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Bearbeitung, zuletzt am 15.03.2020, durch: Sabiha Akagündüz, A. Tschentscher | |||
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53. Auszug aus dem Urteil der II. öffentlichrechtlichen Abteilung vom 15. Dezember 1999 i.S. S. gegen Departement für Justiz und Sicherheit sowie Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau (Verwaltungsgerichtsbeschwerde) | |
Regeste |
Art. 10 Abs. 1 lit. a ANAG und Art. 11 Abs. 3 ANAG in Verbindung mit Art. 16 Abs. 3 ANAV; Art. 100bis StGB; Art. 8 EMRK; fremdenpolizeiliche Ausweisung eines Ausländers, der durch Strafurteil in eine Arbeitserziehungsanstalt eingewiesen wurde. |
Der Ausweisungsgrund von Art. 10 Abs. 1 lit. a ANAG setzt einen gerichtlichen Schuldspruch wegen eines Verbrechens oder Vergehens voraus; ob es sich bei der im Strafurteil ausgesprochenen Sanktion um eine Strafe oder um eine Massnahme handelt, ist unerheblich (E. 3). |
Vereinbarkeit der Ausweisung mit dem Landesrecht (E. 4) und dem in Art. 8 EMRK garantierten Anspruch auf Achtung des Privat- und Familienlebens (E. 5). | |
Sachverhalt | |
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Am 22. Januar 1998 überwies der zuständige Untersuchungsrichter S. wegen verschiedener Delikte, begangen in der Zeit von 1995 bis 1997, dem Kantonsgericht St. Gallen zur gerichtlichen Beurteilung. Bezug nehmend auf das ihm im Überweisungsbeschluss zur Last gelegte Verhalten verfügte die Fremdenpolizei des Kantons Thurgau am 27. Oktober 1998 die Ausweisung von S. aus der Schweiz für die Dauer von zehn Jahren. Gegen diese Verfügung legte S. Rekurs ein.
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Mit Urteil vom 10. November/8. Dezember 1998 sprach das Kantonsgericht St. Gallen S. des einfachen und des mehrfach qualifizierten Raubes, der versuchten Erpressung, der einfachen Körperverletzung, des einfachen und bandenmässigen Diebstahls, der mehrfachen Sachbeschädigung, der versuchten Nötigung und der mehrfachen Widerhandlung gegen das Betäubungsmittelgesetz schuldig und wies ihn gemäss Art. 100bis StGB in eine Arbeitserziehungsanstalt ein. Das Urteil erwuchs in Rechtskraft.
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In Abweisung seines Rekurses bestätigte das Departement für Justiz und Sicherheit des Kantons Thurgau am 8. Februar 1999 die Ausweisung von S. Eine gegen diesen Entscheid erhobene Beschwerde wies das Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau am 19. Mai 1999 ab.
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Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab.
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Aus den Erwägungen: | |
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Ob die Ausweisung im Sinne der Art. 11 Abs. 3 ANAG und Art. 16 Abs. 3 ANAV "angemessen", d.h. verhältnismässig sei, ist eine Rechtsfrage, die vom Bundesgericht im Verfahren der Verwaltungsgerichtsbeschwerde frei überprüft werden kann (Art. 104 lit. a OG). Dem Bundesgericht ist es jedoch verwehrt, sein eigenes Ermessen - im Sinne einer Überprüfung der Zweckmässigkeit (Opportunität; vgl. BGE 116 Ib 353 E. 2b S. 356 f.) der Ausweisung - an die Stelle desjenigen der zuständigen kantonalen Behörde zu setzen (BGE 125 II 105 E. 2a S. 107; BGE 114 Ib 1 E. 1b S. 2).
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b) Je länger ein Ausländer in der Schweiz anwesend war, desto strengere Anforderungen sind grundsätzlich an die Anordnung einer Ausweisung zu stellen. Zu berücksichtigen ist auch, in welchem Alter der Ausländer in die Schweiz eingereist ist. Selbst bei einem Ausländer, der bereits hier geboren ist und sein ganzes bisheriges Leben in der Schweiz verbracht hat (Ausländer der "zweiten Generation"), ist eine Ausweisung nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung aber nicht ausgeschlossen (BGE 122 II 433 E. 2 ![]() | 9 |
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Sodann ist gemäss Art. 10 Abs. 1 lit. a ANAG erforderlich, dass der Ausländer "gerichtlich bestraft wurde". Der Beschwerdeführer schliesst daraus, der erwähnte Ausweisungsgrund sei nur dann gegeben, wenn das Strafgericht als Sanktion eine Strafe (allein oder in Verbindung mit einer Massnahme) ausgesprochen, nicht jedoch dann, wenn es - wie hier - nur eine Massnahme angeordnet habe.
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b) Die Einweisung eines jungen Erwachsenen in eine Arbeitserziehungsanstalt erfolgt anstelle einer Strafe (Art. 100bis Ziff. 1 StGB). Dieses monistische System wurde dem sonst im Erwachsenenstrafrecht vorherrschenden dualistisch-vikariierenden System, wonach die beiden Sanktionen nebeneinander ausgesprochen werden, im Vollzug aber die Massnahme an die Stelle der Strafe tritt, anlässlich der Teilrevision des Strafgesetzbuches von 1971 vorgezogen (vgl. BBl 1965 I 598 f.; ferner: GÜNTER STRATENWERTH, Schweizerisches Strafrecht, Allgemeiner Teil II, Bern 1989, § 13N. 27). Es stellt sich folglich die Frage, ob Art. 10 Abs. 1 lit. a ANAG auch anwendbar ist, wenn ein Ausländer "lediglich" einer monistischen Massnahme unterworfen wurde.
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bb) Der heutige Wortlaut von Art. 10 Abs. 1 lit. a ANAG geht auf eine Gesetzesänderung vom 8. Oktober 1948 (in Kraft seit 21. März 1949) zurück (vgl. Botschaft in BBl 1948 I 1297 f.), fand sich aber bereits in der gleichen Bestimmung der ursprünglichen Fassung vom 26. März 1931 (damals noch zusammen mit einem weiteren Ausweisungsgrund; vgl. AS 1933 279). Der Gesetzgeber beabsichtigte mit dieser Umschreibung, die Voraussetzungen der Ausweisung in dem Sinne zu objektivieren, als nicht mehr - wie bis anhin - jede moralische Beanstandung eines Ausländers genügen sollte, sondern fortan ein Rechtsbruch vorliegen musste (vgl. Botschaft in BBl 1929 I 919). Dass Art. 10 Abs. 1 lit. a ANAG durch die zuständigen kantonalen Behörden in der Rechtsanwendung unterschiedlich ausgelegt werden könnte, nahm der Gesetzgeber dabei bewusst in Kauf. Der nationalrätliche Berichterstatter wies in diesem Zusammenhang allerdings darauf hin, dass es zu weit gehen würde, die Voraussetzungen der Ausweisung gemäss Art. 10 Abs. 1 lit. a ANAG bereits dann zu bejahen, wenn bei einem Antragsdelikt der Antrag zurückgezogen wurde, die materielle Strafnorm jedoch gleichwohl übertreten worden war (Sten.Bull. 1930 N 613). Vorausgesetzt wird folglich ein in einem (Straf-)Urteil ausgewiesener Rechtsbruch. Kein solcher Rechtsbruch sollte hingegen gemäss Art. 10 Abs. 1 lit. b ANAG (heute lit. c) erforderlich sein bei Geisteskranken, die die öffentliche Ordnung gefährden, hingegen "nicht bestraft, aber auch nicht immer interniert werden können" (vgl. Botschaft in BBl 1929 I 919). Aus der Notwendigkeit der Statuierung dieses gesonderten Ausweisungsgrundes für Unzurechnungsfähige, bei denen mangels Schuldfähigkeit stets ein Freispruch zu erfolgen hat (statt vieler: GÜNTER STRATENWERTH, Schweizerisches Strafrecht, Allgemeiner Teil I, 2. Auflage, Bern 1996, § 11 N. 29), kann abgeleitet werden, dass nach dem Willen des Gesetzgebers die Voraussetzungen für den Ausweisungsgrund gemäss ![]() | 14 |
cc) Obschon es für die Einweisung in eine Arbeitserziehungsanstalt keine Rolle spielt, wie hoch die schuldangemessene Strafe gewesen wäre (BGE 118 IV 351 E. 2d S. 356 f.), wird immerhin vorausgesetzt, dass die zu beurteilenden Straftaten überhaupt zu einer Strafe geführt hätten. Demnach bedingt die Anordnung dieser Massnahme das Vorliegen sämtlicher Voraussetzungen der Strafbarkeit bzw. das Fehlen von Rechtfertigungs- und Schuldausschlussgründen (JÖRG REHBERG, Strafrecht II, 6. Auflage, Zürich 1994, S. 141 f.; STRATENWERTH, Allgemeiner Teil II, a.a.O., § 13 N. 7), mithin - wie vorliegend - einen Schuldspruch.
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d) Nach dem Gesagten ergibt sich, dass der Ausweisungsgrund von Art. 10 Abs. 1 lit. a ANAG auch bei einer (monistisch angeordneten) Einweisung in eine Arbeitserziehungsanstalt gemäss Art. 100bis StGB zur Anwendung kommen kann. Die Voraussetzungen dieses Ausweisungsgrundes sind vorliegend erfüllt. Wie sich aus den nachfolgenden Erwägungen zum Verschulden des Beschwerdeführers ergibt, greift zudem subsidiär der Ausweisungsgrund von Art. 10 Abs. 1 lit. b ANAG Platz.
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4. a) aa) Hinsichtlich der Schwere des Verschuldens ist vorab festzuhalten, dass der Beschwerdeführer u.a. wegen Delikten gegen die körperliche Integrität sowie wegen Widerhandlungen gegen das ![]() | 17 |
bb) Fremdenpolizeilich fällt ferner ins Gewicht, dass sich der Beschwerdeführer, obwohl er in den Jahren 1996 und 1997 mehrmals in Untersuchungshaft versetzt worden war und ihm damit die Schwere seines deliktischen Verhaltens bewusst sein musste, nicht von weiteren Straftaten hat abhalten lassen. Selbst kurz nach Erlass der Überweisungsverfügung vom 22. Januar 1998 musste der Beschwerdeführer erneut zweimal polizeilich verzeigt werden. Das psychiatrische Gutachten geht denn auch von einer bestehenden ![]() | 18 |
Nach dem Gesagten besteht ein gewichtiges öffentliches Interesse, den Beschwerdeführer von der Schweiz fernzuhalten.
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b) Den öffentlichen Interessen sind die privaten Interessen des Beschwerdeführers an einem Verbleib in der Schweiz gegenüberzustellen. Der Beschwerdeführer reiste 1990 in seinem dreizehnten Lebensjahr in die Schweiz ein. Seine Hauptbezugspersonen, seine Eltern und ein Bruder, leben ebenfalls in der Schweiz. Der Beschwerdeführer trägt vor, nur noch wenige Kontakte zu seinem Heimatland zu pflegen; die näheren Verwandten sowie sämtliche Freunde und Bekannte lebten in der Schweiz. Die Ausweisung in sein Heimatland würde den Beschwerdeführer folglich hart treffen. Zu berücksichtigen ist andererseits, dass der Beschwerdeführer nicht in der Schweiz geboren ist, sondern sich erst seit neun Jahren hier aufhält (wovon nunmehr ein Jahr im Massnahmenvollzug), weshalb er nicht als Ausländer der "zweiten Generation" einzustufen ist (vgl. BGE 122 II 433 E. 2c S. 436). Er ist seit 1995 immer wieder straffällig geworden; von einem den schweizerischen Verhältnissen angepassten Leben kann damit kaum gesprochen werden.
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c) Nach dem Gesagten überwiegt das sicherheitspolizeiliche Interesse an der Entfernung und Fernhaltung des Beschwerdeführers sein privates Interesse, in der Schweiz bleiben zu können. Die Ausweisung erweist sich als verhältnismässig; sie bildet namentlich nicht eine zu einschneidende Massnahme, welche der blossen Androhung einer Ausweisung hätte weichen müssen.
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5. Der Beschwerdeführer kann auch aus dem in Art. 8 Ziff. 1 EMRK garantierten Anspruch auf Achtung des Privat- und Familienlebens nichts zu seinen Gunsten ableiten. Er ist heute über 18 Jahre alt und ein besonderes Abhängigkeitsverhältnis liegt nicht vor, weshalb er sich nicht mehr auf die Bindung zur elterlichen Familie berufen kann (vgl. BGE 120 Ib 257 E. 1e S. 261 f.). Ob darüber hinaus ein Eingriff in das Recht auf Achtung des Privatlebens vorliegt (vgl. BGE 122 II 433 E. 3b S. 439 ff. mit Hinweisen; STEPHAN BREITENMOSER, Das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens in der Schweizer Rechtsprechung zum Ausländerrecht, in: EuGRZ 1993, S. 542; MARK E. VILLIGER, Handbuch der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK), 2. Auflage, Zürich 1999, N. 576 und 583), kann offen bleiben, wäre ein solcher doch vorliegend gemäss Art. 8 Ziff. 2 EMRK gerechtfertigt: Der angefochtene Entscheid stützt sich auf Art. 10 ANAG und verfügt damit über eine gesetzliche Grundlage im Landesrecht. Er bezweckt die Aufrechterhaltung der hiesigen Ordnung sowie die Verhinderung weiterer strafbarer Handlungen und verfolgt damit öffentliche Interessen, die in Art. 8 Ziff. 2 EMRK ausdrücklich genannt sind. Schliesslich erweist er sich - wie bereits im Zusammenhang mit Art. 11 Abs. 3 ANAG ausgeführt wurde (vgl. E. 4) - auch als verhältnismässig.
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