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Bearbeitung, zuletzt am 15.03.2020, durch: Rainer M. Christmann, A. Tschentscher | |||
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StPO § 44 |
4. Strafsenat |
Beschluß |
vom 19. Oktober 1999 g.S. |
- 4 StR 86/99 - |
Landgericht Stendal |
Gründe: | |
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Förderung der Prostitution in Tateinheit mit Zuhälterei und wegen Beihilfe zur Zuhälterei zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren mit Strafaussetzung zur Bewährung verurteilt. Der in der Hauptverhandlung nach Urteilsverkündung und Rechtsmittelbelehrung erklärte Rechtsmittelverzicht des Angeklagten ist Unwirksam. Dem Angeklagten ist auf seinen Antrag vom 21. Dezember 1998 Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zur Revisionseinlegung zu gewähren.
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a) Zu diesem Ergebnis gelangt der Senat nach freibeweislicher Feststellung der Vorgänge am letzten Hauptverhandlungstag (22. Januar 1998).
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aa) Dem steht die formelle Beweiskraft des Hauptverhandlungsprotokolls vom 22. Januar 1998, das lediglich die Tatsache eines Rechtsgesprächs über die weitere Verfahrensweise vermerkt, nicht entgegen. Allerdings hat der Senat in seinem Urteil vom 28. August 1997 (BGHSt 43, 195 [206]) entschieden, daß das Ergebnis einer Absprache im Protokoll festzuhalten ist, da es sich um einen wesentlichen Verfahrensvorgang handelt. Das bedeutet, daß die Sitzungsniederschrift mit der ihr gemäß § 274 Satz 1 StPO zukommenden positiven und negativen Beweiskraft für das Revisionsverfahren grundsätzlich bindend (zu den Ausnahmen vgl. § 274 Satz 2 StPO und Kleinknecht/Meyer-Goßner, StPO 44. Aufl. § 274 Rdn. 15 ff.) Vorhandensein und Ergebnis einer Verständigung in der Hauptverhandlung beweist und damit für das Rügerecht des Revisionsführers - etwa im Hinblick auf eine Bindung des Gerichts an eine Strafobergrenze (vgl. BGHSt 43, 195 [210]) Beachtung verlangt (BGHSt 43, 195 [206]; BGH StV 1999, 408; NStZ 1999, 364; BGH, Urt. vom 28. Mai 1998 - 4 StR 17/98; Rieß in Löwe/Rosenberg, StPO 25. Aufl. Einl. G Rdn. 68, 87, Rönnau wistra 1998, 49, 51). Dies gilt aber nur insoweit, als es um die Verbindlichkeit der in der Hauptverhandlung getroffenen Absprache geht, hindert indes nicht die (freibeweisliche) Feststellung eines rechtlich unzulässigen Geschehens, gleichgültig, ob es sich in oder außerhalb der Hauptverhandlung ereignet hat (vgl. BGH NStZ 1997, 609, 610).
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bb) Am 22. Januar 1998 kam es - außerhalb der Hauptverhandlung - zu einem Rechtsgespräch, an dem die Berufsrichter, der Sitzungsvertreter der Staatsanwaltschaft und die beiden Verteidiger des Angeklagten teilnahmen. Aus der anwaltlichen Versicherung der Verteidigerin und den eingeholten dienstlichen Erklärungen ergibt sich als Ergebnis der dabei erzielten Verständigung zunächst, daß der Angeklagte zwei ![]() ![]() | 5 |
Die Verteidiger und der Angeklagte waren der Ansicht, daß sämtliche bei der Staatsanwaltschaft Stendal zu diesem Zeitpunkt anhängigen Ermittlungsverfahren von einer Einstellungszusage der Staatsanwaltschaft umfaßt seien. Der Sitzungsvertreter der Staatsanwaltschaft ging hingegen davon aus, daß lediglich ein bestimmtes Ermittlungsverfahren wegen Menschenhandels und Förderung der Prostitution - wie später geschehen - nach § 154 Abs. 1 StPO eingestellt werden und wegen des Verdachts eines Betruges zum Nachteil des Arbeitsamtes keine Verfolgung stattfinden solle. Den Berufsrichtern war in der Hauptverhandlung nur das Ermittlungsverfahren wegen Menschenhandels und Förderung der Prostitution zur Kenntnis gelangt.
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Weder ihnen noch dem Sitzungsvertreter der Staatsanwaltschaft war bekannt, daß der Angeklagte in einem - auch gegen andere Personen gerichteten - Verfahren "wegen Verstoßes gegen das Betäubungsmittelgesetz" mit einem staatsanwaltschaftlichen Aktenzeichen aus dem Jahr 1995 als Beschuldigter vernommen worden war; seine Eintragung in das Register der Staatsanwaltschaft war zunächst unterblieben. Die Verteidiger ![]() ![]() | 7 |
b) Der Rechtsmittelverzicht ist unwirksam. Zwar kann dies - entgegen Schlüchter in SK-StPO vor § 213 Rdn. 52 nicht aus "enttäuschte(n) Erwartungen" des Angeklagten hergeleitet werden (vgl. BGH StV 1994, 64; wistra 1994, 197; NStZ-RR 1997, 173, 174; OLG Frankfurt StV 1987, 289). Auch behauptet die Revision selbst nicht, daß der Angeklagte durch das Gericht oder die Staatsanwaltschaft bewußt irregeführt oder getäuscht worden sei. Die Unwirksamkeit des Rechtsmittelverzichts folgt aber daraus, daß er Bestandteil der dem Urteil vorausgegangenen Absprache ist (noch offengelassen in der Senatsentscheidung NStZ 1999, 364). Nach dem Urteil des Senats vom 28. August 1997 ist es unzulässig, wenn sich das Gericht - wie hier geschehen - für das Inaussichtstellen einer milderen Strafe durch den Angeklagten versprechen läßt, daß dieser auf Rechtsmittel verzichten werde: Dies bedeute zum einen eine unzulässige Verknüpfung der Rechtsmittelbefugnis mit der Höhe der Strafe, zum anderen könne der Angeklagte frühestens nach Urteilsverkündung auf Rechtsmittel verzichten (BGHSt 43, 195 [204 f.]; zust. OLG Stuttgart NJW 1999, 375, 376; Rieß a.a.O. Rdn. 84, 86; Laufhütte in KK 4. Aufl. vor § 137 Rdn. 7; Kleinknecht/MeyerGoßner a.a.O. Einl. Rdn. 119 f.; Weigend NStZ 1999, 57, 60; Rönnau wistra 1998, 49, 50; krit. zur Vereinbarung eines Rechtsmittelverzichts auch Dencker/Hamm, Der Vergleich im Strafprozeß 1988 S. 114; Siolek, Verständigung in der Hauptverhandlung 1993 S. 198 ff., 206 f.; vgl. ferner BGH StV 1999, 407; a.A. OLG Köln NJW 1999, 373, 374 f.; Braun, Die Absprache im deutschen Strafverfahren 1998 S. 80). Konsequenz einer derartigen unzulässigen Verknüpfung muß - über die selbstverständliche Unbeacht ![]() ![]() | 8 |
Zöge man nicht die Konsequenz der Unwirksamkeit, bliebe ein Verstoß des Gerichts gegen das - für die rechtsstaatlichen Anforderungen genügende Verständigung im Strafverfahren unabweisbare - Verbot der Vereinbarung von Rechtsmittelverzichten sanktionslos. Die Annahme der Unwirksamkeit trägt ferner dem Umstand Rechnung, daß der Angeklagte durch die Ablegung eines - regelmäßig und auch hier - vereinbarten Geständnisses seine Verteidigungsmöglichkeiten ohnehin auf einen schmalen Bereich einschränkt (BGHSt43, 195 [207]); das Gericht darf daher von ihm keinesfalls verlangen, daß er sich bereits vor Abschluß der Hauptverhandlung und Kenntnis der Entscheidung der ihm zustehenden Kontrollmöglichkeit begibt, indem es ihn vor Urteilsverkündung auf einen Rechtsmittelverzicht festlegt.
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c) Allerdings hat der 2. Strafsenat des Bundesgerichtshofs entschieden, die Unzulässigkeit einer Absprache über das Verfahrensergebnis berühre nicht die Wirksamkeit eines absprachegemäß erklärten Rechtsmittelverzichts; dessen Beurteilung unterliege anderen Maßstäben, wobei es auf die Art, wie der Verzicht zustande gekommen sei, nicht ankomme (BGH NJW 1997, 2691, a.A. für den Regelfall Rieß a.a.O.; zweifelnd Ruß in KK 4. Aufl. § 302 Rdn. 1, 3; Kleinknecht/Meyer-Goßner a.a.O. § 302 Rdn. 21; zust. aber Rautenberg in HK-StPO 2. Aufl. § 302 Rdn. 10; Landau/Eschelbach NJW 1999, 321, 326). Das bedeutet jedoch nicht, daß ein Rechtsmittelverzicht, der auf ![]() ![]() | 10 |
aa) Der Zulässigkeit der getroffenen Absprache steht nach den vom Senat in seiner Entscheidung vom 28. August 1997 (BGHSt 43, 195) aufgestellten Regeln für eine Verständigung im Hauptverfahren (vgl. Kleinknecht/Meyer-Goßner a.a.O. Einl. Rdn. 119 e; Roxin, Strafverfahrensrecht 25. Aufl. § 15 Rdn. 7) nicht nur der vereinbarte Rechtsmittelverzicht entgegen. Vielmehr haben die an der Verständigung Beteiligten weitgehend ohne den Angeklagten und ohne die Schöffen auch eine bestimmte Strafe außerhalb der öffentlichen Hauptverhandlung ohne Aufnahme des Ergebnisses in die Sitzungsniederschrift vereinbart. Der Bundesgerichtshof hat insoweit bereits wiederholt auf die Gefahr eines Mißverständnisses oder von Unklarheiten über die Reichweite einer Absprache hingewiesen, wenn die Gesprächsführung unter Mißachtung wesentlicher dafür aufgestellter Verfahrensgrundsätze erfolgt (BGHSt 42, 46 [50]; 191, 193; 43, 195 [206]; BGH NStZ 1994, 196; 1997, 561; NJW 1999, 2449, 2452). Der Dissens zwischen Verteidigung und Angeklagtem auf der einen Seite, Gericht und Staatsanwaltschaft auf der anderen Seite betraf hier die Frage, wieweit das - im Rahmen einer gerichtlichen Absprache ohnehin bedenkliche, weil nicht in der Kompetenz des Gerichts liegende - Angebot der Staatsanwaltschaft reichte, von (weiterer) Strafverfolgung abzusehen.
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bb) Durch seine Vorgehensweise verletzte das Gericht das berechtigte und ihm offengelegte Verteidigungsinteresse des Angeklagten. Für das Landgericht lag nämlich das besondere Interesse des - nur geringfügig vorbestraften Angeklagten, auch im Ergebnis einer strafrechtlichen "Gesamtbereinigung" ![]() ![]() | 12 |
cc) Dem steht nicht entgegen, daß dem Angeklagten eine Rechtsmittelbelehrung erteilt worden ist und er zunächst mit seinen - in die Absprache einbezogenen - Verteidigern wegen einer Anfechtung der Kostenentscheidung Rücksprache genommen hat; denn dies war nicht geeignet, seinen Wissensstand wesentlich zu erweitern, nachdem er im Rahmen der Absprache zugesagt hatte, nach Urteilsverkündung auf Rechtsmittel zu verzichten. Ob anderes gilt, wenn der Vorsitzende den Angeklagten eingehend über seine Freiheit, ungeachtet der getroffenen Absprache innerhalb der gesetzlichen Frist Rechtsmittel einzulegen, belehrt, bedarf hier keiner Entscheidung; eine solche "qualifizierte" Belehrung ist nicht erfolgt (vgl. auch Rieß a.a.O.).
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2. Der Senat gewährt auf das form- und fristgerecht gestellte Gesuch des Angeklagten Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach Versäumung der Frist zur Einlegung der Revision, weil der Angeklagte ohne sein Verschulden verhindert war, ![]() ![]() ![]() | 14 |
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