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4. Auszug aus dem Urteil der II. öffentlich-rechtlichen Abteilung i.S. A.A. und B.A. gegen Migrationsamt und Sicherheitsdirektion des Kantons Zürich (Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten) |
2C_716/2014 vom 26. November 2015 | |
Regeste |
Art. 24 Anhang I FZA; Art. 16 Abs. 2 FZA; Art. 26 und 27 VRK; Art. 121a BV; Art. 8 EMRK; Verhältnis von Art. 121a BV zum Freizügigkeitsabkommen und seiner bisherigen Auslegung. | |
Sachverhalt | |
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Die Lebensgemeinschaft A.-C. wurde Ende 2004 aufgelöst. In der Folge befand sich A.A. mit ihrem Sohn in einem Frauenhaus bzw. in einer geschützten Mutter-Kind-Institution; am 27. Oktober 2005 bezog sie mit dem Sohn eine eigene Wohnung. Die Aufenthaltsbewilligung von A.A. wurde regelmässig - letztmals bis zum 9. August 2012 - verlängert, obwohl Mutter und Kind auf Sozialhilfeleistungen angewiesen waren.
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Das Migrationsamt des Kantons Zürich verwarnte A.A. im Oktober 2008. Es teilte ihr am 4. Januar 2010 mit, dass dem Verlängerungsgesuch noch einmal entsprochen werde, ein weiterer Aufenthalt indessen voraussetze, dass sie eine existenzsichernde Tätigkeit ausübe und nicht mehr von der Sozialhilfe unterstützt werden müsse. Bis zum August 2012 würden die Sozialhilfeleistungen einen Umfang von knapp Fr. 400'000.- erreichen.
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Am 10. Juni 2013 lehnte das Migrationsamt des Kantons Zürich es ab, die Bewilligung von A.A. zu erneuern. Diese habe über Jahre ![]() | 4 |
Die hiergegen gerichteten kantonalen Rechtsmittel blieben ohne Erfolg. Mit Urteil vom 11. Juli 2014 bestätigte das Verwaltungsgericht des Kantons Zürich den Entscheid des Migrationsamts. Es hielt fest, dass Mutter und Sohn weder aus dem Freizu?gigkeitsabkommen noch aus Art. 8 EMRK etwas zu ihren Gunsten ableiten könnten.
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A.A. hat beim Bundesgericht Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten erhoben und für sich und ihren Sohn im Wesentlichen beantragt, das Urteil des Verwaltungsgerichts des Kantons Zürich aufzuheben und das Migrationsamt anzuweisen, ihre Aufenthaltsbewilligung zu verlängern und von einer Wegweisung abzusehen. A.A. hält in einer weiteren Eingabe fest, sie habe sich konstant darum bemüht, sich von der Sozialhilfe zu lösen, inzwischen beziehe sie gestützt auf ihre Anstellung als Büroassistentin (ab 1. September 2014) keine Sozialhilfeleistungen mehr.
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Das Bundesgericht weist die Beschwerde nach öffentlicher Beratung ab.
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(Zusammenfassung)
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Aus den Erwägungen: | |
Erwägung 3 | |
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Nach Art. 121a BV steuert die Schweiz die Zuwanderung eigenständig (Abs. 1) und wird die Zahl der Bewilligungen für den Aufenthalt von Ausländerinnen und Ausländern durch jährliche Höchstzahlen und Kontingente begrenzt (Abs. 2). Abs. 4 des Verfassungsartikels sieht vor, dass keine völkerrechtlichen Verträge abgeschlossen werden, welche gegen diesen Artikel verstossen. Die Übergangsbestimmung zu Art. 121a BV sieht sodann vor, dass widersprechende völkerrechtliche Verträge innerhalb von drei Jahren neu zu verhandeln und anzupassen sind (Art. 197 Ziff. 11 Abs. 1 BV) sowie dass, sofern die Ausführungsgesetzgebung innert drei Jahren noch nicht in Kraft treten kann, der Bundesrat vorübergehend Ausführungsbestimmungen auf dem Verordnungsweg erlässt (Abs. 2). Die neue Verfassungsbestimmung bedarf damit der Umsetzung durch Verhandlung mit den Vertragsparteien und durch Gesetzgebung. Sie ist im konkreten Streitfall durch den Richter nicht direkt anwendbar.
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3.2 Immerhin liesse sich erwägen, das Abkommen im Lichte der Zielsetzung der Verfassungsbestimmung restriktiv auszulegen oder aber triftige Gründe anzunehmen, welche nahelegen, die Rechtsprechung des EuGH, soweit sie nach dem Unterzeichnungsdatum erfolgt ist, nicht mehr zu befolgen. Völkerrechtliche Verträge sind indes nicht nach Massgabe des innerstaatlichen Rechts auszulegen, sondern nach Treu und Glauben (vgl. Art. 26 und 31 Abs. 1 des Wiener Übereinkommens vom 23. Mai 1969 über das Recht der Verträge [VRK; SR 0.111]), denn keine Vertragspartei kann sich auf ![]() | 12 |
In Übereinstimmung mit Art. 27 VRK gehen in der Rechtsanwendung völkerrechtliche Normen widersprechendem Landesrecht vor (BGE 139 I 16 E. 5.1 S. 28; BGE 138 II 524 E. 5.1 S. 532 f., mit weiteren Hinweisen). Dieser Grundsatz hat lediglich insofern eine Ausnahme erfahren, als der Gesetzgeber bewusst die völkerrechtliche Verpflichtung missachten und insofern auch die politische Verantwortung dafür bewusst tragen wollte (BGE 99 Ib 39 E. 3 und 4 S. 44 f. ["Schubert"]; BGE 138 II 524 E. 5.3.2 S. 534 f.). Diese Ausnahme gilt nicht, wenn menschenrechtliche Verpflichtungen der Schweiz in Frage stehen (BGE 125 II 417 E. 4d S. 425 ["PKK"]; BGE 139 I 16 E. 5.1 S. 28 f.); diesfalls geht die völkerrechtliche Norm der nationalen Regelung auch dann vor, wenn der schweizerische Gesetzgeber sie missachten will. Auch im Zusammenhang mit dem Freizügigkeitsabkommen hat das Bundesgericht entschieden, dass diesem gegenüber bewusst abweichendem Gesetzesrecht der Vorrang zukommt. Das Gericht begründete dies damit, dass das Freizügigkeitsabkommen demokratisch (durch Annahme in der Volksabstimmung) legitimiert sei, dieses den unter das Abkommen fallenden Personen gerichtlichen Rechtsschutz garantiere, was toter Buchstabe bliebe, wenn ![]() | 13 |
Dieses Verständnis des Zusammenhangs zwischen völkerrechtlicher Verpflichtung einerseits und abweichendem Landesrecht liegt überdies Art. 121a BV selbst zugrunde, indem diese Verfassungsbestimmung dazu verpflichtet, erstens keine Verträge mehr abzuschliessen, die im Widerspruch zur von der Verfassungsnorm angestrebten eigenständigen Zuwanderungssteuerung stehen (Staatsangehörige Kroatiens können sich entsprechend nicht auf das FZA berufen: Urteile 2C_1195/2013 vom 4. Juli 2014 E. 4.4; 2C_103/2014 vom 13. Januar 2015 E. 5.5; 2C_128/2015 vom 25. August 2015 E. 3.9), und zweitens bestehende Verträge neu auszuhandeln.
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Erwägung 4 | |
4.1 Die Beschwerdeführer berufen sich auf Art. 3 Abs. 6 Anhang I FZA. Danach dürfen die Kinder eines Staatsangehörigen einer ![]() | 16 |
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In zwei Urteilen vom 23. Februar 2010 hat der EuGH seine Praxis in dem Sinn präzisiert, dass dem Elternteil, der die elterliche Sorge für die Kinder tatsächlich wahrnimmt, ein Anspruch auf Aufenthalt in Anwendung von Art. 12 der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 zukommt, ohne dass dieser von ausreichenden Existenzmitteln abhängig gemacht werden dürfte und der Bezug von Sozialhilfeleistungen ausgeschlossen wäre (Urteile vom 23. Februar 2010 C-310/08 und C-480/08 Ibrahim und Teixeira, Slg. 2010 I-1065 und Slg. 2010 ![]() | 18 |
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4.4 Im hier zu beurteilenden Fall reiste die dominikanische Mutter (bereits) schwanger von Italien her in die Schweiz ein, wo ihr Kind zur Welt gekommen ist und von einem deutschen Arbeitnehmer anerkannt wurde. In der Folge haben die unverheirateten Eltern mit dem Kind zusammengelebt. Das Kind verfügt inzwischen über eine Niederlassungsbewilligung EU/EFTA. Der Vater lebt nach wie vor in der Schweiz und war hier ursprünglich als unselbständig Tätiger aktiv; er hat inzwischen eine neue Familie gegründet. Seinen Unterhaltspflichten dem anerkannten Kind gegenüber ist er - offenbar aus gesundheitlichen Gründen - indessen nur unvollständig nachgekommen. Das deutsche Kind hat im Rahmen von Art. 3 Abs. 6 Anhang I FZA freizügigkeitsrechtlich grundsätzlich einen Anspruch darauf, seine Ausbildung in der Schweiz abschliessen zu können. ![]() | 20 |
Erwägung 5 | |
5.1 Gemäss Art. 24 Abs. 1 Anhang I FZA hat eine Person, welche die Staatsangehörigkeit einer Vertragspartei besitzt und keine Erwerbstätigkeit im Aufenthaltsstaat ausübt, ein Anwesenheitsrecht unter der Voraussetzung, dass sie über ausreichende finanzielle Mittel verfügt, so dass sie nicht auf Sozialhilfe angewiesen und sie überdies krankenversichert ist. Diese Regelung ist der Richtlinie 90/364/EWG des Rates vom 28. Juni 1990 über das Aufenthaltsrecht (ABl. L 180 vom 13. Juli 1990 S. 26 f.) nachgebildet. Anforderungen in Bezug auf die Herkunft der ausreichenden finanziellen Mittel ergeben sich weder aus Art. 24 Abs. 1 Anhang I FZA noch aus Art. 1 Abs. 1 der Richtlinie 90/364/EWG. Der EuGH hat daher entschieden, dass die Bedingung ausreichender finanzieller Mittel nicht dahin ausgelegt werden könne, dass der Betroffene selber über solche Mittel verfügen müsse (Urteile vom 19. Oktober 2004 C-200/02 Zhu und Chen, Slg. 2004 I-9925 Randnrn. 30 und 33; vom 23. März 2006 C-408/03 Kommission gegen Belgien, Slg. 2006 I-2647 Randnrn. 40 und 41); die finanziellen Mittel könnten auch von Familienangehörigen ![]() | 21 |
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Der Entscheid Zhu und Chen stützt sich in seinem Wortlaut sowohl auf die Unionsbürgerschaft als auch auf die von der Schweiz mit dem FZA übernommene Richtlinie 90/364/EWG. Dabei ist zu beachten, dass die Unionsbürgerschaft erst mit dem Vertrag von Maastricht Eingang in das Primärrecht fand. Der Anspruch auf Freizügigkeit ging zu jenem Zeitpunkt sekundärrechtlich bereits über die als Marktfreiheit konzipierte Arbeitnehmerfreizügigkeit hinaus und erfasste aufgrund der schon 1990 erlassenen und von der Schweiz mit dem Abschluss des Freizügigkeitsabkommens inhaltlich übernommenen Richtlinie 90/364/EWG auch den erwerbslosen ![]() | 23 |
5.3 Der Beschwerdeführerin war es in der Vergangenheit über längere Zeit nicht möglich, für ihren Unterhalt und denjenigen des Beschwerdeführers aufzukommen. Teilweise beruht dies auch darauf, dass der Kindsvater seinen Unterhaltspflichten nicht oder unzureichend nachgekommen ist, so dass die Beschwerdeführerin für sich und ihren Sohn insgesamt Leistungen der Sozialhilfe im Umfang von Fr. 394'683.20 beziehen musste. Es liegt bei dieser Sachlage auf der Hand, dass die Voraussetzungen für einen Aufenthaltsanspruch gestützt auf Art. 24 Abs. 1 Anhang I FZA und im Sinne des Urteils Zhu und Chen nicht erfüllt sind. Die Beschwerdeführerin macht allerdings geltend, dass sie heute über eine Anstellung als Büroassistentin (ab 1. September 2014) verfüge, wofür ihr ein gutes Arbeitszeugnis ausgestellt worden sei und sie sich entsprechend aus der Sozialhilfeabhängigkeit habe lösen können. Wie es sich damit verhält, kann im vorliegenden Verfahren nicht geprüft werden, da es sich bei den genannten Vorbringen um unzulässige echte Noven handelt (nicht publ. E. 2.2). Da Aufenthaltsbewilligungen gestützt auf das Freizügigkeitsabkommen keine rechtsbegründende, sondern bloss ![]() | 24 |
Erwägung 6 | |
6.1 Die Beschwerdeführer berufen sich weiter auf Art. 8 EMRK. Die Europäische Menschenrechtskonvention verschafft praxisgemäss keinen Anspruch auf Einreise und Aufenthalt oder auf einen besonderen Aufenthaltstitel (vgl. BGE 139 I 330 E. 2 S. 335 ff.; BGE 138 I 246 E. 3.2.1 S. 250; BGE 137 I 247 E. 4.1.1 S. 249; BGE 130 II 281 E. 3.1 S. 285 f.). Sie hindert die Konventionsstaaten nicht daran, die Anwesenheit auf ihrem Staatsgebiet zu regeln und den Aufenthalt ausländischer Personen unter Beachtung überwiegender Interessen des Familien- und Privatlebens gegebenenfalls auch wieder zu beenden (BGE 138 I 246 E. 3.2.1 S. 250 mit Hinweisen). Dennoch kann es das in Art. 8 EMRK geschützte Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens verletzen, wenn einer ausländischen Person, deren Familienangehörige sich hier aufhalten, die Anwesenheit untersagt und damit ihr Zusammenleben vereitelt wird (BGE 139 I 330 E. 2 S. 335 ff.; BGE 135 I 143 E. 1.3.1 S. 145, BGE 135 I 153 E. 2.1 S. 154 f.). Das entsprechende, in Art. 8 EMRK bzw. Art. 13 BV geschützte Recht ist berührt, wenn eine staatliche Entfernungs- oder Fernhaltemassnahme eine nahe, echte und tatsächlich gelebte familiäre Beziehung einer in der Schweiz gefestigt anwesenheitsberechtigten Person beeinträchtigt, ohne dass es dieser möglich bzw. zumutbar wäre, das entsprechende Familienleben andernorts zu pflegen (vgl. BGE 116 Ib 353 E. 3c S. 357; BGE 137 I 247 E. 4.1.2 S. 249 f.).
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Der Anspruch gilt im Übrigen nicht absolut: Liegt eine aufenthaltsbeendende oder -verweigernde Massnahme im Schutz- und Anwendungsbereich von Art. 8 EMRK, erweist sich diese als zulässig, falls sie gesetzlich vorgesehen ist, einem legitimen Zweck im Sinne von Art. 8 Ziff. 2 EMRK entspricht und zu dessen Realisierung in einer demokratischen Gesellschaft "notwendig" erscheint. Sowohl bei positiven wie bei negativen staatlichen Massnahmen muss im ![]() | 26 |
6.2 Nach der Rechtsprechung hat der nicht sorge- oder obhutsberechtigte Elternteil eines aufenthaltsberechtigten oder niedergelassenen ausländischen Kindes gestützt auf Art. 8 EMRK einen Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltsbewilligung, wenn er sich tadellos verhalten hat und zwischen ihm und seinem Kind in wirtschaftlicher und affektiver Hinsicht eine besonders enge Beziehung besteht, die wegen der Distanz zwischen der Schweiz und dem Land, in welches der Ausländer vermutlich auszureisen hätte, praktisch nicht aufrechterhalten werden könnte (BGE 137 I 247 E. 4.2.3 S. 251). Geht es umgekehrt darum, dass der sorge- oder obhutsberechtigte Elternteil seine Bewilligung einzig zur Erleichterung der Ausübung des Besuchsrechts zwischen dem Kind und dem anderen Elternteil erhältlich machen will, so ist mit noch grösserer Zurückhaltung auf eine Pflicht zu schliessen, ihm eine Bewilligung zu erteilen, als im Falle des besuchsberechtigten Ausländers, der selber, im Hinblick auf die Ausübung seines Besuchsrechts, um die Bewilligung nachsucht (BGE 137 I 247 E. 4.2.3 S. 251; vgl. auch Urteil 2C_648/2014 vom 6. Juli 2015 E. 2.2).
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6.3 Der deutsche Beschwerdeführer verfügt in der Schweiz über eine Niederlassungsbewilligung und damit ein gefestigtes Anwesenheitsrecht im Sinne der bundesgerichtlichen Rechtsprechung. Die Beziehung zwischen der sorgeberechtigten Beschwerdeführerin und ihm wird gelebt. Dasselbe trifft in affektiver Hinsicht auch für die Beziehung zum besuchsberechtigten Vater zu. Hingegen leistet der Vater keine Unterhaltsbeiträge, so dass eine enge wirtschaftliche Beziehung zu ihm verneint werden muss. Demgemäss lässt sich gestützt ![]() | 28 |
Erwägung 7 | |
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