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9. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung i.S. X. gegen Regionale Staatsanwaltschaft Berner Jura-Seeland (Beschwerde in Strafsachen) |
1B_105/2014 vom 24. April 2014 |
Art. 81 Abs. 1 lit. b BGG; Beschwerderecht. |
Art. 197 Abs. 1 lit. c und d, Art. 212 Abs. 3 sowie Art. 237 Abs. 1 und 2 lit. g StPO, Art. 51 StGB; Verhältnismässigkeit von milderen Ersatzmassnahmen anstelle von Untersuchungshaft. |
Art. 5 StPO; Beschleunigungsgebot. |
Art. 9 BV und Art. 3 Abs. 2 lit. a StPO; Auferlegung der Verfahrenskosten, Treu und Glauben. | |
Sachverhalt | |
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Am 15. Juni 2013 nahm ihn die Polizei fest. Am 18. Juni 2013 versetzte ihn das Regionale Zwangsmassnahmengericht Berner Jura-Seeland in Untersuchungshaft.
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B. Am 24. September 2013 entliess das Zwangsmassnahmengericht X. in Würdigung des über diesen inzwischen erstellten psychiatrischen Gutachtens aus der Haft unter Anordnung folgender Ersatzmassnahmen: Es verbot ihm, mit der Ehefrau Kontakt aufzunehmen. Ebenso verbot es ihm, mit den Söhnen - mit Ausnahme der Kommunikation über eine Mitarbeiterin der Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde - Kontakt aufzunehmen. Zudem auferlegte es ihm eine wöchentliche Meldepflicht. Im Weiteren wies es ihn an, sich einer ambulanten psychiatrischen Behandlung zu unterziehen. Ferner verbot es ihm, Waffen jeglicher Art anzuschaffen oder zu besitzen.
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Die von X. hiergegen eingereichte Beschwerde hiess das Obergericht des Kantons Bern (Beschwerdekammer in Strafsachen) am 15. Oktober 2013 teilweise gut. Es hob die Ersatzmassnahmen mit Ausnahme der Kontaktverbote auf und befristete diese bis zum 14. Dezember 2013. Es bejahte nebst dem dringenden Tatverdacht Kollusionsgefahr. Die Kontaktverbote stellten geeignete Massnahmen zu deren Bannung bzw. Minderung dar.
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Am 17. Dezember 2013 verlängerte das Zwangsmassnahmengericht die Kontaktverbote um zwei Monate.
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Die von X. hiergegen erhobene Beschwerde wies das Obergericht am 28. Februar 2014 ab (...) und auferlegte ihm die Verfahrenskosten von Fr. 1'200.- (...). Es beurteilte die Kontaktverbote als verhältnismässig.
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C. X. führt Beschwerde in Strafsachen mit dem Antrag, der Beschluss des Obergerichts vom 28. Februar 2014 sei aufzuheben und auf die Verlängerung der Ersatzmassnahmen sei zu verzichten. Eventualiter sei festzustellen, dass die Verlängerung unrechtmässig sei bzw. Art. 5 Ziff. 3 EMRK verletze. Überdies stellt er Anträge zu den Kosten des kantonalen und bundesgerichtlichen Verfahrens. (...)
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Das Bundesgericht heisst die Beschwerde teilweise gut.
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(Auszug)
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Aus den Erwägungen: | |
Erwägung 1 | |
Erwägung 1.3 | |
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Der Beschwerdeführer muss ein aktuelles und praktisches Interesse an der Behandlung der Beschwerde haben. Mit diesem Erfordernis soll sichergestellt werden, dass das Gericht konkrete und nicht bloss theoretische Fragen entscheidet. Es dient damit der Prozessökonomie (BGE 136 I 274 E. 1.3 S. 276 mit Hinweisen).
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Der Beschwerdeführer bringt vor, die Beschwerde sei trotzdem zu behandeln.
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Wie die folgenden Erwägungen zeigen, wirft der Beschwerdeführer zur Verhältnismässigkeit von Ersatzmassnahmen Fragen auf, die der höchstrichterlichen Klärung bedürfen. Da das Strafverfahren in Fällen wie hier in der Regel weit fortgeschritten ist, könnte es auch künftig sein, dass die Ersatzmassnahmen aufgehoben sind, wenn das Bundesgericht entscheidet. Es rechtfertigt sich deshalb, die Beschwerde an die Hand zu nehmen.
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(...)
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Erwägung 2 | |
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Untersuchungshaft ist somit "ultima ratio" (BGE 135 I 71 E. 2.3 S. 73 mit Hinweisen). Kann der damit verfolgte Zweck - die Verhinderung von Flucht-, Kollusions-, Wiederholungs- oder Ausführungsgefahr - mit milderen Massnahmen erreicht werden, sind diese anzuordnen (Art. 212 Abs. 2 lit. c StPO). Dies gebietet der Grundsatz der Verhältnismässigkeit (Art. 36 Abs. 3 BV; Art. 197 Abs. 1 lit. c und d StPO).
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Die Ersatzmassnahmen müssen ihrerseits verhältnismässig sein. Dies gilt insbesondere in zeitlicher Hinsicht.
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2.3 Gemäss Art. 212 Abs. 3 StPO dürfen Untersuchungs- und Sicherheitshaft nicht länger dauern als die zu erwartende Freiheitsstrafe. Rückt die Dauer der Haft in grosse zeitliche Nähe der im Falle einer rechtkräftigen Verurteilung zu erwartenden Freiheitsstrafe, ist der Beschuldigte nach der Rechtsprechung zu entlassen (BGE 139 IV 270 E. 3.1 S. 275 mit Hinweisen). Bei einer derartigen Haftentlassung dürfen auch keine Ersatzmassnahmen mehr angeordnet werden ![]() | 22 |
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Der Beschwerdeführer erstand gut 3 Monate Untersuchungshaft. Nachher musste er noch Ersatzmassnahmen erdulden, welche die Vorinstanz am 15. Oktober 2013 auf die Kontaktverbote beschränkte. Die Ersatzmassnahmen stellten für den Beschwerdeführer eine weit geringere Belastung dar als Untersuchungshaft. Das Kontaktverbot zur Ehefrau dürfte ihn wenig getroffen haben, da er von dieser ohnehin getrennt lebte und mit ihr zerstritten war. Was das Kontaktverbot zu den Söhnen betrifft, gab er gegenüber dem Psychiater an, er wolle diese nicht mehr sehen, falls sie an ihren belastenden Aussagen festhielten. Auf ein besonders enges Verhältnis zu den Söhnen lässt das nicht schliessen.
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Nach der Rechtsprechung sind Ersatzmassnahmen analog der Untersuchungshaft gemäss Art. 51 StGB auf die Freiheitsstrafe anzurechnen. Bei der Bestimmung der anrechenbaren Dauer hat das Gericht den Grad der Beschränkung der persönlichen Freiheit im Vergleich zum Freiheitsentzug bei Untersuchungshaft zu berücksichtigen (BGE 124 IV 1 E. 2a S. 3 mit Hinweis). Dabei kommt dem Gericht ein erheblicher Ermessensspielraum zu (vgl. BGE 121 IV 303 E. 4b S. 307).
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Bis zum Urteil des Regionalgerichts dauerten die Ersatzmassnahmen gut 6 Monate. Das Regionalgericht hat diese im Umfang von 62 Tagen, also einem Drittel, auf die Strafe angerechnet. Ob es sich dabei an den Rahmen des ihm zustehenden Ermessens gehalten hat, ist hier nicht zu prüfen. Klar ist aber, dass unter den dargelegten Umständen im Vergleich zu Untersuchungshaft nur eine deutlich geringere Anrechnung in Frage kommt.
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Die Beschwerde ist im vorliegenden Punkt unbegründet.
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Erwägung 3 | |
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Nach der Rechtsprechung ist in einem Haftprüfungsverfahren die Rüge, das Strafverfahren werde nicht mit der gebotenen Beschleunigung geführt, nur so weit zu beurteilen, als die Verfahrensverzögerung geeignet ist, die Rechtmässigkeit der Untersuchungshaft in Frage zu stellen und zu einer Haftentlassung zu führen. Dies ist nur der Fall, wenn sie besonders schwer wiegt und zudem die Strafverfolgungsbehörden, z.B. durch eine schleppende Ansetzung der Termine für die anstehenden Untersuchungshandlungen, erkennen lassen, dass sie nicht gewillt oder nicht in der Lage sind, das Verfahren nunmehr mit der für Haftfälle gebotenen Beschleunigung voranzutreiben und zum Abschluss zu bringen (BGE 137 IV 92 E. 3.1 S. 96; BGE 128 I 149 E. 2.2.1 f. S. 151 f.; je mit Hinweisen).
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Diese Rechtsprechung kann grundsätzlich auf die Ersatzmassnahmen übertragen werden. Zu berücksichtigen ist allerdings, dass diese weniger in die Grundrechte eingreifen als Untersuchungshaft. Bei der Aufhebung von Ersatzmassnahmen ist deshalb grössere Zurückhaltung geboten. Je weniger sie den Beschuldigten belasten, desto krasser muss die Verfahrensverzögerung sein, damit sich die Aufhebung rechtfertigt.
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3.3 Im vorliegenden Fall ist keine besonders schwere Verletzung des Beschleunigungsgebots erkennbar. Die Vorinstanz hat sich dazu ![]() | 33 |
Die Beschwerde ist auch insoweit unbegründet.
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Erwägung 4 | |
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4.2 Gemäss Art. 9 BV und Art. 3 Abs. 2 lit. a StPO beachten die Behörden den Grundsatz von Treu und Glauben. Dieser verbietet es, dem Beschwerdeführer Verfahrenskosten aufzuerlegen, wenn seine Anträge infolge einer Praxisänderung als unzulässig erklärt wurden (BGE 122 I 57 E. 3d S. 61; BGE 119 Ib 412 E. S. 415). Dasselbe gilt, wenn seine Anträge infolge einer Änderung der Rechtsprechung abgewiesen wurden (Urteil 6B_113/2009 vom 3. April 2009 E. 1).
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