BVerfGE 93, 181 - Rasterfahndung I
 
Beschluß
des Ersten Senats vom 5. Juli 1995
-- 1 BvR 2226/94 --
in dem Verfahren über die Verfassungsbeschwerde des Herrn K... gegen Art. 1 § 3 Abs. 1 Satz 1 und 2 Nr. 2 bis 6, § 3 Abs. 3, § 3 Abs. 4, § 3 Abs. 5, § 3 Abs. 7 und § 3 Abs. 8 des Gesetzes zu Art. 10 GG vom 13. August 1968 (BGBl. I S. 949) in der Fassung des Art. 13 des Verbrechensbekämpfungsgesetzes vom 28. Oktober 1994 (BGBl. I S. 3186), hier: Antrag auf Erlaß einer einstweiligen Anordnung.
Entscheidungsformel:
1. Artikel 1 § 3 Absatz 3 Satz 1 des Gesetzes zu Artikel 10 Grundgesetz (G 10) vom 13. August 1968 (BGBl. I S. 949) in der Fassung des Artikels 13 des Verbrechensbekämpfungsgesetzes vom 28. Oktober 1994 (BGBl. I S. 3186) ist einstweilen mit der Maßgabe anzuwenden, daß bei der Durchführung von Maßnahmen nach Absatz 1 erlangte personenbezogene Daten nur dann verwendet werden dürfen, wenn bestimmte Tatsachen den Verdacht begründen, daß jemand eine der in der Vorschrift genannten Straftaten plant, begeht oder begangen hat.
2. Artikel 1 § 3 Absatz 5 Satz 1 G 10 in der Fassung des Artikels 13 des Verbrechensbekämpfungsgesetzes ist einstweilen mit

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der Maßgabe anzuwenden, daß die nach Absatz 1 erlangten Daten den in der Vorschrift genannten Behörden nur dann zu übermitteln sind, wenn bestimmte Tatsachen den Verdacht begründen, daß jemand eine der in § 3 Absatz 3 G 10 genannten Straftaten plant, begeht oder begangen hat.
3. Im übrigen wird der Antrag auf Erlaß einer einstweiligen Anordnung abgelehnt.
 
Gründe:
I.
Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Erweiterung der Befugnisse des Bundesnachrichtendienstes zur Überwachung, Aufzeichnung und Auswertung des Fernmeldeverkehrs durch das Verbrechensbekämpfungsgesetz.
1. Mit dem Gesetz zur Änderung des Strafgesetzbuches, der Strafprozeßordnung und anderer Gesetze (Verbrechensbekämpfungsgesetz) vom 28. Oktober 1994 (BGBl. I S. 3186) sind die Regelungen des Gesetzes zu Art. 10 des Grundgesetzes (G 10) vom 13. August 1968 (BGBl. I S. 949), zuletzt geändert durch Art. 12 Abs. 4 des Gesetzes vom 14. September 1994 (BGBl. I S. 2325), in verschiedener Hinsicht geändert worden. Insbesondere wird die Befugnis des Bundesnachrichtendienstes (BND) zur Überwachung des Fernmeldeverkehrs im Bereich des internationalen nicht leitungsgebundenen Verkehrs erheblich erweitert. Er wird ermächtigt, diesen Fernmeldeverkehr ohne konkreten Verdacht zu überwachen, um die Gefahr der Planung oder Begehung bestimmter Straftaten rechtzeitig erkennen zu können. Zu diesem Zweck werden Suchbegriffe verwendet, die auf das Vorliegen solcher Gefahren hindeuten können (sogenannte verdachtslose Rasterfahndung). Ferner wird der BND verpflichtet, die erlangten Daten vollständig an die Strafverfolgungs- und Sicherheitsbehörden weiterzugeben, soweit dies zur Erfüllung ihrer Aufgaben erforderlich ist. Eine Einschaltung der unabhängigen Kontrollkommission sieht das Gesetz insoweit nicht vor.


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§ 3 G 10 lautet:
    "(1) Außer in den Fällen des § 2 dürfen auf Antrag des Bundesnachrichtendienstes Beschränkungen nach § 1 für internationale nicht leitungsgebundene Fernmeldeverkehrsbeziehungen angeordnet werden, die der nach § 5 zuständige Bundesminister mit Zustimmung des Abgeordnetengremiums gemäß § 9 bestimmt. Sie sind nur zulässig zur Sammlung von Nachrichten über Sachverhalte, deren Kenntnis notwendig ist, um die Gefahr
    1. eines bewaffneten Angriffs auf die Bundesrepublik Deutschland,
    2. der Begehung internationaler terroristischer Anschläge in der Bundesrepublik Deutschland,
    3. der internationalen Verbreitung von Kriegswaffen im Sinne des Gesetzes über die Kontrolle von Kriegswaffen sowie des unerlaubten Außenwirtschaftsverkehrs mit Waren, Datenverarbeitungsprogrammen und Technologien im Sinne des Teils I der Ausfuhrliste (Anlage AL zur Außenwirtschaftsverordnung) in Fällen von erheblicher Bedeutung,
    4. der unbefugten Verbringung von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge aus dem Ausland in das Gebiet der Bundesrepublik Deutschland,
    5. im Ausland begangener Geldfälschungen sowie
    6. der Geldwäsche im Zusammenhang mit den in den Nummern 3 bis 5 genannten Handlungen
    rechtzeitig zu erkennen und einer solchen Gefahr zu begegnen. In den Fällen der Nummer 1 dürfen Beschränkungen nach Satz 1 auch für leitungsgebundene Fernmeldeverkehrsbeziehungen und für Postverkehrsbeziehungen angeordnet werden.
    (2) Für Beschränkungen im Sinne des Absatzes 1 darf der Bundesnachrichtendienst nur Suchbegriffe verwenden, die zur Aufklärung von Sachverhalten über den in der Anordnung bezeichneten Gefahrenbereich bestimmt und geeignet sind. Die Suchbegriffe dürfen keine Identifizierungsmerkmale enthalten, die zu einer gezielten Erfassung bestimmter Fernmeldeanschlüsse führen. Satz 2 gilt nicht für Fernmeldeanschlüsse im Ausland, sofern ausgeschlossen werden kann, daß Anschlüsse
    1. deutscher Staatsangehöriger oder
    2. von Gesellschaften mit dem Sitz im Ausland, wenn der überwiegende Teil ihres Vermögens oder ihres Kapitals sowie die tatsächliche Kontrolle über die Gesellschaft deutschen natürlichen oder juristischen Personen zusteht und die Mehrheit der Vertretungsberechtigten deutsche Staatsangehörige sind,


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    gezielt erfaßt werden. Die Suchbegriffe sind in der Anordnung zu benennen. Die Durchführung ist mit technischen Mitteln zu protokollieren; sie unterliegt der Kontrolle gemäß § 9 Abs. 2. Die Protokolldaten dürfen ausschließlich zu Zwecken der Datenschutzkontrolle verwendet werden. Sie sind am Ende des Kalenderjahres, das dem Jahr der Protokollierung folgt, zu löschen.
    (3) Bei der Durchführung von Maßnahmen nach Absatz 1 erlangte personenbezogene Daten dürfen nur zur Verhinderung, Aufklärung oder Verfolgung von Straftaten verwendet werden, die in § 2 dieses Gesetzes und in § 138 des Strafgesetzbuches bezeichnet sind, sowie von Straftaten nach den §§ 261 und 264 des Strafgesetzbuches, § 92a des Ausländergesetzes, § 34 Abs. 1 bis 6 und 8 und § 35 des Außenwirtschaftsgesetzes, §§ 19 bis 21 und 22a Abs. 1 Nr. 4, 5 und 7 des Gesetzes über die Kontrolle von Kriegswaffen oder § 29a Abs. 1 Nr. 2, § 30 Abs. 1 Nr. 1, 4 oder § 30a des Betäubungsmittelgesetzes, soweit gegen die Person eine Beschränkung nach § 2 angeordnet ist oder wenn tatsächliche Anhaltspunkte für den Verdacht bestehen, daß jemand eine der vorgenannten Straftaten plant, begeht oder begangen hat. § 12 des BND-Gesetzes bleibt unberührt.
    (4) Der Bundesnachrichtendienst prüft, ob durch Maßnahmen nach Absatz 1 erlangte personenbezogene Daten für die dort genannten Zwecke erforderlich sind.
    (5) Die nach Absatz 1 erlangten Daten sind vollständig zu den in Absatz 3 bezeichneten Zwecken den Verfassungsschutzbehörden des Bundes und der Länder, dem Amt für den Militärischen Abschirmdienst, dem Zollkriminalamt, dem Bundesausfuhramt, den Staatsanwaltschaften und, vorbehaltlich der staatsanwaltschaftlichen Sachleitungsbefugnis, den Polizeien zu übermitteln, soweit dies zur Erfüllung der Aufgaben des Empfängers erforderlich ist. Die Entscheidung erfolgt durch einen Bediensteten, der die Befähigung zum Richteramt hat.
    (6) Sind nach Absatz 1 erlangte Daten für die dort genannten Zwecke nicht oder nicht mehr erforderlich und sind die Daten nicht nach Absatz 5 anderen Behörden zu übermitteln, sind die auf diese Daten bezogenen Unterlagen unverzüglich unter Aufsicht eines Bediensteten, der die Befähigung zum Richteramt hat, zu vernichten und, soweit die Daten in Dateien gespeichert sind, zu löschen. Die Vernichtung und die Löschung sind zu protokollieren. In Abständen von jeweils sechs Monaten ist zu prüfen, ob die Voraussetzungen für eine Vernichtung oder Löschung vorliegen.
    (7) Der Empfänger prüft, ob er die nach Absatz 5 übermittelten Daten für die in Absatz 3 bezeichneten Zwecke benötigt. Benötigt er die Daten nicht, hat er die Unterlagen unverzüglich zu vernichten. Die Vernichtung kann unterbleiben, wenn die Trennung von anderen Informationen, die

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    zur Erfüllung der Aufgaben erforderlich sind, nicht oder nur mit unvertretbarem Aufwand möglich ist; eine Verwendung dieser Daten ist unzulässig.
    (8) Betroffenen, deren Daten durch eine Maßnahme nach Absatz 1 erlangt worden sind, ist die Beschränkung des Fernmeldegeheimnisses mitzuteilen, sobald eine Gefährdung des Zwecks der Beschränkung und der Verwendung ausgeschlossen werden kann. Eine Mitteilung unterbleibt, wenn die Daten
    1. vom Bundesnachrichtendienst innerhalb von drei Monaten nach Erlangung oder
    2. von der Behörde, der sie nach Absatz 5 übermittelt worden sind, innerhalb von drei Monaten nach Empfang
    vernichtet worden sind. Die Mitteilung obliegt dem Bundesnachrichtendienst, im Falle der Übermittlung nach Absatz 5 der Empfängerbehörde.
    (9) Die Kommission kann dem Bundesbeauftragten für den Datenschutz vor ihrer Entscheidung über die Zulässigkeit und Notwendigkeit einer Maßnahme nach § 9 Abs. 2 Gelegenheit zur Stellungnahme in Fragen des Datenschutzes geben. Die Stellungnahme erfolgt ausschließlich gegenüber der Kommission.
    (10) Das Gremium nach § 9 Abs. 1 erstattet dem Bundestag jährlich einen Bericht über die Durchführung der Maßnahmen nach den Absätzen 1 bis 9."
2. Der Beschwerdeführer wendet sich mit seiner Verfassungsbeschwerde vorrangig gegen § 3 Abs. 1 Satz 1 und 2 Nr. 2 bis 6 und Abs. 8 G 10. Soweit dies erforderlich werden sollte, begehrt er auch eine Überprüfung des § 3 Abs. 4 sowie der Absätze 3, 5 und 7 G 10. Zugleich strebt er eine vorläufige Regelung dahin an, daß die angegriffenen Normen nicht oder jedenfalls nicht im vorgesehenen Ausmaß in Kraft treten. Er trägt vor, daß er als Professor des Strafrechts mit einem Schwerpunkt im Betäubungsmittelrecht und zahlreichen ausländischen Kontakten aller Wahrscheinlichkeit nach von der verdachtslosen Rasterfahndung selbst und gegenwärtig betroffen sei. Da er von der Überwachung nach der Regelung des Gesetzes aber nichts erfahre, bleibe ihm nur die Möglichkeit, dieses unmittelbar anzugreifen. Die Umsetzung der erweiterten Überwachungsbefugnisse bedeute praktisch die völlige Aufhebung des Fernmeldegeheimnisses (Art. 10 GG) für ihn und eine Unzahl unverdächtiger Bürger.
3. a) Das Bundesministerium des Innern ist namens der Bundesregierung dem Antrag entgegengetreten. Erginge die einstweilige An

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ordnung, würde der Verfassungsbeschwerde aber später nicht stattgegeben, so ergäben sich schwere Nachteile sowohl für die Sicherheitsinteressen, die außenpolitischen Zielsetzungen und das Ansehen der Bundesrepublik Deutschland als auch für die Sicherheitsbelange der Bürger. Erginge die einstweilige Anordnung nicht, erwiese sich die Verfassungsbeschwerde später jedoch als begründet, entstünden dem Beschwerdeführer jedenfalls keine schweren oder nicht wiedergutzumachenden Nachteile. Bei der Fernmeldeüberwachung kämen als Suchbegriffe vorrangig Chiffrewörter und Suchbegriffskombinationen in Betracht. Sollte gleichwohl der Fall eintreten, daß Fernmeldeverkehr des Beschwerdeführers erfaßt werde, so ließe sich dieser leicht als Wissenschaftlerkorrespondenz erkennen; die Aufzeichnung werde dann sofort vernichtet.
b) Zur Verfassungsbeschwerde und zum Eilantrag haben außerdem der Bundesbeauftragte für den Datenschutz sowie die Datenschutzbeauftragten der Länder Bayern, Berlin, Brandenburg, Bremen, Hamburg, Nordrhein-Westfalen, Saarland, Sachsen und Schleswig-Holstein Stellung genommen. Sie erheben durchweg verfassungsrechtliche Bedenken gegen die angegriffenen Vorschriften.
II.
Der Antrag auf Erlaß einer einstweiligen Anordnung ist zulässig und in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang begründet.
Nach § 32 Abs. 1 BVerfGG kann das Bundesverfassungsgericht im Streitfall einen Zustand durch einstweilige Anordnung vorläufig regeln, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile, zur Verhinderung drohender Gewalt oder aus einem anderen wichtigen Grund zum gemeinen Wohl dringend geboten ist. Bei der Prüfung, ob die Voraussetzungen des § 32 Abs. 1 BVerfGG gegeben sind, ist wegen der meist weittragenden Folgen einer verfassungsgerichtlichen einstweiligen Anordnung ein strenger Maßstab anzulegen; das gilt besonders, wenn ein Gesetz außer Vollzug gesetzt werden soll (BVerfGE 81, 53 [54]; 82, 310 [313]; 82, 353 [363]; 83, 162 [171]; st. Rspr.). Die Erfolgsaussichten der Verfassungsbeschwerde sind dabei nur insoweit relevant, als diese sich als von vornherein unzulässig oder offensichtlich unbegründet erweist. Bei offenem Ausgang

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des Verfassungsbeschwerdeverfahrens haben die Gründe, die für die Verfassungswidrigkeit des angegriffenen Hoheitsaktes angeführt werden, grundsätzlich außer Betracht zu bleiben. Das Bundesverfassungsgericht muß die Folgen, die eintreten würden, wenn eine einstweilige Anordnung nicht erginge, die Verfassungsbeschwerde aber Erfolg hätte, gegenüber den Nachteilen abwägen, die entstünden, wenn die begehrte einstweilige Anordnung erlassen würde, der Verfassungsbeschwerde aber der Erfolg zu versagen wäre (vgl. BVerfGE 77, 121 [124]; 80, 360 [363 f.]; 85, 94 [95 f.]; st. Rspr.).
1. Die Verfassungsbeschwerde ist weder von vornherein unzulässig noch offensichtlich unbegründet.
Der Beschwerdeführer hat hinreichend dargelegt, daß er von den Maßnahmen nach § 3 Abs. 3 Satz 1 und 2 Nr. 2 bis 6 G 10 betroffen sein kann. Da er nicht die Möglichkeit hat, sich gegen Vollzugsakte zu wenden, weil er von Eingriffen in seine Grundrechte nichts erfährt, steht ihm die Verfassungsbeschwerde unmittelbar gegen das Gesetz zu (vgl. BVerfGE 30, 1 [15 f.]).
In dem Verfahren über die Hauptsache stellen sich grundsätzliche verfassungsrechtliche Fragen insbesondere zu den Möglichkeiten einer Einschränkung des in Art. 10 GG verankerten Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnisses, die einer eingehenden Prüfung bedürfen. Namentlich wird zu prüfen sein, ob die Voraussetzungen von Art. 10 Abs. 2 Satz 2 GG gewahrt sind, ob die Regelung über die Erlangung, Weitergabe und Verwertung der Daten mit dem Recht auf informationelle Selbstbestimmung aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG, mit dem Fernmeldegeheimnis aus Art. 10 Abs. 1 GG und mit dem Prinzip umfassenden Rechtsschutzes nach Art. 19 Abs. 4 GG vereinbar ist und ob das Gesetz die erforderlichen verfahrensmäßigen Sicherungen bietet.
2. Demnach hängt die Begründetheit des Antrags auf Erlaß einer einstweiligen Anordnung von der Folgenbeurteilung und -abwägung ab. Dabei fällt nicht nur die Schwere des Eingriffs in die Rechtsposition des Beschwerdeführers ins Gewicht. Vielmehr sind auch die für den Anordnungserlaß sprechenden Interessen anderer Grundrechtsträger und der Allgemeinheit zu berücksichtigen

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(BVerfGE 12, 276 [280]; st. Rspr.). Die im Falle der Ablehnung einer einstweiligen Anordnung zu erwartenden Nachteile müssen schwer im Sinne des § 32 Abs. 1 BVerfGG sein und gegenüber den Nachteilen, die einträten, wenn eine einstweilige Anordnung erlassen würde, die Verfassungsbeschwerde aber keinen Erfolg hätte, überwiegen. Dabei ist zwischen den einzelnen Befugnissen zu unterscheiden.
a) Bliebe die Regelung der Überwachungsbefugnisse in § 3 Abs. 1 Satz 1 und 2 Nr. 2 bis 6 G 10 in Kraft und hätte die Verfassungsbeschwerde im Hauptsacheverfahren Erfolg, würden möglicherweise Fernmeldeverkehre des Beschwerdeführers und jedenfalls einer sehr großen Zahl anderer Grundrechtsträger computergesteuert mit Hilfe von Suchbegriffen überwacht und gegebenenfalls aufgezeichnet. Einige Datenschutzbeauftragte gehen von Zahlen in sechsstelliger Höhe täglich für die rechnergestützte Überwachung und von täglich etwa viertausend aufgezeichneten Gesprächen aus. Schon daraus können sich Nachteile ergeben. Die Befürchtung einer Überwachung mit der Gefahr einer späteren Auswertung, etwaigen Übermittlung und weiterer Verwendung durch andere Behörden kann bei den Grundrechtsträgern schon im Vorfeld zu Kommunikationsstörungen und zu Verhaltensanpassungen führen. Hier sind nicht nur die individuellen Beeinträchtigungen einer Vielzahl einzelner Grundrechtsträger zu berücksichtigen. Vielmehr betrifft die heimliche Überwachung des Fernmeldeverkehrs auch die Kommunikationsfreiheit und das Kommunikationsverhalten der Fernsprechteilnehmer insgesamt. Das würde nicht nur die Entfaltungschancen der Einzelnen beeinträchtigen, sondern auch das Gemeinwohl (vgl. BVerfGE 65, 1 [43]).
Würde der Vollzug der angegriffenen Regelung vorläufig ausgesetzt, erwiese sich die Verfassungsbeschwerde aber später als unbegründet, hätten Fernmeldeverkehre, die für die in § 3 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 bis 6 G 10 genannten Sachverhalte von Belang sind, nicht überwacht werden können. Damit entfiele die Möglichkeit, aufgezeichnete Kontakte im Rahmen der dem Bundesnachrichtendienst zugewiesenen Aufgaben auszuwerten und die Informationen zu nutzen sowie bestimmte Daten gegebenenfalls zu Zwecken der Ver

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hinderung, Aufklärung und Verfolgung der in § 3 Abs. 3 G 10 genannten Straftaten zu übermitteln und zu verwenden. Würde bereits die Regelung der Überwachungsbefugnisse einstweilen außer Vollzug gesetzt, wäre darüber hinaus die Möglichkeit einer nachträglichen Auswertung versperrt.
Wägt man die Folgen ab, wiegen die Nachteile im Falle der Ablehnung der begehrten Anordnung weniger schwer als die Nachteile im Falle ihres Erlasses. Soweit Nachteile im Zusammenhang mit Auswertungen, Übermittlungen und Verwendungen zu erwarten sind, kann dem durch eine vorläufige Regelung hinsichtlich der dazu ermächtigenden - ebenfalls angegriffenen - Befugnisnormen Rechnung getragen werden. Das gilt um so mehr als die durch die Erwartung einer Überwachung hervorgerufenen Befürchtungen und damit verbundene Kommunikationsstörungen und Verhaltensanpassungen in Art, Umfang und Gewicht wesentlich von der Gestaltung der Auswertungs-, Übermittlungs- und Verwendungsbefugnisse abhängig sind. Sofern die Entscheidung in der Hauptsache nachträglich Auswertungen, Übermittlungen und Verwendungen zwischenzeitlich stattfindender Aufzeichnungen ermöglichte, würden diese nach Maßgabe der dann herausgearbeiteten verfassungsrechtlichen Anforderungen durchgeführt. Würden demgegenüber bereits die Befugnisse zur Überwachung vorläufig außer Vollzug gesetzt, wäre im Falle einer späteren Zurückweisung der Verfassungsbeschwerde die Möglichkeit einer nachträglichen Auswertung versperrt.
b) Bliebe die Regelung der Auswertungsbefugnisse des Bundesnachrichtendienstes in § 3 Abs. 3 und 4 G 10 in Kraft und hätte die Verfassungsbeschwerde im Hauptsacheverfahren Erfolg, wären möglicherweise Fernmeldeverkehre des Beschwerdeführers, jedenfalls aber einer großen Zahl von Grundrechtsträgern durch Mitarbeiter des Bundesnachrichtendienstes ausgewertet worden. Dabei ist nach dem bisherigen Erkenntnisstand davon auszugehen, daß Fernmeldeverkehre jeglichen Inhalts erfaßt werden können und daß diese vollständig aufgezeichnet und ausgewertet werden. An eine Auswertung können sich Nachteile im Rahmen der Aufgabenwahrnehmung des Bundesnachrichtendienstes anschließen. Nach der gesetzlichen Festlegung des Verwendungszwecks für erlangte

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Informationen und Daten ist der Bundesnachrichtendienst im Rahmen seiner Aufgaben nach § 1 Abs. 2 BND-Gesetz berechtigt, den Fernmeldeverkehr zu überwachen und aufzuzeichnen, um die in § 3 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 bis 6 G 10 aufgezählten Gefahren rechtzeitig zu erkennen und ihnen zu begegnen. Gemäß § 1 Abs. 2 BND-Gesetz sammelt der Bundesnachrichtendienst zur Gewinnung von Erkenntnissen über das Ausland, die von außen- oder sicherheitspolitischer Bedeutung für die Bundesrepublik Deutschland sind, die erforderlichen Informationen und wertet sie aus. § 12 BND-Gesetz sieht Berichtspflichten gegenüber der Bundesregierung vor, die auch personenbezogene Daten umfassen. Im Rahmen der Auslandsaufklärung werden Lageanalysen erstellt, aber auch - wie die Beispiele in der Stellungnahme der Bundesregierung belegen - einzelne Vorgänge erforscht und dazu Hinweise gegeben, die zu weiteren Schritten gegenüber den Betroffenen führen können. Je nach Gesprächs- oder Telefaxinhalt kann die Auswertung Einblick in private Angelegenheiten geben. Soweit die Grundrechtsträger eine Aufzeichnung und Auswertung ihrer Fernmeldeverkehre befürchten, können Kommunikationsstörungen, insbesondere Beeinträchtigungen der Unbefangenheit der Kommunikation, und Verhaltensanpassungen, etwa bei der Wahl der Kommunikationsthemen, die Folge sein. Die nachteiligen Folgen wären irreversibel, da sie mit der erfolgenden Auswertung und mit deren Befürchtung einträten.
Würde der Vollzug der angegriffenen Regelung vorläufig ausgesetzt, erwiese sich die Verfassungsbeschwerde aber später als unbegründet, hätten im Rahmen der Überwachung aufgezeichnete Fernmeldeverkehre nicht ausgewertet werden können. Die Möglichkeit einer Auswertung wäre allerdings nicht endgültig, sondern nur bis zur Entscheidung in der Hauptsache versperrt. In vielen Fällen könnte das Ziel der Regelung jedoch, da die Aktualität der Kenntnisse entscheidend sein wird, bei einer nachträglichen Auswertung nicht oder nur noch eingeschränkt erreicht werden. Die fehlende Auswertung würde dazu führen, daß erfolgte Aufzeichnungen nicht als Informationen für die Aufgaben verwertet und nicht weiter umgesetzt werden könnten. Die von einigen Datenschutzbeauftragten

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erhobenen Zweifel an der Eignung der Überwachung außer Betracht gelassen, könnten Nachteile für die Sicherheitsbelange und das außenpolitische Ansehen der Bundesrepublik sowie die außenpolitische Handlungs- und Gestaltungsfähigkeit und für Sicherheitsinteressen der Bürger eintreten.
Wägt man die Folgen ab, so überwiegen die Nachteile der Anordnungsablehnung jedenfalls in den Fällen, in denen kein hinreichend gesicherter Verdacht der Planung oder Begehung der im Gesetz näher bezeichneten Straftaten besteht. Die im Rahmen der verdachtslosen Überwachung aufgezeichneten Kommunikationen würden vielmehr ausgewertet, ohne daß feststeht, ob hinreichende Vorkehrungen zum Schutz Unverdächtiger bestehen. Die von der Überwachung drohende Störung des Kommunikationsverhaltens wäre besonders groß, wenn der Einzelne befürchten müßte, einer Kenntnisnahme und Verwertung seiner privaten oder beruflichen Kontakte ausgesetzt zu sein, ohne entsprechende Verdachtsmomente geliefert zu haben. Insoweit kann ein Überwiegen der Sicherheitsbelange nur angenommen werden, wenn sich aus den Aufzeichnungen bestimmte Tatsachen ergeben, die den konkreten Verdacht der Planung oder Begehung einer der genannten Straftaten begründen. Dementsprechend kommt bis zur Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde eine Auswertung erlangter Informationen nur in Betracht, wenn diese Voraussetzung vorliegt. Durch die Einschränkung wird die Verbrechensbekämpfung gegenüber dem früheren Rechtszustand nicht zusätzlich erschwert. Hat die Verfassungsbeschwerde keinen Erfolg, so ist die durch den Erlaß der einstweiligen Anordnung entstehende Informationslücke schließbar, während die Nachteile für die von der Auswertung und ihren Folgen Betroffenen großenteils nicht mehr reversibel sind.
c) Blieben die Bestimmungen über die Übermittlungsbefugnisse des Bundesnachrichtendienstes in § 3 Abs. 5 G 10 und über die Auswertungs- und Verwendungsbefugnisse der datenempfangenden Stellen in § 3 Abs. 7 und 3 G 10 in Kraft und hätte die Verfassungsbeschwerde in der Hauptsache Erfolg, wären von den ausgewerteten Aufzeichnungen diejenigen übermittelt worden, die aus der Sicht des BND zur Erfüllung der Aufgaben des Empfängers für

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die in § 3 Abs. 3 G 10 genannten Zwecke erforderlich sind. Die Tatbestandsvoraussetzungen der Übermittlungsbefugnis bleiben hinter den strafprozessualen Anforderungen an das Bestehen eines Verdachts und auch hinter den Voraussetzungen des Einsatzes vergleichbar intensiv eingreifender Ermittlungsmethoden wie der Überwachung des Fernmeldeverkehrs nach § 100 a StPO zurück. Daher kann man davon ausgehen, daß eine erhebliche Zahl von Aufzeichnungen übermittelt und zugleich zahlreiche Grundrechtsträger betroffen sein werden, gegen die keine konkreten Verdachtsgründe vorliegen. Die übermittelten Daten werden von der Empfängerbehörde zur Kenntnis genommen. Soweit die Daten nicht vernichtet werden, richtet sich die weitere Verwendung nach § 3 Abs. 3 G 10 und den Bestimmungen des einschlägigen Gesetzes. Zu rechnen ist jedenfalls mit weiteren Ermittlungsmaßnahmen, die erhebliche Nachteile mit sich bringen können. Darüber hinaus wird bereits die Befürchtung der Grundrechtsträger, daß Aufzeichnungen ihrer Fernmeldeverkehre weitergeleitet, ausgewertet und zum Anlaß strafrechtlicher Ermittlungen - unter Umständen auch gegen dritte Personen, die Kommunikationsthema waren - genommen werden könnten, Kommunikationsstörungen und Verhaltensanpassungen hervorrufen.
Würde der Vollzug dieser Regelungen vorläufig ausgesetzt, erwiese sich die Verfassungsbeschwerde aber später als unbegründet, würden die aus Sicht des Bundesnachrichtendienstes zur Erfüllung der Aufgaben des Empfängers erforderlichen Aufzeichnungen nicht übermittelt und nicht von der Empfängerbehörde überprüft und gegebenenfalls zur Verhinderung, Aufklärung oder Verfolgung der in § 3 Abs. 3 G 10 bezeichneten Straftaten verwendet. Die Empfängerbehörde könnte von den im Gesetz vorgesehenen zusätzlichen Informationsquellen vorübergehend keinen Gebrauch machen. Ihre bisher schon bestehenden Ermittlungsbefugnisse wären davon unbeeinträchtigt. Nachträgliche Übermittlungen kämen in vielen Fällen aber voraussichtlich zu spät, um anstehende Straftaten zu verhindern. Aufklärung und Verfolgung könnten zumindest erschwert sein. Eignung und Relevanz der Datenübermittlungen vorausgesetzt, würden dadurch Sicherheitsbelange in einem Maße beein

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trächtigt, das nach der jeweiligen Straftat variiert. Der Katalog des § 3 Abs. 3 G 10 umfaßt hochrangige Rechtsgüter und Sicherheitsinteressen gravierender Art, geht aber über diesen Bereich hinaus. Bei einer Reihe von Straftatbeständen könnten die Sicherheitsbelange der Bundesrepublik insgesamt und unter bestimmten Voraussetzungen auch das außenpolitische Ansehen der Bundesregierung beeinträchtigt werden.
Wägt man die Folgen ab, überwiegen die Nachteile der Anordnungsablehnung in den Fällen, in denen Aufzeichnungen der datenempfangenden Behörde übermittelt werden, ohne daß ein in der erforderlichen Weise gesicherter Verdacht der Planung oder Begehung der aufgezählten Straftaten gegeben ist. Die im Rahmen der verdachtslosen Überwachung aufgezeichneten grundrechtsgeschützten Kommunikationen würden ohne hinreichend schützende Anforderungen einer zusätzlichen Kenntnisnahme und Auswertung durch andere Stellen ausgesetzt. Insoweit ist auch zu berücksichtigen, daß die Strafprozeßordnung noch nicht hinreichend an die aus dem Volkszählungsurteil (BVerfGE 65, 1) folgenden Vorgaben angepaßt worden ist. Würden in einer nicht unbedeutenden Anzahl von Fällen Ermittlungsmaßnahmen und Informations- und Datenverarbeitungsvorgänge aufgrund von Verdachtsanhaltspunkten erfolgen, die sich im Ergebnis als strafrechtlich irrelevant erwiesen, wären Beeinträchtigungen der Grundrechtsträger zu besorgen, ohne daß dem ein ins Gewicht fallender Nutzen auf seiten der Sicherheitsbelange gegenüberstünde. Kommunikationsstörungen und Verhaltensanpassungen, die auf der Befürchtung einer Überwachung mit nachfolgender strafrechtlicher Verwertung beruhen, werden um so eher eintreten und um so gravierender sein, je mehr die Grundrechtsträger befürchten müssen, daß Aufzeichnungen ihrer Kommunikationen auch ohne eine zureichende Verdachtsschwelle übermittelt und ausgewertet werden. Ein Überwiegen der Sicherheitsbelange kann im Rahmen der hier zu treffenden Abwägung nur dann angenommen werden, wenn sich aus den Aufzeichnungen bestimmte Tatsachen ergeben, die den Verdacht der Planung oder Begehung einer der genannten Straftaten begründen. Eine solche Schwelle entspräche den Tatbestandsvoraussetzungen des § 100 a

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StPO, die von ihrem Sinn her im Rahmen der hier zu treffenden vorläufigen Regelung übertragbar sind.
d) Bliebe der Ausschluß der Mitteilungspflicht in § 3 Abs. 8 G 10 in Kraft und hätte die Verfassungsbeschwerde im Hauptsacheverfahren Erfolg, wären den Grundrechtsträgern die Beschränkung des Fernmeldegeheimnisses entweder nur unter der Voraussetzung, daß eine Gefährdung des Zwecks der Beschränkung oder der Verwendung ausgeschlossen ist, oder gar nicht mitgeteilt worden. Mangels Kenntnis könnten die Betroffenen ihre gegenüber der jeweiligen staatlichen Stelle nach Maßgabe des einschlägigen Gesetzes bestehenden Rechte nicht geltend machen. Darüber hinaus könnten sie den Rechtsweg nicht beschreiten. Eine Mitteilung könnte unter Umständen im Falle eines Erfolgs der Verfassungsbeschwerde nachgeholt werden.
Würde der Vollzug der Mitteilungsbeschränkung nach § 3 Abs. 8 Satz 1 G 10 vorläufig ausgesetzt, erwiese sich die Verfassungsbeschwerde aber später als unbegründet, wäre den Betroffenen die Beschränkung mitgeteilt worden. Aus den Mitteilungen könnten unter Umständen Anhaltspunkte für die Arbeitsweise des BND und für die konkreten Beobachtungsfelder und -methoden gewonnen werden. Eine solche Offenlegung wäre auch im Falle der späteren Zurückweisung der Verfassungsbeschwerde irreversibel. Die Außervollzugsetzung der in § 3 Abs. 8 Satz 2 G 10 vorgesehenen Mitteilungsbeschränkung bei sofortiger Vernichtung könnte zur Folge haben, daß personenbezogene Daten de facto länger aufbewahrt werden; als weiterer Nachteil käme die verwaltungsmäßige Belastung in Betracht.
Wägt man die Folgen ab, wiegen die Nachteile, die bei einer Ablehnung der einstweiligen Anordnung eintreten, in den Fällen weniger schwer, in denen durch die Mitteilung der Zweck der Überwachung oder der Verwendung der Daten gefährdet würde, insbesondere eine Offenlegung der konkreten Beobachtungsfelder und -methoden des BND zu befürchten wäre. Die Zweckgefährdungen oder Offenlegungen wären auch bei späterer Zurückweisung der Verfassungsbeschwerde nicht mehr rückgängig zu machen, während eine Mitteilung - bei Erfolg der Verfassungsbeschwerde - möglicherwei

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se nachgeholt werden könnte. In den von § 3 Abs. 8 Satz 2 G 10 erfaßten Fällen läßt sich nicht feststellen, daß die mit der Aussetzung verbundenen Nachteile diejenigen Nachteile überwiegen, die eintreten, wenn das Gesetz vorläufig weiter angewendet wird. Angesichts des strengen Prüfungsmaßstabs kann unter diesen Umständen eine einstweilige Anordnung insoweit nicht ergehen.
Henschel, Seidl, Grimm, Söllner, Kühling, Seibert, Jaeger, Haas