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Bearbeitung, zuletzt am 15.03.2020, durch: Sabiha Akagündüz, A. Tschentscher | |||
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37. Auszug aus dem Urteil der II. öffentlichrechtlichen Abteilung vom 30. September 1994 i.S. B. gegen Eidgenössisches Justiz- und Polizeidepartement (Verwaltungsgerichtsbeschwerde) | |
Regeste |
Art. 100 lit. b Ziff. 3 OG und Art. 8 Ziff. 1 EMRK; Zulässigkeit der Verwaltungsgerichtsbeschwerde gegen die Verweigerung der Zustimmung zu einer Aufenthaltsbewilligung an einen Ausländer. |
Kriterien für die Bemessung der Abhängigkeit eines Jugendlichen von seiner Halbschwester; Festlegung des massgeblichen Zeitpunkts (E. 1e-f). |
Anwendung dieser Kriterien auf den zu beurteilenden Fall (E. 2). | |
Sachverhalt | |
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Am 2. September 1991 stellte L. ein Gesuch um Niederlassungsbewilligung für ihren 1975 geborenen Halbbruder philippinischer Staatsangehörigkeit, B. Sie machte geltend, ihre gemeinsame Mutter, bei welcher B. auf den Philippinen gelebt habe, sei am 17. März 1990 gestorben. Seither sei er auf sich allein gestellt gewesen, bis er am 21. Juli 1991 mit einem Besuchervisum zu ihr in die Schweiz gekommen sei. Ausser ihr habe er keine weiteren Verwandten, welche für seine Erziehung und Ausbildung sorgen könnten. Sie selbst sei dazu bereit. Das Gesuch wurde am 6. November 1991 von der Fremdenpolizei des Kantons Bern und auf Beschwerde hin am 13. Mai 1992 von der Polizeidirektion des Kantons Bern abgewiesen.
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Mit Urteil vom 21. Dezember 1992 hiess das Verwaltungsgericht des Kantons Bern eine dagegen gerichtete Beschwerde gestützt auf Art. 8 der Europäischen Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK; SR 0.101) gut und wies die Fremdenpolizei an, B. eine Aufenthaltsbewilligung zu erteilen. Gleichzeitig wies es das Bundesamt für Ausländerfragen an, der Bewilligung in Anwendung von Art. 18 Abs. 3 des Bundesgesetzes vom 26. März 1931 über Aufenthalt und Niederlassung der Ausländer (ANAG; SR 142.20) zuzustimmen.
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Mit Verfügung vom 25. Februar 1993 verweigerte das Bundesamt seine Zustimmung zur Aufenthaltsbewilligung und setzte B. eine Frist zum Verlassen der Schweiz. Eine Beschwerde an das Eidgenössische Justiz- und Polizeidepartement blieb erfolglos.
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Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde vom 7. September 1993 an das Bundesgericht stellt B. folgende Anträge:
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"1. Der angefochtene Entscheid sei aufzuheben.
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2. Die Zustimmung zu der dem Beschwerdeführer vom
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Kanton Bern erteilten Aufenthaltsbewilligung sei zu erteilen.
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Das Bundesamt für Ausländerfragen sei anzuweisen, die Zustimmung zu
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der vom Kanton Bern erteilten Aufenthaltsbewilligung zu erteilen."
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In seiner Vernehmlassung vom 22. September 1993 schliesst das Departement auf Abweisung der Beschwerde, soweit darauf einzutreten sei.
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Mit Verfügung vom 4. Oktober 1993 gestattete der Präsident der II. öffentlichrechtlichen Abteilung des Bundesgerichts B. die Anwesenheit in der Schweiz für die Dauer des bundesgerichtlichen Verfahrens.
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Aus den Erwägungen: | |
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b) Der Beschwerdeführer macht zu Recht nicht geltend, ein solcher Anspruch ergebe sich aus dem Landesrecht. Insbesondere sieht weder Art. 7 noch Art. 17 Abs. 2 ANAG ein Nachzugsrecht von Schweizern oder allenfalls von niedergelassenen Ausländern für ihre ausländischen Geschwister oder Halbgeschwister vor. Liess sich aus Art. 17 Abs. 2 ANAG aus Rechtsgleichheitsgründen ableiten, dass Schweizern gleichermassen wie niedergelassenen Ausländern erlaubt sein muss, ihre Kinder in die Schweiz nachzuziehen (BGE 118 Ib 153 E. 1b), so findet sich im Gesetz kein Tatbestand, der mit der Sachlage im vorliegenden Fall in rechtsgenüglicher Weise vergleichbar wäre.
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c) Hingegen leitet der Beschwerdeführer ein Anwesenheitsrecht aus Art. 8 Ziff. 1 EMRK her. Diese Bestimmung garantiert den Schutz des ![]() | 16 |
Ein möglicher Gesichtspunkt für die Unversehrtheit einer Beziehung ist, ob die nahen Familienangehörigen vor der Einreise in die Schweiz in Hausgemeinschaft gelebt haben. Ein zwingendes Erfordernis kann dies allerdings nicht sein, wäre doch sonst der Nachzug eines im Ausland verbliebenen Angehörigen von vornherein ausgeschlossen. Entscheidend sind somit nicht nur die früheren familiären Verhältnisse, sondern auch die durch neue Umstände bedingten und sich künftig abzeichnenden Beziehungen. Dies ist - nicht anders als bei der Anwendung von Art. 17 Abs. 2 ANAG (vgl. dazu BGE 118 Ib 153 E. 2b) - insbesondere der Fall, wenn sich, zum Beispiel wegen des Todes der Eltern oder bei neu aufgekommenen Pflegebedürfnissen, die familiären Abhängigkeiten ändern.
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d) Grundsätzlich ist der Schutzbereich von Art. 8 EMRK nicht auf die Kernfamilie beschränkt. Er erfasst vielmehr die Beziehung zwischen allen nahen Verwandten, die in der Familie eine wesentliche Rolle spielen können. Als solchermassen erweitertes Familienleben haben die Organe der Europäischen Menschenrechtskonvention das Verhältnis von Grosseltern sowie Enkeln und Enkelinnen, zwischen Onkeln und Tanten sowie Nichten und Neffen und insbesondere auch zwischen Geschwistern anerkannt (STEPHAN BREITENMOSER, Der Schutz der Privatsphäre gemäss Art. 8 EMRK, Basel/Frankfurt a.M. 1986, S. 109 f.; ACHIM BRÖTEL, Der Anspruch auf Achtung des Familienlebens, Baden-Baden 1991, S. 51; PETER MOCK, Mesures de police des étrangers et respect de la vie privée et familiale, in: ZSR 112 I/1993, S. 100; MARTINA PALM-RISSE, Der völkerrechtliche Schutz von Ehe und Familie, Berlin 1990, S. 209 f.; KASPAR TRAUB, Familiennachzug im Ausländerrecht, Diss. Basel 1992, S. 32; LUZIUS WILDHABER, Internationaler Kommentar zur Europäischen ![]() | 18 |
Das heisst nun aber nicht, dass in diesen Fällen immer ein Anspruch auf fremdenpolizeiliche Bewilligungen für die jeweiligen Angehörigen besteht. Das Bundesgericht hat als familiäre Beziehung, welche gestützt auf Art. 8 EMRK einen solchen Anspruch verschaffen könnte, vor allem die Beziehung zwischen Ehegatten sowie zwischen Eltern und minderjährigen Kindern anerkannt, welche im gemeinsamen Haushalt leben. Geht es um Personen, die nicht der eigentlichen Kernfamilie zuzurechnen sind, setzt eine schützenswerte familiäre Beziehung - in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung der Strassburger Organe (BREITENMOSER, S. 110; BRÖTEL, S. 51; MOCK, S. 100; PALM-RISSE, S. 209 f.; WILDHABER, Rz. 389) - voraus, dass der um die fremdenpolizeiliche Bewilligung ersuchende Ausländer vom hier Anwesenheitsberechtigten abhängig ist (BGE 115 Ib 1 E. 2). Unter dieser Voraussetzung muss gegebenenfalls auch die Beziehung zwischen Halbgeschwistern als von Art. 8 EMRK geschützt gelten. Dies kann namentlich zutreffen, wenn ein Erwachsener anstelle der Eltern für einen unselbständigen Geschwisterteil die Betreuung und Fürsorge und damit eigentlich die Elternrolle übernimmt.
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e) Die Abhängigkeit eines Menschen von einem andern steht im Gegensatz zu seiner erlangten Selbständigkeit. Sie kann sich unabhängig vom Alter namentlich aus besonderen Betreuungs- oder Pflegebedürfnissen wie bei körperlichen oder geistigen Behinderungen und schwerwiegenden Krankheiten ergeben (vgl. BGE 115 Ib 1). Liegen keine solchen Umstände vor, hängt sie regelmässig vom Alter beziehungsweise Entwicklungsstand der betreffenden Person ab. Je kleiner ein Kind ist, desto mehr bedarf es der Fürsorge einer erwachsenen Person. Bei Jugendlichen kommt es dagegen wesentlich auf ihre Reife an. Mit zunehmendem Alter und wachsender Persönlichkeitsentwicklung verringert sich die Abhängigkeit von den sie betreuenden Familienangehörigen. Die massgebliche Grenze ist von Fall zu Fall zu bestimmen. Bei Erreichen eines gewissen Alters kann jedoch gemeinhin von einer genügenden Selbständigkeit ausgegangen werden, sodass es sich bei Überschreiten dieser Limite rechtfertigt, nur unter besonderen Umständen eine massgebliche Abhängigkeit anzunehmen.
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Das Bundesgericht hatte bereits einmal über die Abhängigkeit einer Frau von ihren Eltern zu entscheiden, welche das 18. Lebensjahr überschritten hatte ![]() | 21 |
f) Fraglich ist, welcher Zeitpunkt bei der Prüfung eines Abhängigkeitsverhältnisses massgeblich ist. Grundsätzlich muss eine Verwaltungsgerichtsbeschwerde im Zeitpunkt ihrer Einreichung zulässig sein; nicht ausgeschlossen ist unter Umständen eine allfällige nachträgliche Heilung (BGE 118 Ib 145 E. 2b). Hingegen vermag die frühere, aber vor Beschwerdeeinreichung weggefallene Beschwerdemöglichkeit nicht eine spätere Zulässigkeit zu begründen. Die Zulässigkeit einer Beschwerde kann sich im Verlauf der Zeit auch ändern und damit davon abhängen, wann der Fall vor Bundesgericht getragen beziehungsweise allenfalls wann er vom Bundesgericht behandelt wird (BGE 118 Ib 145 E. 5 S. 152 f.). In Anwendung dieser Grundsätze stellt das Bundesgericht bei der Zulässigkeitsprüfung im Fremdenpolizeirecht regelmässig auf die aktuellen tatsächlichen und rechtlichen Umstände ab (BGE BGE 118 Ib 145 E. 2).
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Die Rechtsprechung macht jedoch eine Ausnahme für die Altersfrage beim Nachzug von Kindern in Anwendung von Art. 17 Abs. 2 ANAG, wo es auf den Zeitpunkt der Gesuchseinreichung ankommt (BGE 118 Ib 153 E. 1b). Diese Ausnahme rechtfertigt sich, weil diesfalls die Erteilung einer Niederlassungsbewilligung in Frage steht, das heisst die Anwesenheit wird ![]() | 23 |
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b) Der Beschwerdeführer war im Zeitpunkt des Todes seiner Mutter 15 und bei Gesuchseinreichung auch erst rund 16 Jahre alt. Wie sowohl das Verwaltungsgericht des Kantons Bern als auch die Vorinstanz übereinstimmend feststellten, konnte der Beschwerdeführer noch nicht für sich allein sorgen. Die Halbschwester ist unmittelbar nach dem Tod der Mutter auf die Philippinen gereist, um sich persönlich um ihren Halbbruder zu kümmern. Andere Angehörige standen dafür nicht zur Verfügung. Von einem sofortigen Nachzug in die Schweiz wurde damals abgesehen, weil die Halbschwester hier selber von öffentlichen Unterstützungsleistungen abhängig war. Hingegen organisierte sie für den Halbbruder eine minimale Grundbetreuung durch eine lokale Familie. Nachdem diese aber im Dezember 1990 aus dem gemeinsamen ![]() | 25 |
Im Dezember 1992, als der Beschwerdeführer bereits mehr als 17 Jahre alt war, hat das Verwaltungsgericht des Kantons Bern noch festgehalten, dieser mache gemessen an seinem Alter einen recht kindlichen Eindruck und brauche den Rückhalt bei einem vertrauten Menschen. Bei Einreichung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde an das Bundesgericht war der Beschwerdeführer aber bereits 18jährig; inzwischen hat er gar das 19. Lebensjahr überschritten. Auch wenn das Verwaltungsgericht des Kantons Bern dem Beschwerdeführer eine Anwesenheitsbewilligung nur für die Dauer der Minderjährigkeit erteilen zu wollen scheint und dieser sowohl nach schweizerischem wie auch nach philippinischem Recht, nach welchem die Volljährigkeit mit vollendetem 21. Lebensjahr eintritt (vgl. ALEXANDER BERGMANN/MURAD FERID, Internationales Ehe- und Kindschaftsrecht, Philippinen, 114. Lieferung, Frankfurt 1993, S. 21 und 43), noch nicht mündig ist, hat er doch bereits vor Einreichung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde an das Bundesgericht die Grenze von 18 Jahren überschritten. Er befindet sich somit in einem Alter, in welchem gemeinhin eine weitgehende Selbständigkeit erreicht wird.
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Wohl mag der Beschwerdeführer noch auf eine gewisse Unterstützung durch seine Halbschwester angewiesen sein. In seinem Alter sind Jugendliche in der Regel jedoch in persönlicher Hinsicht genügend gereift, um selbständig leben zu können. Häufig wohnen sie denn auch getrennt von ihrer Familie und üben die persönlichen Kontakte auf Distanz oder durch gegenseitige Besuche aus. Es ist nicht ersichtlich, weshalb nicht auch der Beschwerdeführer, der sich nunmehr im entsprechenden Alter befindet, sich sollte verselbständigen können. Allfällige finanzielle Unterstützung kann die Halbschwester von der Schweiz aus gewähren. Die üblichen persönlichen Beziehungen zwischen Geschwistern lassen sich durch briefliche und telefonische Kontakte sowie durch gelegentliche gegenseitige Besuche aufrechterhalten. Es ist auch nicht zu erwarten, dass die Behörden solche Kontakte durch ![]() | 27 |
c) Daraus ergibt sich, dass die Beziehung zwischen dem Beschwerdeführer und seiner Halbschwester unabhängig davon, ob es auf den Zeitpunkt der Einreichung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde oder der Urteilsfällung durch das Bundesgericht ankommt, nicht mehr unter dem Schutz von Art. 8 EMRK steht.
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