BVerfGE 19, 303 - Dortmunder Hauptbahnhof


BVerfGE 19, 303 (303):

1. Art. 9 Abs. 3 GG sichert den Mitgliedern einer Koalition das Recht, an der verfassungsrechtlich geschützten Tätigkeit ihrer Koalition teilzunehmen.
2. Art. 9 Abs. 3 GG schützt einen Kernbereich der Koalitionsbetätigung im Personalvertretungswesen.


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3. Gewerkschaftliche Werbung vor Personalratswahlen ist in Grenzen auch in der Dienststelle und während der Dienstzeit verfassungsrechtlich geschützt.
 
Beschluß
des Zweiten Senats vom 30. November 1965
- 2 BvR 54/62 -
in dem Verfahren über die Verfassungsbeschwerde des Betriebsaufsehers ... - Bevollmächtigte Rechtsanwälte ... - gegen den Beschluß der Bundesdisziplinarkammer in Dortmund v. 17. Mai 1961 - XI BK 4/61 -
Entscheidungsformel:
Die gegen den Beschwerdeführer gerichtete Disziplinarverfügung des Dienststellenleiters des Bahnhofs Dortmund - Hauptbahnhof vom 25. April 1960 und der Beschluß der Bundesdisziplinarkammer XI - Dortmund - vom 17. Mai 1961 verletzen das Grundrecht des Beschwerdeführers aus Artikel 9 Absatz 3 des Grundgesetzes. Sie werden aufgehoben. Die Sache wird an die Bundesdisziplinarkammer XI - Dortmund - zurückverwiesen.
 
Gründe:
 
A. - I.
1. Der Beschwerdeführer ist Beamter, und zwar Betriebsaufseher bei der Deutschen Bundesbahn, Hauptbahnhof Dortmund. Er ist Mitglied der Gewerkschaft der Eisenbahner Deutschlands. Im Wahlkampf für die Wahlen zur Personalvertretung am 15./16. Februar 1960 verteilte er während seiner dienstfreien Zeit auf dem Gelände des Hauptbahnhofs Dortmund Flugblätter dieser Gewerkschaft, in denen die Beamtenbesoldungspolitik des Deutschen Beamtenbundes kritisiert wurde. Dieser habe inmitten der harten Bemühungen um die Beamtenbesoldung leichtfertig einen Verzicht ausgesprochen. Die Bundesbahnbeamten sollten deshalb die Kandidaten der Gewerkschaft der Eisenbahner Deutschlands wählen und den Kandidaten der Gewerkschaft deutscher Bundesbahnbeamten und -anwärter im Deutschen Beamtenbund (künftig: Gewerkschaft deutscher Bundesbahnbeamten) das Vertrauen versagen. Eines der Flugblätter gab der Beschwerdeführer mit

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der Bemerkung "Sieh dir an, wie euer Verein arbeitet" dem an der Hauptsperre beschäftigten Betriebsaufseher E ..., der der Gewerkschaft deutscher Bundesbahnbeamten angehört. E ... reichte das Flugblatt weiter an den Bundesbahninspektor W ..., den Ortsvorsitzenden seiner Gewerkschaft. W ... befand sich auf einem Kontrollgang; er stellte den Beschwerdeführer zur Rede und rügte, die Flugblattverteilung sei dienstrechtlich unzulässig.
Der Beschwerdeführer wurde durch Disziplinarverfügung des Dienststellenleiters des Hauptbahnhofs Dortmund vom 25. April 1960 mit einer Geldbuße von 5 DM bestraft, weil er gegen § 7 Abs. 2 Satz 1 der durch Verfügung der Hauptverwaltung der Deutschen Bundesbahn vom 11. November 1954 erlassenen "Allgemeinen Dienstanweisung für die Bundesbahnbeamten", Ausgabe 1958, - ADAB - verstoßen habe. Diese Bestimmung lautet:
    "Die Dienstausübung darf nicht durch persönliche Gegensätze, insbesondere nicht durch solche politischer, religiöser oder gewerkschaftlicher Art, beeinträchtigt werden."
2. Seine Beschwerde blieb ohne Erfolg, ebenso seine weitere Beschwerde an den Präsidenten der Bundesbahndirektion Essen. Gegen dessen Beschwerdeentscheidung vom 14. Januar 1961 hat der Beschwerdeführer gemäß § 26 Abs. 4 Satz 1 der Bundesdisziplinarordnung (BDO) die Bundesdisziplinarkammer XI - Dortmund - angerufen und im Verfahren vor dieser Kammer die Aufhebung der Disziplinarverfügung vom 25. April 1960 beantragt. Die Kammer hat durch Beschluß vom 17. Mai 1961 die Disziplinarverfügung aufrechterhalten und die Kosten des Verfahrens dem Beschwerdeführer auferlegt. In den Gründen des Beschlusses wird ausgeführt:
Der Beschwerdeführer habe ein Flugblatt verteilt, in dem gewerkschaftliche Gegensätze ausgetragen worden seien. Dieses Flugblatt habe er auch an Bedienstete weitergegeben, die sich im Dienst befanden, so an den Betriebsaufseher E ...; W ... habe das Flugblatt während eines Kontrollgangs erhalten. Selbst wenn W ... in seiner Eigenschaft als örtlicher Vorsitzender der Gewerkschaft deutscher Bundesbahnbeamten den Beschwerdeführer zur

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Rede gestellt haben sollte, so hindere das nicht, daß die dienstliche Tätigkeit des W ... durch das Flugblatt beeinträchtigt worden sei. Das Verhalten von E ... und W ... lasse deutlich erkennen, daß sie das Flugblatt und dessen Inhalt nicht unbeachtet hingenommen hätten. E ...habe sich vielmehr veranlaßt gesehen, W ... von dem Flugblatt zu unterrichten, und W ... habe den Beschwerdeführer wegen der Verteilung des Flugblattes zur Rechenschaft gezogen. Nach alledem stehe fest, daß sich E ... und W ... als Angehörige der Gewerkschaft deutscher Bundesbahnbeamten durch den Inhalt des Flugblattes betroffen und angegriffen gefühlt hätten. Es sei infolgedessen zu einer unerwünschten Austragung der Gegensätze gekommen, die zwischen den beiden Gewerkschaften bestünden. Das sei während des Dienstes von E ... und W ... geschehen, "womit feststeht, daß die Dienstausübung dieser beiden Zeugen beeinträchtigt wurde". § 7 Abs. 2 ADAB ziele darauf ab, alles vom Dienst fernzuhalten, was den Dienstablauf stören und den Betriebsfrieden beeinträchtigen könnte. Die Bestimmung werde durch eine Vereinbarung der Deutschen Bundesbahn mit den drei Eisenbahnergewerkschaften vom 16. Dezember 1954 ergänzt, nach der zur Wahrung des Betriebsfriedens gewerkschaftliche Mitteilungen nur durch Aushang am schwarzen Brett oder im Aushangkasten bekanntgemacht werden dürften und Aushänge, die Kritik an anderen Gewerkschaften übten, nicht zugelassen seien. Damit sei zugleich die Grenze für die Art und Weise jeder gewerkschaftlichen Betätigung sowohl im Wahlkampf als auch außerhalb desselben gezogen. Es komme nicht darauf an, ob der Beschwerdeführer zu der Zeit, als er die Flugblätter verteilte, selbst im Dienst gewesen sei. Für die Feststellung eines Verstoßes gegen § 7 Abs. 2 ADAB genüge es vielmehr, daß die gewerkschaftlich anders eingestellten Bediensteten, gegen die das Flugblatt gerichtet gewesen sei, sich im Dienst befunden hätten. Der Hinweis des Beschwerdeführers auf § 91 Abs. 2 des Bundesbeamtengesetzes von 1953 (BBG) und Art. 9 GG, wonach ein Beamter wegen Betätigung für seine Gewerkschaft nicht dienstlich gemaßregelt werden dürfe, gehe fehl, "weil

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hierunter nur die außerdienstliche Tätigkeit für eine Gewerkschaft zu verstehen ist". Aus der eigenen Einlassung des Beschwerdeführers folge, daß er sich im vorliegenden Fall zur Ausübung seiner gewerkschaftlichen Tätigkeit gerade auf dienstliches Gebiet begeben habe. Er habe seine Dienstpflichten verletzt und sei deshalb zu Recht bestraft worden.
II.
Der Beschwerdeführer wendet sich mit seiner Verfassungsbeschwerde gegen den Beschluß der Bundesdisziplinarkammer XI vom 17. Mai 1961. Dieser Beschluß verletze ihn in seinem Grundrecht aus Art. 9 Abs. 3 GG. Die Verfassungsbeschwerde ist durch ein Gutachten von Professor R. begründet worden, in dem dargelegt wird:
Es sei anerkannt, daß Art. 9 Abs. 3 GG nicht nur das Koalitionsrecht des Einzelnen, sondern auch die Koalition als solche schütze. Schwieriger als der Kreis der Grundrechtsträger sei zu bestimmen, welche Betätigungsarten und -formen im einzelnen inhaltlich zum "Betätigungsrecht" der Koalitionen und ihrer Mitglieder gehörten. Wenn man über eine reine Wortinterpretation hinausgehe und die soziale und politische Funktion des Grundrechts in seiner geschichtlichen Entfaltung erfassen wolle, müsse man von dem inhaltlichen Bestand ausgehen, der der Koalitionsfreiheit zu Beginn der Weimarer Verfassungsepoche eigen gewesen sei. Wegen des Sozialstaatsprinzips des Grundgesetzes werde nur noch zu erwägen sein, in welchem Umfang sich dieser Bestand erweitert, nicht aber, ob er sich verringert haben könnte.
Der durch Art. 9 Abs. 3 GG verfassungsrechtlich geschützte Bestand an Betätigungsarten und -formen bestimme sich nach den Zielen, zu deren Verwirklichung der Zusammenschluß zur Koalition legitimerweise erfolgt sei. Neben dem Tarifrecht stehe im Zentrum der die Gewährung des Grundrechts motivierenden Zielsetzungen ein "prinzipielles kollektives Mitwirken der abhängigen Arbeitnehmer innerhalb der Betriebsverfassung". Dieses Mitwirkungsrecht sei bereits durch das Betriebsrätegesetz von

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1920 für die inneren Betriebsangelegenheiten verwirklicht worden. Hieran habe das Betriebsverfassungsgesetz des Bundes von 1952 (BetrVG) ohne Zweifel angeknüpft.
Schon Art. 130 Abs. 3 der Weimarer Reichsverfassung habe die Forderung aufgestellt, daß die Beamten besondere Beamtenvertretungen erhalten. Das Personalvertretungsgesetz des Bundes von 1955 (PersVG) habe den Bundesbeamten die Möglichkeit einer gewissen "innerdienstlichen Mitbestimmung" verschafft und die Ausübung der Personalratsaufgaben zur dienstlichen Tätigkeit gemacht. Auch die Beamtenorganisationen und ihre Mitglieder seien in den grundrechtlichen Schutzbereich einbezogen. Bei ihnen lägen ebenso wie bei den Koalitionen der Arbeitsordnung mindestens alle diejenigen Organisationsbetätigungen im verfassungsrechtlich geschützten Bereich, die im Hinblick auf die Zielsetzung - die Verwirklichung der gesetzlich umschriebenen Mitbestimmung - unentbehrlich seien. Unentbehrlich sei die Agitation gewerkschaftlicher Zusammenschlüsse im Zusammenhang mit Personal- und Betriebsratswahlen; sie sei ebenso unentbehrlich wie die Agitation der politischen Parteien vor Parlamentswahlen. Unter den Verhältnissen der Gegenwart sei die Agitation dieser über einen entsprechenden Apparat verfügenden Zusammenschlüsse wesentliche Voraussetzung für die Artikulation von Wahlprogrammen und für die übersichtliche Darstellung der maßgeblichen, durch die Wahl zu entscheidenden oder vorzuentscheidenden Sach- und Personalfragen. Erst diese Agitation gebe den Wählern die Orientierung, die allein den Wahlakt zu einer sinnvollen Handlung machen könne.
Der Grundrechtsschutz des Art. 9 Abs. 3 GG entfalle auch nicht deshalb, weil der Beschwerdeführer als Beamter in einem "besonderen Gewaltverhältnis" stehe. Schon unter der Weimarer Reichsverfassung sei die Koalitionsfreiheit unbedenklich auch den Beamten zuerkannt worden. Heute sei außer Streit, daß sie grundsätzlich auch den Beamten zustehe. Dieses Grundrecht sei im öffentlichen Dienst nicht von vornherein eingeschränkt. Wie das Tarifvertragssystem zeige, komme dem Art. 9 Abs. 3 GG im

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Arbeitsrecht zwar größere Bedeutung zu als im Recht des öffentlichen Dienstes. Das Personalvertretungsrecht und die durch dieses Recht gewährleistete Mitwirkung der Gewerkschaften sei jedoch bewußt aus dem Arbeitsrecht übernommen worden. Die Mitwirkung der Gewerkschaften im Bereich der Personalvertretung würde ihres Sinnes beraubt werden, wenn ihr der volle Schutz der Koalitionsfreiheit versagt werden würde. Das Personalvertretungsrecht setze die gewerkschaftspolitische Agitation in bezug auf Wahl und Tätigkeit des Personalrats voraus.
§ 21 PersVG gehe von einer demokratischen Wahl des Personalrats aus. Dieser Vorschrift müsse im Hinblick auf die "quasi-parlamentarische Mitsprachefunktion" des Personalrats eine materielle Schutzfunktion in dem Sinne zukommen, daß damit auch eine demokratische Willensbildung vor der Wahl geschützt werde, soweit es dabei nicht zu einer Störung des geordneten Dienstbetriebes komme. Die Isolierung des Einzelnen außerhalb des Dienstes zwinge den Wahlkampf in den Dienst hinein; nur "auf dienstlichem Gebiet" sei die notwendige Kommunikation der Einzelnen möglich. Unter den Gegebenheiten des Massenstaates und der Massengesellschaft und den damit zwangsläufig verbundenen Entpolitisierungstendenzen flüchte auch der einzelne Beamte "nach Dienst" in die unpolitische Anonymität des privaten Lebens.
Der Beschluß der Bundesdisziplinarkammer gehe von der Annahme aus, gewerkschaftliche Wahlagitation "im Dienst" und "im Betriebsgelände" sei schlechthin verboten. Damit verletze der Beschluß das Grundrecht des Beschwerdeführers aus Art. 9 Abs. 3 GG.
III.
Gemäß § 94 Abs. 2 BVerfGG wurde den Bundesministern des Innern und für Verkehr Gelegenheit zur Äußerung gegeben. Der Bundesminister des Innern hat namens der Bundesregierung mitgeteilt, daß von einer Stellungnahme abgesehen werde.
Eine mündliche Verhandlung ist nicht geboten, da von ihr eine

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weitere Förderung des Verfahrens nicht zu erwarten ist (§ 94 Abs. 5 BVerfGG).
 
B. - I.
Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig und begründet.
1. Nach §§ 52 ff. BBG in Verbindung mit § 7 Abs. 2 ADAB verletzt ein Beamter der Deutschen Bundesbahn die ihm obliegenden Pflichten, wenn er durch Austragung gewerkschaftlicher Gegensätze die Ausübung des Dienstes beeinträchtigt. Handelt er schuldhaft, so begeht er ein Dienstvergehen und kann disziplinär bestraft werden (§ 77 BBG). Diese Bestimmungen stehen inhaltlich mit dem Grundgesetz in Einklang. Auslegung und Anwendung dieser beamtenrechtlichen Vorschriften durch ein Disziplinargericht können vom Bundesverfassungsgericht nicht in vollem Umfang, sondern nur daraufhin überprüft werden, ob das Gericht bei seiner Entscheidung Verfassungsrecht verletzt hat. Das ist insbesondere dann der Fall, wenn die Entscheidung darauf beruht, daß das Gericht Bedeutung und Tragweite eines Grundrechts verkannt hat (BVerfGE 1, 418 [420]; 7, 198 [207 ff.]; 18, 85 [92 f.]).
Der mit der Verfassungsbeschwerde angegriffene Beschluß der Bundesdisziplinarkammer verkennt die Tragweite des dem Beschwerdeführer aus Art. 9 Abs. 3 GG zustehenden Grundrechts. Gleiches gilt für die Disziplinarverfügung des Dienststellenleiters des Bahnhofs Dortmund-Hauptbahnhof vom 25. April 1960, die durch den Beschluß der Kammer aufrechterhalten wurde.
Im Beschluß wird dargelegt, § 7 Abs. 2 ADAB ziele darauf ab, alles vom Dienst fernzuhalten, was den Dienstablauf stören und den Betriebsfrieden beeinträchtigen könnte. Diese Bestimmung werde ergänzt durch eine Vereinbarung der Deutschen Bundesbahn mit den drei Eisenbahnergewerkschaften vom Dezember 1954, nach der zur Wahrung des Betriebsfriedens gewerkschaftliche Mitteilungen nur durch Aushang am Schwarzen Brett oder im Aushangkasten bekanntgemacht werden dürften und Aushänge, die Kritik an anderen Gewerkschaften übten, nicht zugelassen seien. Damit sei zugleich "die Grenze für die Art und Weise

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jeder gewerkschaftlichen Betätigung sowohl im Wahlkampf als auch außerhalb desselben gezogen". Die Bundesdisziplinarkammer ist also der Ansicht, daß jegliche Werbetätigkeit für eine Gewerkschaft im Dienstbereich der Bundesbahn vor Personalratswahlen, die eine andere Gewerkschaft kritisiert, unzulässig ist. Diese Auslegung der beamtenrechtlichen Bestimmungen steht - wie noch darzulegen ist - mit Art. 9 Abs. 3 GG nicht in Einklang. Sie liegt der Entscheidung zugrunde. Die Bundesdisziplinarkammer führt zwar aus, es sei zu einer unerwünschten Austragung gewerkschaftlicher Gegensätze und zu einer Beeinträchtigung der Dienstausübung der Zeugen E ... und W ... gekommen. Die Kammer sieht die Beeinträchtigung der Dienstausübung aber lediglich darin, daß der Beschwerdeführer sich "zur Ausübung seiner gewerkschaftlichen Tätigkeit gerade auf dienstliches Gebiet begeben" habe und daß die beiden Zeugen das vom Beschwerdeführer verteilte Flugblatt und seinen Inhalt nicht unbeachtet hinnahmen; W ... habe den Beschwerdeführer zur Rechenschaft gezogen; nach alledem stehe fest, daß sich die beiden Zeugen als Angehörige der Gewerkschaft deutscher Bundesbahnbeamten durch den Inhalt des Flugblattes betroffen und angegriffen gefühlt hätten. "Infolgedessen" sei es zu einer unerwünschten Austragung gewerkschaftlicher Gegensätze und zu einer Beeinträchtigung der Dienstausübung der Zeugen gekommen. Die Bundesdisziplinarkammer läßt also die ablehnende Reaktion der gewerkschaftlich anders denkenden Zeugen genügen, um dem Beschwerdeführer eine Beeinträchtigung ihrer Dienstausübung zuzurechnen - ohne zu erwägen, ob nicht die Zeugen dienstrechtlich verpflichtet gewesen wären, ihren Dienst unbeirrt durch das vom Beschwerdeführer verteilte Flugblatt fortzusetzen. Das Verhalten des Beschwerdeführers und der Sachverhalt insgesamt können nur dann als Beeinträchtigung der Dienstausübung der Zeugen gewürdigt werden, wenn man - wie die Bundesdisziplinarkammer - unter Verkennung der Tragweite von Art. 9 Abs. 3 GG davon ausgeht, daß jegliche gewerkschaftliche Werbung im Dienstbereich der Bundesbahn vor Personalratswahlen, die an

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dere Gewerkschaften kritisiert, als Störung der Dienstausübung unzulässig ist und demzufolge dienststrafrechtlich geahndet werden kann.
2. Art. 9 Abs. 3 GG gewährleistet den Koalitionen und ihren Mitgliedern das Recht, sich im Bereich der Personalvertretung zu betätigen. Hierzu gehört auch die Werbung vor Personalratswahlen in der Dienststelle.
a) Art. 9 Abs. 3 GG schützt nicht nur für jedermann und alle Berufe, also auch für die Beamten, das Recht, sich zu Koalitionen zusammenzuschließen, sondern auch die Koalition als solche und ihr Recht, durch spezifisch koalitionsgemäße Betätigung die in Art. 9 Abs. 3 GG genannten Zwecke zu verfolgen, nämlich die Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen zu wahren und zu fördern (BVerfGE 4, 96 [101 f., 106]; 17, 319 [333]; 18, 18 [26]). Art. 9 Abs. 3 GG sichert aber auch dem Einzelnen das Recht, an der spezifischen Tätigkeit der Koalition in dem Bereich teilzunehmen, der für die Koalition verfassungsrechtlich geschützt ist (vgl. BVerfGE 17, 319 [333] und Wengler, Die Kampfmaßnahme im Arbeitsrecht, 1960 S. 47 f., sowie § 91 BBG).
b) Das Grundrecht der Koalitionsfreiheit kann nur solche Tätigkeiten einer Koalition schützen, die den in Art. 9 Abs. 3 GG genannten Koalitionszwecken dienen.
Die Tätigkeit der Personalräte dient zwar nicht ausschließlich, aber doch vornehmlich dem Zweck, die Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen - also die Dienstbedingungen im öffentlichen Dienst der in der Dienststelle tätigen Beamten, Angestellten und Arbeiter zu wahren und zu fördern; Dienststelle und Personalrat sollen zur Erfüllung der dienstlichen Aufgaben und zum Wohle der Bediensteten vertrauensvoll zusammenarbeiten (vgl. §§ 55 ff. PersVG, insbesondere die in § 55 Abs. 1 und 3, §§ 57, 58, 66, 67, 70, 71 und 73 PersVG geregelten Befugnisse des Personalrats). Die Gewerkschaften gehören zwar nicht zu den Organen der Personalvertretung; sie haben auch nicht das Recht, als Organisationen Wahlvorschläge für die Personalratswahlen einzureichen (vgl. § 15 Abs. 4 PersVG). Das Gesetz räumt ihnen jedoch

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wichtige Befugnisse in bezug auf die Personalvertretung ein (vgl. §§ 2, 17 Abs. 2, 19, 20, 22, 26 Abs. 1, 35, 38 Abs. 1, 50 Abs. 1, 55 Abs. 1, 69 PersVG; vgl. auch BVerfGE 17, 319 [334 f.]). Das Personalvertretungsgesetz geht zudem davon aus, daß zumindest in den größeren Dienststellen und Verwaltungen die Wahlbewerber auf Listen kandidieren, die als Listen einer bestimmten Gewerkschaft gekennzeichnet sind, daß der Wahlkampf vor Personalratswahlen faktisch ein Wettbewerb konkurrierender Gewerkschaften ist, daß der Wahlkampf sich an Standpunkten und Argumenten dieser Gewerkschaften orientiert und von ihnen bestritten wird (vgl. OVG Münster, AP Nr. 1 zu § 21 PersVG, sowie BAG, AP Nr. 2 zu § 19 BetrVG). Dies gilt in besonderem Maß für die Wahlen zu den Bezirks- und Hauptpersonalräten gemäß §§ 51 ff. PersVG.
Dient die Tätigkeit der Personalräte vornehmlich der Wahrung und Förderung der Dienstbedingungen und wird die Betätigung der Gewerkschaften bei der Personalvertretung vom Gesetz durch Zuweisung von Befugnissen ausdrücklich anerkannt oder doch als unerläßlich für eine wirksame Personalvertretung vorausgesetzt, so dient auch die Tätigkeit der Gewerkschaften im Personalvertretungswesen der Wahrung und Förderung der Dienstbedingungen. Dem steht nicht entgegen, daß die Gewerkschaften hier nicht unmittelbar, sondern nur mittelbar - über die Personalräte und ihre Wahl - auf die Dienstbedingungen Einfluß zu nehmen suchen. Art. 9 Abs. 3 GG unterscheidet nicht danach, ob die Koalitionen es unternehmen, die Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen unmittelbar oder mittelbar zu wahren und zu fördern.
c) Art. 9 Abs. 3 GG gewährleistet den Koalitionen das Recht, die Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen durch Tarifverträge festzulegen (BVerfGE 4, 96 [106]; 18, 18 [26]). Es ist umstritten, ob die Verfassungsgarantie des Art. 9 Abs. 3 GG auch Betätigungen der Koalitionen schützt, die auf andere Weise als durch Abschluß von Tarifverträgen die Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen wahren und fördern sollen (bejahend: Schnorr, RdA

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1955 S. 3 [9]; Nipperdey in: Hueck-Nipperdey, Lehrbuch des Arbeitsrechts, Bd. 2, 6. Aufl. 1957 S. 112; ablehnend: Nikisch, Arbeitsrecht, Bd. II, 2. Aufl. 1959 S. 58; Dietz in: Die Grundrechte, Bd. III/1 S. 417 [462]; Werner Weber in: Göttinger Festschrift für das Oberlandesgericht Celle, 1961 S. 239 [246, 249]). Das Bundesverfassungsgericht hat die Frage im Beschluß vom 14. April 1964 (BVerfGE 17, 319 [333]) für Koalitionsbetätigungen im Personalvertretungswesen noch offengelassen. Sie muß für diesen Bereich bejaht werden.
(1) Der durch das Grundrecht der Koalitionsfreiheit geschützte Betätigungsbereich der Koalitionen kann nur nach der speziellen Vorschrift des Art. 9 Abs. 3 GG bestimmt werden; Art. 2 Abs. 1 GG muß hierfür außer Betracht bleiben (vgl. BVerfGE 6, 32 [37]; 9, 73 [77]; a.A.: Nipperdey, a.a.O. S. 108 ff.; BAG, JZ 1964, 373 [374]). Bei der Bestimmung der Tragweite des Art. 9 Abs. 3 GG ist jedoch die historische Entwicklung zu berücksichtigen (vgl. BVerfGE 4, 96 [101 f., 106, 108]; 18, 18 [28 ff.]).
Vorläufer der Personalräte nach dem Personalvertretungsgesetz von 1955 sind einerseits die Beamtenausschüsse, die in der Zeit bis 1933 für fast alle Reichs- und Landesverwaltungen durch Verwaltungsanordnungen errichtet wurden, obwohl eine nähere reichsgesetzliche Regelung der in Art. 130 Abs. 3 der Weimarer Reichsverfassung (WRV) vorgesehenen "besonderen Beamtenvertretungen" nicht zustande kam (vgl. Daniels, HdbDStR Bd. 2 S. 41 [47]; Fitting-Heyer-Lorenzen, Personalvertretungsgesetz, 3. Aufl., Einleitung S. 16; für Preußen vgl. die bei Hue de Grais- Peters, Handbuch der Verfassung und Verwaltung in Preußen und dem Deutschen Reiche, 25. Aufl. 1930 S. 170, angegebenen Bestimmungen; für die Reichspostverwaltung, deren Regelungen als vorbildlich galten, vgl. die Erlasse vom 25. Juni 1920 [Amtsbl. S. 225] und vom 24. April 1922 [Amtsbl. S. 61]; vgl. weiterhin Molitor, Festschrift für Apelt, 1958 S. 219 [221]; Ule, Juristenjahrbuch, Bd. 2, 1961/62 S. 212 [221]). Andererseits zählen zu den Vorläufern der Personalvertretungen aber auch die Betriebsräte nach dem Betriebsrätegesetz vom 4. Februar 1920 (RGBl.

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S. 147; künftig: BRG). Denn dieses Gesetz galt auch für die Angestellten und Arbeiter, die im öffentlichen Dienst standen (§ 9 BRG). Demzufolge sah § 61 BRG bei den größeren Unternehmungen und Verwaltungen des Reichs, der Länder und der Gemeindeverbände die Bildung von Einzel- und Gesamtbetriebsräten vor, den Vorläufern der heute in §§ 51 ff. PersVG geregelten Stufenvertretungen. Lediglich für die Vertretung der Beamten und der Beamtenanwärter war eine besondere gesetzliche Regelung vorgesehen (Art. 130 Abs. 3 WRV, § 10 BRG). Das Personalvertretungsgesetz von 1955 regelt hingegen die Personalvertretung sowohl für die Beamten als auch für die im öffentlichen Dienst stehenden Angestellten und Arbeiter einheitlich (§ 3 PersVG). Für diese Angestellten und Arbeiter gilt nicht das Betriebsverfassungsgesetz von 1952 (so bereits § 88 BetrVG). Das Betriebsrätegesetz von 1920 sah zudem in § 13 vor, daß gewisse Gruppen von Beamten und Beamtenanwärtern durch Rechtsverordnung den Regelungen des Betriebsrätegesetzes unterstellt werden konnten (vgl. hierzu Flatow und Kahn-Freund, Betriebsrätegesetz, 13. Aufl. 1931, - künftig: Flatow und Kahn-Freund - Anmerkungen zu § 13 BRG). § 65 BRG bestimmte, daß in "gemeinsamen Angelegenheiten" Betriebsrat und Beamtenvertretung zur gemeinsamen Beratung zusammentreten konnten. Bei der Würdigung der historischen Entwicklung des Personalvertretungswesens müssen also auch die Betriebsräte und die Tätigkeit der Gewerkschaften in dem durch das Betriebsrätegesetz von 1920 geregelten Bereich berücksichtigt werden.
(2) Die Weimarer Reichsverfassung von 1919 bestätigte den Sieg der parlamentarischen Demokratie über die revolutionäre Rätebewegung. Die Räte waren weitgehend aus dem Bereich der Politik und der politischen Organisation von Staat und Wirtschaft verdrängt worden (vgl. hierzu Anschütz, Die Verfassung des Deutschen Reichs, 14. Aufl. 1933, Einleitung S. 11 ff., sowie Anmerkungen zu Art. 165; Meinecke und W. Jellinek, HdbDStR Bd. 1, §§ 10, 11 und 12; Tormin, Zwischen Rätediktatur und sozialer Demokratie, 1954, insbesondere S. 134; von Oertzen,

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Betriebsräte in der Novemberrevolution, 1963). Art. 165 WRV beschränkte die Räte im wesentlichen auf die Wahrnehmung der sozialen und wirtschaftlichen Interessen der Arbeitnehmer in den Betrieben und Verwaltungen sowie auf die Mitwirkung an der "gesamten wirtschaftlichen Entwicklung der produktiven Kräfte" (Art. 165 Abs. 1 und 2 WRV; vgl. auch § 1 BRG).
Für das Verhältnis von Räten und Gewerkschaften wurde trotz aller anfänglichen politischen und ideologischen Gegensätze maßgebend, daß die Gewerkschaften das Ziel ihrer Politik, nämlich die Räte der Gewerkschaftsbewegung einzuordnen (vgl. Seidel, Die deutschen Gewerkschaften, 2. Aufl. 1929 S. 104 ff.; Flatow in: Kaskel, Koalitionen und Koalitionskampfmittel, 1925 S. 158; Sinzheimer, Grundzüge des Arbeitsrechts, 1927 S. 232), faktisch und rechtlich weitgehend erreichten (vgl. von Oertzen, a.a.O. S. 194 f.). Die unmittelbar geltende Verfassungsnorm des Art. 165 Abs. 1 Satz 2 WRV, die die Koalitionen und ihre Vereinbarungen von Verfassungs wegen anerkannte, sicherte die Rechte der Koalitionen auch gegenüber der neugeschaffenen Räteorganisation (Anschütz, a.a.O. Anm. 3 zu Art. 165; Tatarin- Tarnheyden in: Nipperdey, Die Grundrechte und Grundpflichten der Reichsverfassung, Bd. 3 S. 546 f.). Darüber hinaus wurde aus dem Zusammenhang der Bestimmungen von Abs. 1 und 2 des Art. 165 WRV geschlossen, daß die Koalitionen dazu berufen waren, auch an den durch die Verfassung den Räten zugewiesenen Aufgaben mitzuwirken (vgl. Tatarin-Tarnheyden, a.a.O. S. 523, 547; Poetzsch-Heffter, Handkommentar zur Reichsverfassung, 3. Aufl. 1928, Anm. 2 und 3 zu Art. 165).
Dementsprechend bestätigte § 8 BRG in Einklang mit Art. 165 Abs. 1 Satz 2 WRV, daß die Befugnis der Gewerkschaften, die Interessen ihrer Mitglieder zu vertreten, durch das Betriebsrätegesetz nicht berührt werde. Die Aufgaben der Betriebsräte und der Koalitionen waren nach diesem Gesetz zudem auf mannigfache Weise miteinander verknüpft. Die Friedenspflicht der Betriebsräte galt nur vorbehaltlich der Befugnisse der Koalitionen (§ 66 Nr. 3 BRG); die Räte hatten darüber zu wachen, daß

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die Tarifverträge im Betrieb durchgeführt wurden (§ 78 Nr. 1 BRG, vgl. auch § 66 Nr. 4 BRG); Betriebsvereinbarungen, die insoweit zulässig waren, als tarifvertragliche Regelungen nicht bestanden, konnten die Gruppenräte für Arbeiter oder Angestellte oder die Betriebsräte nur im Benehmen mit den Gewerkschaften abschließen (§ 78 Nr. 2 BRG). Auch im übrigen sah das Betriebsrätegesetz für die Gewerkschaften nicht unwichtige Befugnisse vor (vgl. §§ 23 Abs. 3, 31, 47, 62 BRG). Ihr Einfluß auf die Räte ging jedoch über die gesetzlich vorgesehenen Einwirkungsmöglichkeiten erheblich hinaus. Die Räte standen in enger Verbindung mit den Gewerkschaften; sie wurden nach Listen der Gewerkschaften und als deren Mitglieder gewählt (so Nipperdey in: Hueck-Nipperdey, Lehrbuch des Arbeitsrechts, Bd. 2, 3.-5. Aufl. 1932 S. 527; Seidel, a.a.O. S. 107; vgl. auch Flatow bei Kaskel, a.a.O. S. 165).
Rechtlich und faktisch hatte sich der Grundsatz gefestigt, daß die Räte "im Einvernehmen mit den Gewerkschaften und auf deren Macht gestützt" zu wirken hatten (vgl. Seidel, a.a.O. S. 104 f.). Das Betriebsrätegesetz ging in seinem Grundgedanken davon aus, daß die Betriebsvertretungen ihre Aufgaben im Zusammenwirken mit den Koalitionen erfüllen (Flatow und Kahn- Freund, a.a.O. S. 28). Die Betriebsräte konnten und sollten nur in Verbindung mit den Koalitionen wirken (Sinzheimer, a.a.O. S. 232); die Betriebsrätebewegung wurde als Glied der Gewerkschaftsbewegung angesehen (Flatow bei Kaskel, a.a.O. S. 158; Bührig, Handbuch der Betriebsverfassung, 1953 S. 69 f.); nach Flatow und Kahn-Freund gehörte der "Vorrang der Gewerkschaften vor den Betriebsräten", die "Unterordnung der Betriebsräte unter die Gewerkschaften" zu den das Betriebsrätegesetz beherrschenden Grundgedanken (aaO Anm. 1 zu § 8 und Anm. 4 zu § 66 Nr. 3 BRG).
Insgesamt kann festgestellt werden, daß in der Zeit bis 1933 Einwirkungs- und Betätigungsrechte der Gewerkschaften auch im Bereich der Personalvertretung im öffentlichen Dienst rechtlich gesichert und verfassungsrechtlich anerkannt waren.


BVerfGE 19, 303 (318):

Die gesetzlichen Regelungen der Zeit nach 1945 haben an diesen Rechtszustand angeknüpft. Das Kontrollratsgesetz Nr. 22 (Betriebsrätegesetz) vom 10. April 1946 (Amtsblatt des Kontrollrats S. 133) galt sowohl für die private Wirtschaft wie für den öffentlichen Dienst. Es gab den anerkannten Gewerkschaften das Recht, an der Organisation von Wahlen zu Betriebsräten teilzunehmen und Kandidaten für den Betriebsrat aus den Reihen der Arbeiter und Angestellten des Betriebs aufzustellen (Art. IV). Es sah vor, daß die Betriebsräte ihre Aufgaben in Zusammenarbeit mit diesen Gewerkschaften ausführen (Art. VII). Die Betriebsrätegesetze der Länder (vgl. die Übersicht bei Siebert- Hilger, Arbeitsrecht, Heft 3 - Betriebsverfassung und Mitbestimmung - Ausgabe 5 vom 15. Mai 1965, Einleitung) stellten meist die Beamten den Angestellten und Arbeitern im öffentlichen Dienst gleich (vgl. z.B. § 2 des bayerischen Betriebsrätegesetzes vom 25. Oktober 1950, GVBl. S. 227). Das Kontrollratsgesetz Nr. 22 und die Betriebsrätegesetze der Länder aus den Jahren 1948 bis 1950 galten übrigens auch nach Inkrafttreten des Grundgesetzes für den öffentlichen Dienst zunächst weiter (vgl. § 88 Abs. 2 BetrVG und § 101 Abs. 2 PersVG sowie § 93 BBG).
(3) Anders als die Weimarer Reichsverfassung enthält das Grundgesetz keine eingehenderen Bestimmungen über die Sozial-  und Gesellschaftsordnung. Eine dem Art. 165 WRV entsprechende Vorschrift ist in das Grundgesetz nicht aufgenommen worden. Das Grundgesetz unterscheidet sich insofern nicht nur von der Weimarer Reichsverfassung, sondern auch von den meisten Landesverfassungen, die bei seinem Inkrafttreten galten. Die Mehrzahl dieser Verfassungen gewährleistete den Arbeitnehmern die Mitwirkung im Betrieb (vgl. Baden, Verfassung von 1947, Art. 39; Bayern, Verfassung von 1946, Art. 175; Bremen, Verfassung von 1947, Art. 47; Hessen, Verfassung von 1946, Art. 37; Rheinland-Pfalz, Verfassung von 1947, Art. 67; Württemberg-Baden, Verfassung von 1946, Art. 22; Württemberg-Hohenzollern, Verfassung von 1947, Art. 96; vgl. auch die saarländische

BVerfGE 19, 303 (319):

Verfassung von 1947, Art. 58). Zwei dieser Verfassungen, die von Bremen und Hessen, erstreckten diese Gewährleistung ausdrücklich auch auf die Beamten und bestimmten weiterhin, daß die Betriebsvertretungen dazu berufen seien, im Benehmen mit den Gewerkschaften im Betrieb mitzuwirken.
Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Urteil vom 18. November 1954 dargelegt, daß trotz Fehlens einer dem Art. 165 Abs. 1 WRV entsprechenden Vorschrift über die Anerkennung der Koalitionen auch die Koalitionen selbst in den Schutzbereich des Art. 9 Abs. 3 GG einbezogen seien; eine Vorschrift wie Art. 165 Abs. 1 WRV sei entbehrlich gewesen, "weil das Grundgesetz unter Berücksichtigung des bestehenden verfassungs- und arbeitsrechtlichen Zustandes in den Ländern von der rechtlichen Anerkennung der Sozialpartner als selbstverständlich ausgehen konnte" (BVerfGE 4, 96 [101 f.]). Gleiches muß für die Tätigkeit der Gewerkschaften im Bereich der Vertretung der Beamten, der Angestellten und Arbeiter des öffentlichen Dienstes gelten. In den durch Art. 9 Abs. 3 GG geschützten Bereich muß die Tätigkeit der Koalitionen im Personalvertretungswesen aber vor allem deshalb einbezogen werden, weil sich das Grundgesetz ausdrücklich zum sozialen Rechtsstaat bekennt (Art. 20 Abs. 1, 28 Abs. 1 Satz 1 GG). Diese Entscheidung des Verfassungsgebers schließt es aus, die Koalitionsbetätigung in diesem Bereich, die bis 1933 und nach 1945 dienstrechtlich und verfassungsrechtlich anerkannt war, von der Gewährleistung durch Art. 9 Abs. 3 GG auszunehmen. Das Sozialstaatsprinzip war in den entsprechenden Vorschriften bereits konkret ausgeformt. Die Koalitionsfreiheit würde ihres historisch gewordenen Sinns beraubt, wenn nicht die Betätigung der Koalitionen bei der Personalvertretung durch Art. 9 Abs. 3 GG geschützt wäre (vgl. BVerfGE 4, 96 [102, 106]).
d) Fällt die Tätigkeit der Koalitionen im Personalvertretungswesen in den durch Art. 9 Abs. 3 GG geschützten Bereich, so muß grundsätzlich auch die Werbetätigkeit der Koalitionen vor Personalratswahlen durch die Verfassung geschützt sein. Es gehört

BVerfGE 19, 303 (320):

zu den Aufgaben der Personalräte, die Dienstbedingungen zu wahren und zu fördern. Mit Rücksicht hierauf muß es den Koalitionen gewährleistet sein, zur Verfolgung ihrer in Art. 9 Abs. 3 GG umschriebenen Zwecke Einfluß auf die Wahl der Personalräte zu nehmen (vgl. oben b). Das gilt um so mehr, als das Personalvertretungsgesetz davon ausgeht, daß seit 1920 vor allem in größeren Dienststellen und Verwaltungen die Bewerber für die Personalvertretungen überwiegend auf gewerkschaftsgebundenen Listen kandidieren und gewählt werden. Das ist insbesondere bei den Wahlen der Bezirks- und Hauptpersonalräte nach den §§ 51 ff. PersVG der Fall (vgl. Stock, Die Personalvertretung, 1965, 202 ff.; Diederich, Das Mitbestimmungsgespräch, 1965, 127 ff.).
Die Tätigkeit der Personalräte und der Gewerkschaften zur Förderung und Wahrung der Dienstbedingungen ist zudem herkömmlich und auch nach dem Personalvertretungsgesetz auf mannigfache Weise miteinander verknüpft (vgl. oben zu b und die dort angeführten Bestimmungen des Personalvertretungsgesetzes sowie weiterhin § 57 Abs. 1b PersVG). Auch hieraus ergibt sich, daß die Werbetätigkeit vor Personalratswahlen für die Gewerkschaften als wichtiges Mittel zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen anzusehen ist und deshalb vom Schutz des Art. 9 Abs. 3 GG nicht ausgenommen sein kann.
Die kollektive Mitwirkung der Bediensteten in der Personalvertretung und die Wahlen zur Personalvertretung sind an die Dienststelle gebunden. Die Meinungs- und Willensbildung bei Personalratswahlen bezieht sich vornehmlich auf die Verhältnisse in der Dienststelle und der Verwaltung, für die die Personalvertretung gewählt werden soll. Solche Wahlen können von der Sache her der Dienststelle nicht entfremdet und ihr nicht ferngehalten werden. Die Wirksamkeit jeder Wahlwerbung ist abhängig von der Präsenz der Wählerschaft. Die Wähler der Personalratswahlen sind aber nur in der Dienststelle und während der Dienstzeit "anwesend". Ein Wahlkampf für Personal

BVerfGE 19, 303 (321):

ratswahlen, der dem Sinn solcher Wahlen gerecht wird, kann nicht vor der Tür der Dienststelle oder außerhalb des Dienstes in der privaten Sphäre der Wahlberechtigten geführt werden. Grundsätzlich ist deshalb auch gewerkschaftliche Werbung vor Personalratswahlen in der Dienststelle und während der Dienstzeit verfassungsrechtlich geschützt.
Der Sinn eines solchen Wahlkampfs ginge auch dann verloren, wenn es einer Koalition oder ihren Mitgliedern verwehrt wäre, Kritik an konkurrierenden Koalitionen zu üben. Ohne gegensätzliche Meinungsäußerungen ist ein Wahlkampf nicht denkbar. Es ist unvermeidbar und muß hingenommen werden, daß Mitglieder anderer Gewerkschaften auf solche Äußerungen ablehnend reagieren.
e) Ausgestaltung und nähere Regelung des Rechts der Gewerkschaften, bei der Personalvertretung tätig zu werden, sind jedoch Sache des Gesetzgebers. Es liegt hier nicht anders als bei der durch Art. 9 Abs. 3 GG gewährleisteten Tarifmacht der Koalitionen (vgl. BVerfGE 4, 96 [107 ff.]; 18, 18 [27]). Der Gesetzgeber kann bei dieser näheren Regelung den Aufgaben des öffentlichen Dienstes und seiner Verschiedenheit von der Tätigkeit in privaten Betrieben ebenso Rechnung tragen wie den Besonderheiten der einzelnen Zweige des öffentlichen Dienstes (BVerfGE 17, 319 [334]). Ohne Beeinträchtigung von Art. 9 Abs. 3 GG kann also bestimmt werden, daß solche Tätigkeiten der Koalitionen im Bereich des Personalvertretungswesens unzulässig sind, die die Dienstausübung, die Erfüllung der dienstlichen Aufgaben und Pflichten und die Ordnung in der Dienststelle beeinträchtigen würden. Ebenso ist es z.B. zulässig, bestimmten Personen - etwa dem Leiter der Dienststelle, anderen Bediensteten je nach ihren Funktionen oder den Mitgliedern der Personalvertretungen - Beschränkungen ihrer gewerkschaftlichen Werbetätigkeit vor Personalratswahlen vorzuschreiben; es kann hier offenbleiben, wie weit solche Beschränkungen gehen dürfen. Art. 9 Abs. 3 GG schützt auch bei der Personalvertretung nur einen Kernbereich der Koalitionsbetätigung (vgl. BVerfGE 4, 96 [106, 108]; 17,

BVerfGE 19, 303 (322):

319 [333 f.]; 18, 18 [27]). Dieser Kernbereich wird angetastet und Art. 9 Abs. 3 GG ist verletzt, wenn der Werbung vor Personalratswahlen Schranken gezogen werden, die nicht von der Sache selbst gefordert werden, die also nicht geboten sind, um Sinn und Zweck freier Personalratswahlen (vgl. auch § 21 PersVG), die Erfüllung der dienstlichen Aufgaben, die Ordnung in der Dienststelle oder das Wohl der Bediensteten zu gewährleisten (vgl. BVerfGE 18, 18 [27]). Ein generelles Verbot gewerkschaftlicher Werbung vor Personalratswahlen im Dienstbereich ist hiernach nicht gerechtfertigt.
3. Das für jedermann und für alle Berufe gewährleistete Grundrecht der Koalitionsfreiheit steht auch den Beamten zu (vgl. § 91 BBG). Es bleibt jedoch zu prüfen, ob dieses Grundrecht für den Beschwerdeführer als Beamten über das sonst zulässige Maß hinaus beschränkt werden konnte und beschränkt war. Solche weitergehenden Beschränkungen des Grundrechts könnten durch Art. 33 Abs. 5 GG gerechtfertigt sein (vgl. Ule, Öffentlicher Dienst, in: Bettermann-Nipperdey, Die Grundrechte, Bd. IV/2 S. 537 [615 ff.] mit Nachweisungen). Ein generelles Betätigungsverbot der Beamten für eine Koalition gehört jedoch nicht zu den hergebrachten Grundsätzen des Berufsbeamtentums und wird auch nicht durch Sinn und Zweck des Beamtenverhältnisses gefordert. Nach Art. 33 Abs. 5 GG sind nur solche Grundrechtsbeschränkungen zulässig, die durch Sinn und Zweck des konkreten Dienst- und Treueverhältnisses des Beamten (§ 2 BBG) gefordert werden. Es ist nicht ersichtlich, inwiefern aus dem Beamtenverhältnis des Beschwerdeführers, eines Betriebsaufsehers der Bundesbahn, solche Beschränkungen für seine gewerkschaftliche Werbetätigkeit hergeleitet werden könnten (vgl. auch Bayerischer Dienststrafhof, Zeitschrift für Beamtenrecht, 1962, 396, [397]).
II.
Es hat sich ergeben, daß ein generelles Verbot gewerkschaftlicher Werbetätigkeit im dienstlichen Bereich vor Personalratswahlen, die gegen andere Koalitionen gerichtet ist, einem Beam

BVerfGE 19, 303 (323):

ten nicht schlechthin auferlegt werden kann, ohne daß Art. 9 Abs. 3 GG verletzt wird. Art. 9 Abs. 3 GG ist aber auch dann verletzt, wenn ein Gericht einer allgemeinen Regelung, die für sich genommen mit dem Grundrecht in Einklang steht, durch Auslegung ein solches Verbot entnimmt. Das aber hat die Bundesdisziplinarkammer getan; ihre Entscheidung beruht auf dieser die Tragweite des Art. 9 Abs. 3 GG verkennenden Auslegung. Der Beschluß der Kammer und die Disziplinarverfügung, die durch den Beschluß bestätigt wurde, sind daher aufzuheben. Die Sache ist zur erneuten Entscheidung über die Kostenfrage an die Bundesdisziplinarkammer zurückzuverweisen (vgl. BVerfGE 6, 386 [388 f.]).