßigkeit eines Streiks im öffentlichen Dienst, wenn Gefahr für Leib und Leben bestehe oder große Vermögensschäden drohten; jedenfalls sei dann aber ein Beamteneinsatz zulässig. Als Arbeitskampfpartei unterliege der Staat keiner Neutralitätspflicht. Loyalitätskonflikte bei der Beschwerdeführerin entstünden allein durch deren Organisationsstruktur. Das Paritätsgebot werde nicht verletzt, da der Post das Mittel der Aussperrung nicht zur Verfügung stehe. Im übrigen könnten streikende Arbeitnehmer auch nicht gänzlich durch Beamte ersetzt werden.
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Der Christliche Gewerkschaftsbund Deutschlands gibt zu bedenken, daß bei Arbeitskämpfen im öffentlichen Dienst der Anspruch des Bürgers auf Aufrechterhaltung der öffentlichen Dienstleistungen zu berücksichtigen sei. Die Koalitionsfreiheit werde durch den Schutz dieser anderen Rechtsgüter begrenzt. Der Bürger habe einen Anspruch auf unbeeinträchtigte Bereithaltung der öffentlichen Dienstleistungen im Arbeitskampf, soweit er auf sie existentiell angewiesen sei. Nur in diesem Umfang sei ein Beamteneinsatz erlaubt.
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5. Der Deutsche Beamtenbund, der Deutsche Postverband und die Gemeinschaft von Gewerkschaften und Verbänden des öffentlichen Dienstes halten - mit zum Teil unterschiedlicher Begründung - den Beamteneinsatz für zulässig.
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6. Der Verband der Postbenutzer weist auf die Bedeutung eines ungestörten Postbetriebs hin. Der Beamteneinsatz beim Streik sei unabdingbar, um die lebensnotwendigen Dienstleistungen aufrechtzuerhalten. Im Streikfalle würde nicht der Arbeitgeber, sondern der unbeteiligte Bürger betroffen, der den Streikfolgen nicht ausweichen könne.
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B. |
Die Verfassungsbeschwerde ist nicht in vollem Umfang zulässig.
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I. |
Die Verfassungsbeschwerde ist dahin auszulegen, daß sie sich nur gegen das Urteil des Bundesarbeitsgerichts richtet. Zwar wird im einleitenden Satz der Beschwerdeschrift das Urteil des Landesarbeitsgerichts ebenfalls erwähnt. Beantragt wird aber nur die Aufhebung des Urteils des Bundesarbeitsgerichts und die Zurückverweisung der Sache an dieses Gericht. Auf das Urteil des Landesarbeitsgerichts geht die Beschwerdeführerin sachlich nicht ein. Auch die Anordnung des Bundesministers für das Post- und Fernmeldewesen ist nicht Angriffsziel der Verfassungsbeschwerde.
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II. |
1. Die Verfassungsbeschwerde ist unzulässig, soweit die Beschwerdeführerin die Zurückweisung ihres Hauptantrages durch das Bundesarbeitsgericht beanstandet. Hierzu läßt die Beschwerdeschrift die Möglichkeit einer Verfassungsverletzung nicht erkennen (§ 23 Abs. 1, § 92 BVerfGG). Die Ausführungen in dem nachgereichten Schriftsatz können nicht mehr berücksichtigt werden, weil dieser nicht innerhalb der Beschwerdefrist beim Bundesverfassungsgericht eingegangen ist (§ 93 Abs. 1 BVerfGG).
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2. Ferner sind einzelne Rügen unzulässig.
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a) Die Möglichkeit einer Verletzung ihres Anspruchs auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG) läßt das Vorbringen der Beschwerdeführerin nicht erkennen. Welche Tatsachenbehauptungen sie zur Einschränkung der Wirksamkeit von Streiks bei einem Einsatz von Beamten auf bestreikten Arbeitsplätzen aufgestellt und welche Beweise sie dazu angeboten haben will, trägt sie nicht vor.
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b) Auch die Möglichkeit einer Verletzung von Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip läßt sich der Beschwerdeschrift nicht entnehmen. Das Bundesverfassungsgericht kann im Verfassungsbeschwerdeverfahren nicht prüfen, ob das Urteil eines Fachgerichts mit den Normen der Europäischen Sozialcharta, die keinen Verfassungsrang hat, vereinbar ist. Auf die Frage, ob dieses Abkommen für die Auslegung des Art. 9 Abs. 3 GG heranzuziehen ist (vgl. BVerfGE 74, 358 [370] zur Heranziehung der Europäischen Menschenrechtskonvention), käme es nur an, wenn die Gewährleistungen der Europäischen Sozialcharta über die des Art. 9 Abs. 3 GG hinausgehen könnten (vgl. BVerfGE 58, 233 [253]). Hierfür ist jedoch nichts dargetan (verneinend zu Art. 5 der Europäischen Sozialcharta: BVerfGE 58, 233 [254]).
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c) Ebensowenig legt die Beschwerdeführerin die Möglichkeit eines Verfassungsverstoßes dar, soweit sie eine Verletzung von Art. 117 und 92 EWG-Vertrag rügt. Im Verfassungsbeschwerdeverfahren können Gerichtsentscheidungen nicht auf ihre Vereinbarkeit mit Regelungen des Gemeinschaftsrechts überprüft werden (vgl. BVerfGE 37, 271 [283 ff.]). Damit ist der Antrag, gegebenenfalls gemäß Art. 177 Abs. 3 EWG-Vertrag den Europäischen Gerichtshof anzurufen, gegenstandslos.
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C. |
Im Rahmen ihrer Zulässigkeit ist die Verfassungsbeschwerde begründet. Das Urteil des Bundesarbeitsgerichts verletzt die Beschwerdeführerin in ihrer Koalitionsfreiheit aus Art. 9 Abs. 3 Satz 1 GG.
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I. |
Mit ihrem Hilfsantrag, dessen Bescheidung durch das Bundesarbeitsgericht allein Gegenstand der verfassungsrechtlichen Prüfung ist, erstrebte die Beschwerdeführerin eine Unterlassung von Beamteneinsätzen bei einem Streik nur insoweit, als die Deutsche Bundespost diesen selbst als rechtmäßig ansieht. Streitgegenstand des Ausgangsverfahrens war danach nicht, welche Maßnahmen die Bundespost treffen darf, wenn sie den Streik als rechtswidrig ansieht; die Parteien gingen allerdings erkennbar davon aus, daß die Bundespost ihre Einschätzung auf der Grundlage der für den Arbeitskampf allgemein anerkannten Rechtsgrundsätze trifft.
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Der Gegenstand des Ausgangsverfahrens begrenzt zugleich den Prüfungsgegenstand des Verfassungsbeschwerdeverfahrens. Das Bundesverfassungsgericht hat deshalb nicht zu prüfen, inwieweit der grundrechtliche Schutz des Streikrechts durch die Rechtsgrundsätze eingeschränkt wird, die für die Rechtmäßigkeit von Streiks gelten. Das gilt insbesondere auch für die Frage, inwieweit und in welchem Verfahren bei Arbeitskämpfen sicherzustellen ist, daß Notdienst- und Erhaltungsarbeiten ungestört durchgeführt werden, und ob die Bundespost einseitig solche Maßnahmen treffen kann.
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II. |
Das Bundesarbeitsgericht verletzt das Grundrecht der Koalitionsfreiheit, indem es den Beamteneinsatz als eine Arbeitskampfmaßnahme betrachtet, die nur am Paritätsgebot zu messen sei. Diese Betrachtung wird dem besonderen Charakter des Einsatzes hoheitlicher Mittel durch die Bundespost nicht gerecht. Die Zulässigkeit eines solchen Einsatzes setzt eine gesetzliche Regelung voraus. Daran fehlt es.
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1. Art. 9 Abs. 3 GG gewährleistet das Recht, zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen Vereinigungen zu bilden. Er schützt auch die Koalitionen selbst in ihrem Bestand, ihrer Organisation und ihrer Tätigkeit, soweit diese gerade in der Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen besteht. Hierzu gehört insbesondere der Abschluß von Tarifverträgen. Die Koalitionen sollen beim Abschluß von Tarifverträgen frei sein und die Mittel, die sie zur Erreichung dieses Zwecks für geeignet halten, selbst wählen können. Zu den geschützten Mitteln zählen jedenfalls die Arbeitskampfmaßnahmen, die erforderlich sind, um eine funktionierende Tarifautonomie sicherzustellen (BVerfGE 84, 212 [225]). Ein solches Mittel ist auch der Streik.
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Die Koalitionsfreiheit ist auch den Arbeitnehmern im öffentlichen Dienst gewährleistet, und zwar unabhängig davon, ob sie hoheitliche oder andere Aufgaben erfüllen. Art. 33 Abs. 4 GG steht dem nicht entgegen. Er sichert die Kontinuität hoheitlicher Funktionen des Staates, indem er als Regel vorsieht, daß ihre Ausübung Beamten übertragen wird, verbietet jedoch nicht generell, dafür auch Arbeitnehmer einzusetzen. Da diesen die besonderen Rechte der Beamten nicht zustehen, bleiben sie darauf angewiesen, ihre Arbeitsbedingungen auf der Ebene von Tarifverträgen auszuhandeln. Wegen ihrer Unterlegenheit sind sie dabei auch auf das Druckmittel des Arbeitskampfes angewiesen. Soweit der Staat von der Möglichkeit Gebrauch macht, Arbeitskräfte auf privatrechtlicher Basis als Arbeitnehmer zu beschäftigen, unterliegt er dem Arbeitsrecht, dessen notwendiger Bestandteil eine kollektive Interessenwahrnehmung ist.
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Mit der grundrechtlichen Garantie der Tarifautonomie wird ein Freiraum gewährleistet, in dem Arbeitnehmer und Arbeitgeber ihre Interessengegensätze in eigener Verantwortung austragen können. Diese Freiheit findet ihren Grund in der historischen Erfahrung, daß auf diese Weise eher Ergebnisse erzielt werden, die den Interessen der widerstreitenden Gruppen und dem Gemeinwohl gerecht werden, als bei einer staatlichen Schlichtung.
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Das Grundrecht der Koalitionsfreiheit kann sich unter diesen Umständen aber nicht darauf beschränken, den einzelnen Grundrechtsträger vor staatlichen Eingriffen in individuelle Handlungsmöglichkeiten zu schützen; es hat vielmehr darüber hinaus die Beziehung zwischen Trägern widerstreitender Interessen zum Gegenstand und schützt diese auch insoweit vor staatlicher Einflußnahme, als sie zum Austrag ihrer Interessengegensätze Kampfmittel mit beträchtlichen Auswirkungen auf den Gegner und die Allgemeinheit verwenden.
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2. Gerade wegen dieser Eigenart bedarf das Grundrecht der Koalitionsfreiheit der Ausgestaltung durch die Rechtsordnung (vgl. BVerfGE 84, 212 [228]). Zum einen erfordert der Umstand, daß beide Tarifvertragsparteien den Schutz von Art. 9 Abs. 3 GG prinzipiell gleichermaßen genießen, bei seiner Ausübung aber in scharfem Gegensatz zueinander stehen, koordinierende Regelungen, die gewährleisten, daß die aufeinander bezogenen Grundrechtspositionen trotz ihres Gegensatzes nebeneinander bestehen können. Zum anderen macht die Möglichkeit des Einsatzes von Kampfmitteln rechtliche Rahmenbedingungen erforderlich, die sichern, daß Sinn und Zweck dieses Freiheitsrechts sowie seine Einbettung in die verfassungsrechtliche Ordnung gewahrt bleiben.
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a) Soweit es um das Verhältnis der Kampfparteien als gleichgeordneter Grundrechtsträger geht, muß diese Ausformung nicht zwingend durch gesetzliche Regelungen erfolgen. So ist das Arbeitskampfrecht gesetzlich weitgehend ungeregelt geblieben. Insoweit sind die Arbeitsgerichte berufen, Streitigkeiten zwischen den Tarifvertragsparteien über die Rechtmäßigkeit von Arbeitskampfmaßnahmen zu entscheiden. Sie müssen bei unzureichenden gesetzlichen Vorgaben das materielle Recht mit den anerkannten Methoden der Rechtsfindung aus den allgemeinen, zwischen Bürgern oder auch zwischen privaten Verbänden geltenden Rechtsgrundlagen ableiten, die für das betreffende Rechtsverhältnis maßgeblich sind. Das gilt auch dort, wo eine gesetzliche Regelung, etwa wegen einer verfassungsrechtlichen Schutzpflicht, notwendig wäre (BVerfGE 84, 212 [226 f.]).
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b) Für die Zulässigkeit des Einsatzes von Beamten auf bestreikten Arbeitsplätzen ist eine gesetzliche Regelung hingegen zwingend erforderlich.
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Der Gesetzgeber ist verpflichtet, in grundlegenden normativen Bereichen, zumal im Bereich der Grundrechtsausübung, alle wesentlichen Entscheidungen selbst zu treffen (vgl. BVerfGE 49, 89 [126 f.]; 53, 30 [56]). Fehlen gesetzliche Regelungen, muß die Rechtsprechung sachgerechte Lösungen entwickeln, soweit es um das Verhältnis gleichgeordneter Grundrechtsträger geht (BVerfGE 84, 212 [226 f.]). Beim Beamteneinsatz auf bestreikten Arbeitsplätzen, bei dem es - zumindest auch - um das Verhältnis von Staat und Privatrechtssubjekten geht, ist jedoch eine gesetzliche Regelung unentbehrlich.
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Der Staat befindet sich bei der Reaktion auf Streikmaßnahmen in einer Doppelrolle. So ist die Bundespost einerseits Trägerin öffentlicher Verwaltung und nimmt als solche hoheitliche Aufgaben wahr. Andererseits ist sie aber auch tariffähige Arbeitgeberin. Soweit sie Arbeitnehmer auf arbeitsrechtlicher Grundlage beschäftigt, betätigt sie sich als Privatrechtssubjekt. Hingegen bedient sie sich mit einem zwangsweise angeordneten Einsatz von Beamten auf bestreikten Arbeitsplätzen eines Mittels, das ihr nur als Hoheitsträgerin zu Gebote steht und über das der Staat durch sein Beamtenrecht verfügt. Soll mit Hilfe des Beamtenrechts auch der Staat in seiner Eigenschaft als Arbeitgeber mit besonderen Kampfmitteln gegenüber den Gewerkschaften ausgestattet werden, so muß dies in einem offenen, durch entsprechende Verfahrensgarantien flankierten Gesetzgebungsverfahren ausdrücklich geregelt werden. Welche Regelungen Art. 9 Abs. 3 GG im einzelnen zuläßt, bedarf hier keiner Entscheidung.
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3. Die allgemeinen Rechtsgrundlagen des Arbeitskampfrechts stellen keine gesetzliche Regelung in diesem Sinne dar. Die vom Bundesarbeitsgericht aus dem Verhältnismäßigkeitsprinzip entwickelten Grundsätze zur Parität der Tarifvertragsparteien führen zu einer inhaltlichen Beurteilung der eingesetzten Kampfmittel unter dem Gesichtspunkt der Parität und dem Kriterium einer Beschränkung übermäßigen Kampfmitteleinsatzes (vgl. BVerfGE 84, 212). Hier geht es jedoch zunächst um die Frage, ob und inwieweit der Staat sich überhaupt eines besonderen Mittels bedienen darf, das ihm allein wegen seiner hoheitlichen Befugnisse zu Gebote steht; denn der private Arbeitgeber kann seine Arbeitnehmer nicht anweisen, auf bestreikten Arbeitsplätzen zu arbeiten (BAG, AP Nr. 3 zu § 615 BGB Betriebsrisiko).
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Auch das geltende Beamtenrecht beantwortet die Frage nach der Zulässigkeit eines Beamteneinsatzes bei Arbeitskämpfen nicht. Es enthält keine Anhaltspunkte für die rechtliche Beurteilung der Folgewirkungen beamtenrechtlicher Weisungen in anderen Rechtsbereichen.
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4. Da die erforderliche gesetzliche Regelung bisher fehlt, ist der Beamteneinsatz auf bestreikten Arbeitsplätzen rechtswidrig. Daß dadurch ein noch verfassungsfernerer Zustand einträte (vgl. BVerfGE 33, 1 [12]; 41, 251 [267]; 83, 130 [154]), ist nicht ersichtlich. Die in diesem Zusammenhang allenfalls bedenkenswerte Frage nach einer Gewährleistung der Notdienst- und Erhaltungsarbeiten ist nicht Entscheidungsgegenstand (siehe oben I).
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