BVerfGE 77, 346 - Presse-Grosso |
1. Zur Vereinbarkeit von § 6 Nr. 3 Gesetz über die Verbreitung jugendgefährdender Schriften mit dem Grundgesetz. |
2. Eine selbständig ausgeübte, nicht unmittelbar die Herstellung von Presseerzeugnissen betreffende Hilfstätigkeit wird vom Schutz der Pressefreiheit umfaßt, wenn sie typischerweise pressebezogen ist, in enger organisatorischer Bindung an die Presse erfolgt, für das Funktionieren einer freien Presse notwendig ist und wenn sich die staatliche Regulierung dieser Tätigkeit zugleich einschränkend auf die Meinungsverbreitung auswirkt. |
Beschluß |
des Ersten Senats vom 13. Januar 1988 |
-- 1 BvR 1548/82 -- |
in dem Verfahren über die Verfassungsbeschwerden des Herrn K... - Bevollmächtigte: Rechtsanwälte Dr. Rainer Bechtold, Dr. Christoph Moench, Dr. Michael Uechtritz, Birkenwaldstraße 149, Stuttgart 1 - 1. unmittelber gegen a) den Beschluß des Oberlandesgerichts Koblenz vom 2. November 1982 - 1 Ss 495/82 -, b) das Urteil des Landgerichts Koblenz vom 1. April 1982 - 102 Js 7428/80 - 5 Ns -, 2. mittelbar gegen § 6 Nr. 3 des Gesetzes über die Verbreitung jugendgefährdender Schriften in der Fassung des Vierten Gesetzes zur Reform des Strafrechts vom 23. November 1973 (BGBl. I S. 1725). |
Entscheidungsformel: |
Das Urteil des Landgerichts Koblenz vom 1. April 1982 - 102 Js 7428/80 - 5 Ns - und der Beschluß des Oberlandesgerichts Koblenz vom 2. November 1982 - 1 Ss 495/82 - verletzen das Grundrecht des Beschwerdeführers aus Artikel 5 Absatz 1 Satz 2 des Grundgesetzes. Die Entscheidungen werden aufgehoben. Die Sache wird an das Landgericht zurückverwiesen. |
Das Land Rheinland-Pfalz hat dem Beschwerdeführer die notwendigen Auslagen zu erstatten. |
Gründe: |
A. |
Die Verfassungsbeschwerde richtet sich gegen die strafgerichtliche Verurteilung eines Presse-Grossisten wegen Verbreitens jugendgefährdender Schriften.
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I. |
Das Gesetz über die Verbreitung jugendgefährdender Schriften vom 9. Juni 1953 - GjS - in der hier maßgeblichen Fassung des Vierten Gesetzes zur Reform des Strafrechts vom 23. November 1973 (BGBl. I S. 1725) beschränkt zum Schutz der heranwachsenden Jugend die in Art. 5 Abs. 1 GG genannten Grundrechte, indem es jugendgefährdende Schriften bestimmten Verkaufs- und Vertriebsbeschränkungen unterwirft.
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1. Das Gesetz betrifft Schriften und - diesen gleichgestellt - Ton- und Bildträger, Abbildungen und andere Darstellungen, die geeignet sind, Kinder oder Jugendliche sittlich zu gefährden (§ 1 Abs. 1 und 3). Hierzu zählt das Gesetz vor allem unsittliche, verrohend wirkende, zu Gewalttätigkeit, Verbrechen oder Rassenhaß anreizende sowie den Krieg verherrlichende Schriften (§ 1 Abs. 1 Satz 2). Diese sind in eine Liste aufzunehmen (§ 1 Abs. 1 Satz 1, "Indizierung"). Über die Aufnahme entscheidet eine nicht an Weisungen gebundene Bundesprüfstelle (§§ 8 ff.) in einem rechtsförmlichen Verfahren (§§ 12 ff.) durch Verwaltungsakt, gegen den der Verwaltungsrechtsweg eröffnet ist (§ 20). Die Aufnahme in die Liste ist im Bundesanzeiger bekanntzumachen (§§ 1 Abs. 1 Satz 3, 19 Abs. 2). Mit dieser Bekanntmachung treten die in den §§ 3 und 4 geregelten Verkaufs- und Vertriebsbeschränkungen ein. Diese Vorschriften lauteten in der zur Tatzeit geltenden Fassung:
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"§ 3
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Eine Schrift, deren Aufnahme in die Liste bekanntgemacht ist, darf nicht
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1. einem Kind oder Jugendlichen angeboten, überlassen oder zugänglich gemacht werden oder
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2. an einem Ort, der Kindern oder Jugendlichen zugänglich ist oder von ihnen eingesehen werden kann, ausgestellt, angeschlagen, vorgeführt oder sonst zugänglich gemacht werden.
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(1) Eine Schrift, deren Aufnahme in die Liste bekanntgemacht ist, darf nicht
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1. im Einzelhandel außerhalb von Geschäftsräumen,
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2. in Kiosken oder anderen Verkaufsstellen, die der Kunde nicht zu betreten pflegt,
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3. im Versandhandel oder
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4. in gewerblichen Leihbüchereien oder Lesezirkeln vertrieben, verbreitet oder verliehen oder zu diesen Zwecken vorrätig gehalten werden.
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(2) Verleger oder Zwischenhändler dürfen eine solche Schrift nicht an Personen liefern, soweit diese einen Handel nach Absatz 1 Nr. 1 betreiben oder Inhaber von Betrieben der in Absatz 1 Nr. 2 bis 4 bezeichneten Art sind.
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(3) ..."
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2. Ausnahmen von der Grundsatzregelung, wonach jugendgefährdende Schriften auf Grund eines anfechtbaren Verwaltungsakts in eine Liste aufzunehmen sind und erst von der Bekanntmachung im Bundesanzeiger an die Verbote der §§ 3 ff. eintreten, sind in der folgenden Vorschrift geregelt:
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"§ 6
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Den Beschränkungen der §§ 3 bis 5 unterliegen, ohne daß es einer Aufnahme in die Liste und einer Bekanntmachung bedarf,
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1. - 2. ...
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3. sonstige Schriften, die offensichtlich geeignet sind, Kinder oder Jugendliche sittlich schwer zu gefährden."
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Zuwiderhandlungen gegen die §§ 3 ff. werden durch § 21 mit Freiheits- und Geldstrafen bedroht.
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II. |
1. Der Beschwerdeführer ist Vertriebsleiter eines Pressegroßhandelsunternehmens. Dieses belieferte als einziger Presse-Grossist im Großraum Koblenz etwa 1100 Zeitungs- und Zeitschriftenhändler mit etwa 1500 verschiedenen Presseerzeugnissen. Monatlich wurden etwa 2500 unterschiedliche Zeitungs- und Zeitschriftennummern vertrieben.
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Im Oktober 1980 lieferte das Unternehmen die Nr. 10 einer von der X-Verlags-GmbH herausgegebenen Homosexuellen-Zeitschrift unter anderem an einen Kioskbesitzer in Koblenz. Dort wurde die Zeitschrift von der Polizei sichergestellt. Als offensichtlich schwer jugendgefährdend wurden zwei Werbeanzeigen beanstandet. Eine davon warb mit einer Abbildung für sog. Penis-Ringe, die andere betraf einen Selbstbefriedigungsautomaten. Der Beschwerdeführer bestritt, daß diese Anzeigen offensichtlich schwer jugendgefährdend seien. Er berief sich darauf, daß bei der X-Verlags-GmbH ein ehemaliger Mitarbeiter des Sittendezernats der Kriminalpolizei die einzelnen Ausgaben der Zeitschrift auf ihre etwaige Jugendgefährdung hin überprüfte, so daß er sie ohne eigene Prüfung ausgeliefert habe. |
2. Das Amtsgericht sprach den Beschwerdeführer von dem Vorwurf frei, offensichtlich schwer jugendgefährdende Schriften an den Inhaber eines Kiosks ausgeliefert zu haben: Es könne dahingestellt bleiben, ob die fraglichen Darstellungen jugendgefährdenden Charakter hätten; es sei nicht nachvollziehbar, was an diesen Darstellungen unsittlicher und stärker jugendgefährdend sein solle als an den übrigen Darstellungen des Heftes. Jedenfalls habe der Beschwerdeführer in einem entschuldbaren Verbotsirrtum gehandelt. Er habe im Hinblick auf die beim Verlag von einem Fachmann vorgenommene Überprüfung darauf vertrauen können, daß die fragliche Zeitschrift von jugendgefährdenden Inhalten frei sei.
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Auf die Berufung der Staatsanwaltschaft hob das Landgericht diese Entscheidung auf und verurteilte den Beschwerdeführer wegen eines fahrlässigen Vergehens nach § 21 Abs. 1 Nr. 4, Abs. 3, § 4 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 2 und § 6 Nr. 3 GjS zu einer Geldstrafe. Zur Begründung führte es im wesentlichen aus: Die vom Beschwerdeführer an einen Kiosk-Inhaber ausgelieferte Zeitschrift sei offensichtlich schwer jugendgefährdend. Schon nach ihrem äußeren Erscheinungsbild handele es sich um eine Homosexuellen-Zeitschrift. Die beiden Werbeanzeigen, die bereits bei oberflächlichem Durchblättern der Zeitschrift unwillkürlich Aufmerksamkeit erregten, seien offensichtlich geeignet, Kinder oder Jugendliche sittlich zu gefährden. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs sei eine schwere sittliche Gefährdung gegeben, wenn die Erziehung der jungen Menschen zu sittlich verantwortungsbewußten Persönlichkeiten unmittelbar in Frage gestellt werde, weil die Jugendlichen durch das Lesen von Zeitschriften dieser Art der nahen Gefahr ausgesetzt würden, daß sie eine dem Erziehungsziel entgegengesetzte Haltung einnähmen. Offensichtlich sei die Gefahr dann, wenn die von den Schriften ausgehende sittliche Gefährdung der Jugend klar zutage trete und deshalb jedem einsichtigen, für Jugenderziehung und Jugendschutz aufgeschlossenen Leser erkennbar sei. Dies treffe auf die beiden Werbeanzeigen zu. Sie forderten zu einem sexuellen Verhalten auf, das jeder vernünftigen Sexualerziehung eines jungen Menschen widerspreche. Die offensichtlich schwere Erziehungsfeindlichkeit der Anzeigen sei für jeden einsichtigen Jugenderzieher erkennbar. Der Beschwerdeführer habe auch fahrlässig gehandelt; er sei nicht mit der gebotenen Sorgfalt vorgegangen, als er die Zeitschrift ausgeliefert habe, ohne sie vorher inhaltlich zu überprüfen. Als verantwortlicher Vertriebsleiter wäre er dazu verpflichtet gewesen, sofern er nicht wegen des anerkannten Rufes des Verlags oder auf Grund sonstiger Umstände ohne weiteres von der sittlichen Ungefährlichkeit des Inhalts der Zeitschrift hätte ausgehen dürfen. Gerade bei der fraglichen Zeitschrift hätte bereits auf Grund ihres Gesamterscheinungsbildes besondere Veranlassung zu einer eingehenden Prüfung bestanden. Wer mit Zeitschriften dieser Art handele und gut daran verdiene, müsse sich zuvor diejenigen Kenntnisse aneignen, welche ihn zur straflosen Berufsausübung befähigten, und bei Zweifeln den Rat eines unabhängigen juristischen Fachmannes einholen. Der Beschwerdeführer könne die ihm obliegende Sorgfaltspflicht insbesondere nicht auf den Verleger oder gar auf einen ehemaligen Kriminalbeamten, der ebenfalls juristischer Laie sei, abwälzen. Ein Verbotsirrtum habe nicht vorgelegen. |
Die Revision des Beschwerdeführers gegen das Urteil des Landgerichts verwarf das Oberlandesgericht als offensichtlich unbegründet.
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III. |
Mit seiner Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer die Verletzung seiner Grundrechte aus Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG und Art. 12 Abs. 1 GG.
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Der Beschwerdeführer hält die seiner Verurteilung zugrunde liegenden Bestimmungen des Gesetzes über die Verbreitung jugendgefährdender Schriften für verfassungswidrig, soweit diese für den Zwischenhändler die Pflicht begründen, die von ihm vertriebenen nicht indizierten Schriften daraufhin zu überprüfen, ob sie offensichtlich geeignet sind, Kinder und Jugendliche sittlich schwer zu gefährden.
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Diese gesetzliche Kontrollpflicht verletze Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG. Sie entspreche nicht den Voraussetzungen, unter denen die Pressefreiheit gemäß Art. 5 Abs. 2 GG zum Schutze der Jugend eingeschränkt werden könne: Die Kontrollpflicht könne von den im Vertrieb Tätigen nicht erfüllt werden und sei daher zur Gewährleistung des angestrebten Jugendschutzes ungeeignet. Die Vielzahl der vertriebenen Pressetitel und die Kürze der zur Verfügung stehenden Zeit machten eine inhaltliche Überprüfung nicht indizierter Schriften durch den Zwischenhändler praktisch unmöglich. Der Kreis der zu prüfenden Schriften lasse sich auch nicht auf wenige "problematische" Presseerzeugnisse eingrenzen, wie die Indizierungspraxis der Bundesprüfstelle zeige. Es komme hinzu, daß Wissenschaft und Rechtsprechung keine hinreichend objektivierbaren Maßstäbe dafür bieten könnten, wann eine Eignung zur "schweren sittlichen Gefährdung" vorliege. Deutlich werde diese Unsicherheit gerade im Ausgangsverfahren, wo Amtsgericht und Landgericht gegenteilige Auffassungen vertreten hätten. Außerdem sei die den Zwischenhändlern auferlegte Kontrollpflicht auch nicht erforderlich. Der damit bezweckte Schutz der Jugend vor gefährdenden Schriften könne effektiver und einfacher dadurch sichergestellt werden, daß die Prüfung vom Verleger vorgenommen werde. Dieser müßte nur einen Bruchteil der Schriften überprüfen, die nach der gegenwärtigen Gesetzeslage vom Zwischenhändler zu kontrollieren seien, und habe in der Regel hierfür längere Zeit zur Verfü gung. Ferner stehe die Einschränkung der Pressefreiheit des Zwischenhandels durch die Kontrollpflicht auch außer Verhältnis zu dem damit erstrebten Erfolg. Um der ständig drohenden Gefahr einer strafrechtlichen Verfolgung zu entgehen, müßten die Zwischenhändler den uneingeschränkten Vertrieb aller "zweifelhaften" Schriften verweigern. Damit würden nicht nur offensichtlich schwer jugendgefährdende Schriften vom Vertrieb ausgeschlossen, sondern auch alle Schriften, bei denen die Eignung zur Jugendgefährdung nicht von vornherein verneint werden könne. Zugleich greife die dem Zwischenhändler auferlegte Prüfungspflicht unverhältnismäßig in die durch Art. 12 Abs. 1 GG geschützte Freiheit der Berufsausübung ein. |
Der Beschwerdeführer rügt weiter, daß jedenfalls die Anwendung des § 6 Nr. 3 GjS im Ausgangsverfahren ihn in seinen Grundrechten aus Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG und Art. 12 Abs. 1 GG verletze. Das Landgericht habe die Bedeutung der Pressefreiheit verkannt. In dem Urteil sei Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG nicht genannt; die Gründe ließen auch nicht erkennen, ob sich das Gericht bewußt gewesen sei, daß seine Entscheidung die Pressefreiheit des Beschwerdeführers tangiere. Es fehle jede Abwägung zwischen den Belangen des Jugendschutzes und denen der Pressefreiheit. Das Landgericht habe es nicht einmal als ausreichend angesehen, daß die betreffende Zeitschrift im Verlag durch eine sachkundige Person überprüft worden sei. Die weite Auslegung des § 6 Nr. 3 GjS durch das Gericht führe dazu, daß ein Zwischenhändler in häufigen Zweifelsfällen den uneingeschränkten Vertrieb einer Schrift ablehnen müsse, um der Gefahr einer Strafverfolgung zu entgehen.
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Verfassungsrechtlich geboten sei demgegenüber eine restriktive Auslegung der Begriffe "offensichtlich geeignet" und "sittlich schwer zu gefährden" in § 6 Nr. 3 GjS. Danach dürften nur solche Schriften dem § 6 Nr. 6 GjS unterfallen, die in auffälliger Weise ihre Eignung zur Jugendgefährdung erkennen ließen, namentlich durch bildliche Darstellungen und hervorgehobenen Text. Nachdem das Amtsgericht eine besondere Jugendgefährdung durch die beiden beanstandeten Werbeanzeigen verneint habe, habe das Landgericht nicht überzeugend dargelegt, was die besondere Gefährlichkeit der beiden Anzeigen begründen solle. |
IV. |
Zu der Verfassungsbeschwerde haben der Bundesgerichtshof, das Bundesverwaltungsgericht, der Vorsitzende der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften und der Verband Deutscher Buch-, Zeitungs- und Zeitschriften-Grossisten e. V. Stellung genommen.
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Der 4. Strafsenat des Bundesgerichtshofs und der 1. Revisionssenat des Bundesverwaltungsgerichts halten die der Verurteilung zugrunde liegenden Bestimmungen des Gesetzes über die Verbreitung jugendgefährdender Schriften für verfassungsgemäß.
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Der Vorsitzende der Bundesprüfstelle hat mitgeteilt, daß die im Ausgangsverfahren beanstandete Zeitschrift seit etwa 1970 monatlich im selben Verlag erscheine. Bis zur Verurteilung des Beschwerdeführers seien der Bundesprüfstelle nur drei Ausgaben dieser Zeitschrift zur Indizierung wegen eines jugendgefährdenden Inhalts vorgelegt worden. Zwei Ausgaben aus den Jahren 1972 und 1973 seien gemäß § 1 GjS indiziert worden, von der Indizierung einer Ausgabe des Jahres 1978 sei wegen Geringfügigkeit gemäß § 2 GjS abgesehen worden. Auf Grund der Verurteilung des Beschwerdeführers sei bei der Bundesprüfstelle ein Indizierungsverfahren bezüglich der Ausgabe Nr. 10/80 eingeleitet worden. Dieses Verfahren sei jedoch eingestellt worden.
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B. |
Die Verfassungsbeschwerde ist begründet. Die angegriffenen Entscheidungen haben der Bedeutung von Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG für die Auslegung und Anwendung von § 6 Nr. 3 GjS nicht hinreichend Rechnung getragen.
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I. |
Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG ist auf die hier zu beurteilende Tätigkeit des Presse-Grossisten anwendbar.
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Das Grundrecht der Pressefreiheit gewährleistet als subjektives Recht den im Pressewesen tätigen Personen und Unternehmen Freiheit von staatlichem Zwang; als objektives Recht garantiert es die Freiheit des Pressewesens insgesamt. Dieser Schutz reicht von der Beschaffung der Information bis zur Verbreitung der Nachricht und der Meinung (BVerfGE 10, 118 [121]). Er beschränkt sich nicht auf die unmittelbar inhaltsbezogenen Pressetätigkeiten, sondern erfaßt im Interesse einer ungehinderten Meinungsverbreitung auch inhaltsferne Hilfsfunktionen von Presseunternehmen (vgl. BVerfGE 25, 296 [304] - Buchhaltung; BVerfGE 64, 108 [114 f.]- Anzeigenaufnahme). Im einzelnen kommt es für die Definition des Schutzbereichs darauf an, was notwendige Bedingung des Funktionierens einer freien Presse ist (BVerfGE 66, 116 [134]).
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Damit wird allerdings nicht jede selbständige Dienstleistung in den Schutzbereich von Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG einbezogen, die der Presse zugute kommt und für diese funktionswichtig ist. Der Grundrechtsschutz des Art. 5 Abs. 1 GG besteht im Interesse der freien Meinungsbildung (BVerfGE 57, 295 [319]) und kann deswegen nur durch einen ausreichenden Inhaltsbezug ausgelöst werden. Dieser ist bei presseinternen Hilfstätigkeiten durch den organisatorischen Zusammenhalt des Presseunternehmens regelmäßig gegeben. Für presseexterne Hilfstätigkeiten bleibt es dagegen in der Regel beim Schutz anderer Grundrechte, namentlich des Art. 12 Abs. 1 GG. Etwas anderes kann jedoch ausnahmsweise im Interesse eines freiheitlichen Pressewesens dann gelten, wenn eine selbständig ausgeübte, nicht die Herstellung von Presseerzeugnissen betreffende Hilfstätigkeit typischerweise pressebezogen ist, in enger organisatorischer Bindung an die Presse erfolgt, für das Funktionieren einer freien Presse notwendig ist und wenn sich die staatliche Regulierung dieser Tätigkeit zugleich einschränkend auf die Meinungsverbreitung auswirkt.
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So verhält es sich unter den gegenwärtigen Bedingungen im Pressewesen mit dem Presse-Grosso. Der Presse-Grossist ist zwar nicht in ein Presseunternehmen eingegliedert, wie das für die Träger derjenigen Hilfsfunktionen zutrifft, die nach der bisherigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts den Schutz des Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG genießen. Auch fehlt ihm ein unmittelbarer Bezug zum Inhalt der von ihm vertriebenen Publikationen, um dessentwillen der Schutz der Pressefreiheit besteht. Sie stellen sich für ihn vielmehr als Ware dar, die er ohne Rücksicht auf den Inhalt vom Erzeuger an den Einzelhändler verteilt. Indessen rechtfertigt sich in der vorliegenden Konstellation die Einbeziehung der Tätigkeit des Grossisten in den Schutzbereich von Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG, weil sowohl der enge organisatorische und funktionale Pressebezug seiner Dienstleistung als auch die Auswirkung der an ihn gerichteten Gesetzespflicht auf die Meinungsverbreitung gegeben sind. |
Außerhalb des Abonnements werden die sogenannten Publikumszeitschriften heute ganz überwiegend von selbständigen Zwischenhändlern abgesetzt. Daher sind die Presseunternehmen für den freien Verkauf ihrer Erzeugnisse auf Grossisten angewiesen. Das gilt in gesteigertem Maß für neue, finanzschwache oder minderheitenorientierte Presseunternehmen, die zum Aufbau eines eigenen Vertriebsnetzes außerstande wären und ihr Publikum allein durch Grossisten zu erreichen vermögen. Andererseits haben sich die Verleger durch Preisbindung, Mengenbestimmung, Gebietszuweisung und Alleinauslieferungsverträge einen erheblichen Einfluß auf die Vertriebstätigkeit verschafft und im Gegenzug den Grossisten von dem unternehmerischen Risiko durch ein Rückgaberecht für nicht verkaufte Exemplare wesentlich entlastet. Durch diese Ausgestaltung der Beziehungen ist der Grossist in den Funktionszusammenhang der Herstellung und Verbreitung von Presseerzeugnissen derart eingegliedert, daß sich eine gesetzliche Regelung seiner Tätigkeit, die eine inhaltliche Kontrolle und gegebenenfalls die Nichtauslieferung von Presseerzeugnissen verlangt, auf die Tätigkeit der freien Presse insgesamt beschränkend auswirkt. Aus diesem Grunde ist es hier geboten, die ihrem Schutz dienende Vorschrift des Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG auch auf die Tätigkeit des Grossisten zu erstrecken.
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II. |
1. § 6 Nr. 3 GjS, der es dem Grossisten in Verbindung mit §§ 4 Abs. 2, 21 GjS unter Strafandrohung verbietet, offensichtlich schwer jugendgefährdende Schriften zu vertreiben, greift nicht in verfassungswidriger Weise in das Grundrecht der Pressefreiheit ein.
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Das Bundesverfassungsgericht hat bereits den inhaltsgleichen Vorläufer von § 6 Nr. 3 GjS, nämlich § 6 Abs. 1 GjS in der Fassung vom 9. Juni 1953 (BGBl. I S. 377), unter dem Gesichtspunkt der Bestimmtheit der Strafdrohung geprüft und mit dem Grundgesetz für vereinbar erklärt (BVerfGE 11, 234). Ebenso ist das Verbot, nicht indizierte, aber offensichtlich schwer jugendgefährdende Schriften im Versandhandel zu vertreiben (§ 6 Abs. 1 in Verbindung mit § 4 Abs. 1 Nr. 3 GjS in der Fassung vom 29. April 1961 - BGBl. I S. 498 -), als vereinbar mit Art. 5 Abs. 1 GG beurteilt worden (BVerfGE 30, 336). Das Bundesverfassungsgericht hat in dieser Entscheidung keinen Zweifel daran gelassen, daß der Gesetzgeber gegen offensichtlich schwer jugendgefährdende Schriften Maßnahmen der in § 6 GjS vorgesehenen Art ergreifen darf. Dies entspricht der Wertung des Grundgesetzes, wonach der Schutz der Jugend ein Ziel von bedeutsamem Rang und ein wichtiges Gemeinschaftsanliegen ist (BVerfGE 30, 336 [348]). An dieser Rechtsprechung wird festgehalten.
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In der vom Grundgesetz gebotenen engen Auslegung schränkt die Vorschrift die Pressefreiheit auch nicht unverhältnismäßig ein.
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Das Vertriebsverbot ist geeignet, zum Schutz der Jugend beizutragen, denn eine schwer jugendgefährdende Schrift, die den Einzelhändler nicht erreicht, kann auf diesem Vertriebsweg nicht in die Hände Jugendlicher gelangen. Die Eignung des Verbots wird auch nicht dadurch in Frage gestellt, daß es dem Presse-Grossisten, wie der Beschwerdeführer meint, eine unerfüllbare Pflicht auferlege. Zwar stellt die Unerfüllbarkeit einer Norm ihre Eignung zur Zweckerreichung in Frage. Im vorliegenden Fall läßt sich die Pflicht aber erfüllen. Der Beschwerdeführer stützt seine Annahme durchweg auf Umstände, die sich aus der gegenwärtigen Organisation und Personalausstattung des Pressegroßhandels ergeben und als solche keineswegs unabänderlich sind. Sie können daher allenfalls im Rahmen der Zumutbarkeit der Regelung Bedeutung erlangen. |
Der Beschwerdeführer kann sich auch nicht darauf berufen, daß dem Gesetzgeber andere, gleich wirksame, aber weniger belastende Mittel zur Verfügung gestanden hätten. Es ist bereits zweifelhaft, ob die Verlagerung der Prüfungspflicht auf einen anderen Personenkreis, etwa die Verleger oder Einzelhändler, ein milderes Mittel ist. Jedenfalls wäre eine solche Maßnahme nicht in gleicher Weise wirksam. Der Verleger, der regelmäßig ein Interesse an der Verbreitung des Inhalts seiner Erzeugnisse hat, gewährleistete als alternative Prüfungsinstanz nicht denselben Objektivitätsgrad wie der am Inhalt gerade uninteressierte Grossist. Andererseits wäre beim Einzelhändler die Gefahr der Zugänglichkeit jugendgefährdender Presseerzeugnisse für den geschützten Personenkreis erheblich größer als beim Grossisten.
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Die Prüfungspflicht schränkt bei richtigem Verständnis der gesetzlichen Anforderungen die Pressefreiheit auch nicht in unverhältnismäßiger Weise ein. Im Zusammenhang des Gesetzes erweist sich § 6 Nr. 3 GjS als Ausnahmetatbestand. Der Regelschutz besteht in der förmlichen Indizierung jugendgefährdender Schriften durch die Bundesprüfstelle; mit der Bekanntmachung ihrer Entscheidung werden die Beschränkungen des § 4 GjS ausgelöst und die Grossisten einer eigenen Inhaltsprüfung enthoben. Dagegen trifft § 6 Nr. 3 GjS für den Sonderfall Vorsorge, daß eine Schrift, die offensichtlich eine schwere Gefahr für die Jugend bildet, nicht oder noch nicht indiziert ist. Die Vorschrift schließt die dadurch entstehende empfindliche Lücke im Jugendschutz, indem sie die Prüfungspflicht subsidiär den am Herstellungs- und Verteilungsprozeß unmittelbar Beteiligten auferlegt. Sie trägt den andersartigen Prüfungsbedingungen, die bei diesem Personenkreis im Gegensatz zur Bundesprüfstelle herrschen und unter Umständen eine schnelle Prüfung zahlreicher Presseerzeugnisse durch Nichtfachleute verlangen, jedoch dadurch Rechnung, daß die Vertriebsbeschränkungen nur solche Schriften erfassen, deren schwere Jugendgefährlichkeit offensichtlich ist.
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Durch die Begrenzung der Vertriebsbeschränkungen auf Schriften, die offensichtlich geeignet sind, Jugendliche schwer zu gefährden, hat der Gesetzgeber den Anforderungen der durch § 6 Nr. 3 GjS eingeschränkten Pressefreiheit angemessen Rechnung getragen. Er hat damit klar gemacht, daß nicht Grenzfälle, sondern nur jedem unbefangenen Beobachter erkennbar jugendgefährdende Schriften erfaßt werden sollen (vgl. BVerfGE 11, 234 [238]). Gleichzeitig bringt das Merkmal der Offensichtlichkeit zum Ausdruck, daß zur Feststellung der schweren Jugendgefährdung keine detaillierte Kontrolle der Publikation verlangt werden darf; die Gefährdung muß sich vielmehr aus dem Gesamteindruck der Zeitschrift oder aus besonders ins Auge springenden Einzelheiten ergeben. |
Auf diese Weise eingegrenzt, ist die Vorschrift auch nicht derart unbestimmt, daß sie keine verläßliche Beurteilung des Einzelfalls mehr erlaubte und deswegen den Grossisten im Interesse der Strafvermeidung zwänge, mehr Publikationen als erforderlich zurückzuhalten. Von der Prüfungspflicht und den Vertriebsbeschränkungen werden vielmehr nur vergleichsweise wenige Presseerzeugnisse betroffen sein. Eine aktualitätsbeeinträchtigende Verzögerung der Gesamtauslieferung ist unter diesen Umständen ebenfalls nicht zu befürchten. Schließlich belastet die Prüfungspflicht den Presse-Grossisten auch nicht in unzumutbarer Weise in seiner Dienstleistung für die Presse. Angesichts der vergleichsweise kleinen Zahl zu prüfender Zeitschriften und angesichts der Begrenzung der Prüfungspflicht macht § 6 Nr. 3 GjS weder eine grundlegende Umorganisation der Unternehmen noch eine erhebliche Ausweitung des Personalbestands um Jugendschutz- oder Rechtsexperten nötig.
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2. Aus den dargelegten Gründen verletzt § 6 Nr. 3 GjS auch nicht den bei Regelungen der Berufsausübung zu beachtenden Grundsatz der Verhältnismäßigkeit.
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III. |
1. Landgericht und Oberlandesgericht haben jedoch die Bedeutung des Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG für die Auslegung und Anwendung von § 6 Nr. 3 GjS verkannt.
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Die Annahme des Landgerichts, daß die beiden Werbeanzeigen geeignet seien, Kinder und Jugendliche sittlich schwer zu gefährden, ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Das Landgericht hat aber an keiner Stelle des Urteils erörtert, ob die Verurteilung des Beschwerdeführers in das Grundrecht der Pressefreiheit eingreift und welche Auswirkungen sich daraus für seine Entscheidung ergeben. Dies zeigt, daß es sich des Einflusses der Pressefreiheit auf die Auslegung und Anwendung von § 6 Nr. 3 GjS nicht bewußt war.
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Das Landgericht ist zwar von der verfassungsrechtlich unbedenklichen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (BGHSt 8, 80) zum Merkmal der Offensichtlichkeit der schweren sittlichen Gefährdung ausgegangen. Bei der Anwendung dieser Maßstäbe hat es jedoch keine Überlegungen dazu angestellt, inwiefern die beiden Anzeigen den Eindruck der Schrift so prägen, daß deren Gefährlichkeit offensichtlich war. Außerdem führen seine Anforderungen an die Kontrollpflicht des Grossisten zu einer unverhältnismäßigen Beschränkung der Pressefreiheit, weil sie ihn der ständigen Gefahr einer Bestrafung aussetzen, wenn er nicht alle ihm auch nur zweifelhaft erscheinenden Publikationen vom uneingeschränkten Vertrieb ausnimmt.
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2. Angesichts dieses Ergebnisses kann es dahingestellt bleiben, ob die angegriffenen Entscheidungen überdies eine Verletzung der Berufsausübungsfreiheit des Art. 12 Abs. 1 GG darstellen.
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Herzog, Niemeyer, Heußner, Henschel, Seidl, Grimm ,Söllner, Dieterich |