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2. Art. 6 Abs. 5 GG gewährt ein Grundrecht, das als eine besondere Ausprägung des allgemeinen Gleichheitssatzes anzusehen ist.
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3. Zwischen Art. 6 Abs. 1 GG und Art. 6 Abs. 5 GG besteht keine Antinomie.
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Beschluß | |
des Ersten Senats vom 29. Januar 1969
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-- 1 BvR 26/66 -- | |
in dem Verfahren über die Verfassungsbeschwerde der ..., ... - gegen das Urteil des Landgerichts Kiel vom 16. dezember 1965 - 3 S. 65/65 -.
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Entscheidungsformel:
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Das Urteil des Landgerichts Kiel vom 16. Dezember 1965 - 3 S. 65/65 - verletzt Artikel 6 Absatz 5 des Grundgesetzes. Es wird aufgehoben. Die Sache wird an das Landgericht Kiel zurückverwiesen.
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Gründe: | |
A. -- I. | |
Nach bürgerlichem Recht kann das uneheliche Kind den ihm gegen seinen Vater zustehenden Unterhaltsanspruch nach dessen Tode gegen die Erben geltend machen. Die entsprechende Vorschrift lautet:
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"§ 1712 BGB
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(1) Der Unterhaltsanspruch erlischt nicht mit dem Tode des Vaters; er steht dem Kinde auch dann zu, wenn der Vater vor der Geburt des Kindes gestorben ist.
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(2) Der Erbe des Vaters ist berechtigt, das Kind mit dem Betrag abzufinden, der dem Kinde als Pflichtteil gebühren würde, wenn es ehelich wäre. Sind mehrere uneheliche Kinder vorhanden, so wird die Abfindung so berechnet, wie wenn sie alle ehelich wären."
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Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Frage, ob es mit Art. 6 Abs. 5 GG vereinbar ist, auf diesen Anspruch eine Waisenrente aus der Sozialversicherung anzurechnen, die dem unehelichen Kinde wegen des Todes seines Vaters gewährt wird. Nach den einschlägigen Vorschriften erhält das uneheliche Kind ebenso ![]() ![]() | |
II.
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1. Die Beschwerdeführerin ist am 5. November 1950 außerehelich geboren. Ihr Erzeuger erkannte die Vaterschaft an und verpflichtete sich in einer vollstreckbaren Urkunde zur Zahlung einer monatlichen Unterhaltsrente. Er starb im Februar 1962. Seither erhält die Beschwerdeführerin aus der Arbeiterrentenversicherung eine Waisenrente, deren Höhe den in der vollstreckbaren Urkunde festgelegten Unterhaltsbetrag übersteigt. Aus diesem Grunde weigert sich die Witwe und Alleinerbin des Vaters, der Beschwerdeführerin weiterhin Unterhalt zu leisten. Nach einer nicht bestrittenen Angabe der Beschwerdeführerin ist ein Nachlaß vorhanden, der u. a. in einem Hausgrundstück im Werte von 60 000 DM besteht.
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2. Auf die Vollstreckungsgegenklage der Erbin erklärte das Amtsgericht Kiel die Zwangsvollstreckung aus dem erwähnten Titel mit Wirkung vom 1. März 1962 für unzulässig und verurteilte die Beschwerdeführerin, die vollstreckbare Ausfertigung des Titels herauszugeben.
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Die Berufung der Beschwerdeführerin wies das Landgericht Kiel mit der angefochtenen Entscheidung aus folgenden Gründen zurück:
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Es könne nicht Sinn und Zweck der Waisenrente sein, dem unehelichen Kind eine zusätzliche Zuwendung zu erbringen. § 1712 BGB solle dem unehelichen Kind keinen Ersatz für entgangenes Erbrecht gewähren, sondern seinen Unterhalt sichern. Das Abfindungsrecht des § 1712 Abs. 2 BGB sei allein im Interesse der Erben vorgesehen und solle verhindern, daß das uneheliche Kind etwa günstiger gestellt werde als das eheliche. Das uneheliche Kind sei zwar insgesamt gegenüber dem ehelichen benachteiligt, weil dieses neben der Waisenrente sein Erbrecht behalte. Dies entspreche jedoch dem Gesetz, solange die in Art. 6 Abs. 5 GG angekündigte Gleichberechtigung von ehelichen und unehelichen Kindern vom Gesetzgeber noch nicht voll durch ![]() ![]() | |
3. Die Beschwerdeführerin hat gegen das Urteil der Berufungsinstanz Verfassungsbeschwerde erhoben und zur Begründung vorgetragen:
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Das Urteil des Landgerichts verstoße gegen Art. 3 und Art. 6 Abs. 5 GG. Das uneheliche Kind sei, wenn sein Vater sterbe, schon dadurch gegenüber einem ehelichen Kind benachteiligt, daß die Erben des Vaters es nach § 1712 Abs. 2 BGB mit einem Betrage in Höhe eines Pflichtteils abfinden könnten, während dem ehelichen Kind ein Erbrecht zustehe. Eine Anrechnung der Waisenrente auf den beschränkten Anspruch des unehelichen Kindes würde diese Ungleichheit in verfassungswidriger Weise verschärfen.
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III.
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Der Bundesminister der Justiz hat sich am 19. Oktober 1966 für die Bundesregierung geäußert. Er hält die Verfassungsbeschwerde aus den folgenden Erwägungen für unbegründet:
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Eine Aktualisierung des Art. 6 Abs. 5 GG in dem Sinne, daß der Vorschrift derogierende Kraft gegenüber dem einstweilen fortgeltenden Gesetzesrecht zuzumessen wäre, könne derzeit nur insoweit erfolgen, als ein etwaiges Zurückbleiben der Rechtsstellung des unehelichen Kindes hinter der Forderung dieser Verfassungsvorschrift rechtlich unerträglich sein würde. Darüber hinaus sei die Vorschrift als Schutznorm zugunsten des unehelichen Kindes und als Ausprägung des allgemeinen Gleichheitssatzes Auslegungsmaßstab: In dieser Bedeutung sei ihr immer dann Geltung zu verschaffen, wenn eine der verfassungsrechtlichen Wertentscheidung entsprechende Auslegung nach allgemeinen Auslegungsmaßstäben möglich in Anbetracht einer sonst bestehenden Benachteiligung des unehelichen Kindes geboten sei.
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Die Kontroverse in der Rechtsprechung und im Schrifttum über das Verhältnis des Anspruchs aus § 1712 BGB zur Waisenrente ergebe, daß die Gesetzeslage verschiedene Auslegungen zulasse; die Entscheidung für eine von ihnen sei jedoch eine Frage der ![]() ![]() | |
Die Verfassungsbeschwerde wendet sich gegen die der angefochtenen Gerichtsentscheidung zugrunde liegende, nach Auffassung der Beschwerdeführerin verfassungswidrige Auslegung und Anwendung von Normen des einfachen Rechts, namentlich gegen die Beurteilung des Verhältnisses von § 1712 BGB zu den Rentenvorschriften der Sozialversicherungsgesetze.
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Als Prüfungsmaßstab kommt in erster Linie Art. 6 Abs. 5 GG als Grundnorm für den gesamten Bereich der Stellung des unehelichen Kindes in Betracht; er lautet wie folgt:
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"Den unehelichen Kindern sich durch die Gesetzgebung die gleichen Bedingungen für ihre leibliche und seelische Entwicklung und ihre Stellung in der Gesellschaft zu schaffen wie den ehelichen Kindern."
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1. Die rechtliche Bedeutung dieser Norm ist umstritten; Kernpunkt der Auseinandersetzung ist die sog. "Aktualisierung" des Art. 6 Abs. 5 GG. Diese Bezeichnung ist mißverständlich, weil allgemeine Übereinstimmung darüber besteht, daß Art. 6 Abs. 5 GG mehr ist als ein bloßer Programmsatz entsprechend der fast gleichlautenden Bestimmung des Art. 121 der Weimarer Verfassung. ![]() ![]() | |
2. Offen ist jedoch die Frage, ob Art. 6 Abs. 5 GG eine weitergehende aktuelle Bedeutung erlangt hat, weil der Gesetzgeber den Verfassungsauftrag noch immer nicht erfüllt hat, jedenfalls nicht, soweit es sich um den Kernbereich der verheißenen Reform, das Privatrecht, handelt. Es fragt sich, ob die Verfassungsvorschrift aus diesem Grunde unmittelbare Geltung gewonnen hat in dem Sinne, daß die mit der verfassungsrechtlichen Wertentscheidung unvereinbaren Bestimmungen des überkommenen einfachen Rechts außer Kraft getreten sind und die entstandene Gesetzeslücke, solange der Gesetzgeber nicht handelt, vom Richter auf der Grundlage des Art. 6 Abs. 5 GG in schöpferischer Rechtsfindung zu schließen ist. Das Bundesverfassungsgericht hat bereits in seinem Beschluß vom 23. Oktober 1958 erwogen, ob "das Ausbleiben des ![]() ![]() | |
Diese Frage bedarf hier der Entscheidung. Wäre nämlich davon auszugehen, daß Art. 6 Abs. 5 GG in dem hier maßgeblichen Zeitpunkt derogierende Kraft gegenüber den mit seiner Wertentscheidung unvereinbaren Vorschriften des Bürgerlichen Gesetzbuchs erlangt hatte, so wären auch die Regelungen, die das uneheliche Kind von jedem Erb- oder Pflichtteilsrecht nach seinem Vater ausschließen, außer Kraft getreten, weil dem unehelichen Kind eine angemessene Beteiligung am väterlichen Nachlaß in Form eines Erbrechtes oder eines Geldanspruchs zuerkannt werden muß. Dies würde auch die Weitergeltung des § 1712 BGB in Frage stellen; denn neben einem Erb- oder Erbersatzanspruch des unehelichen Kindes dürfte regelmäßig kein Raum für einen "verlängerten Unterhaltsanspruch" des Kindes gegen die Erben sein;
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vgl. die Regelungen des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die rechtliche Stellung der unehelichen Kinder vom 7. Dezember 1967, BTDrucks. V/2370 (§§ 1615 a, 1934 a ff.) und des vom Bundesministerium der Justiz veröffentlichten Referentenentwurfs eines Unehelichengesetzes vom Mai 1966 (§§ 1615 e und f in Verbindung mit § 1615 h Abs. 1 und 2) und die Begründungen dazu (Regierungsentwurf S. 43 ff., 88 ff.; Referentenentwurf S. 66 ff.); Diekmann, FamRZ 1967, S. 10 (19 ff.); Lutter, FamRZ 1967, S. 65 (77 f.); Göppinger, JR 1967, S. 125 (129 ff.).
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Eine derartige Rechtswirkung würde für das vorliegende Verfahren bedeuten, daß der Beschwerdeführerin möglicherweise ein Recht auf Beteiligung am väterlichen Nachlaß zustand, aber kein Unterhaltsanspruch gegen die Erbin gemäß § 1712 BGB. Mit dem Wegfall des Unterhaltsanspruchs aus § 1712 BGB wäre aber ![]() ![]() | |
3. a) Im Schrifttum ist zuerst Ende der fünfziger Jahre die Auffassung von einem solchen Struktur- oder Funktionswandel des Art. 6 Abs. 5 GG vertreten worden: Der Verfassungsbefehl, dessen Rechtsgehalt hinreichend justitiabel sei, müsse bei Versagen des Gesetzgebers an seiner Stelle von den rechtsanwendenden Gewalten vollzogen werden (vgl. Hildegard Krüger, u. a. DÖV 1957, S. 356 ff. und Die Rechtsstellung des unehelichen Kindes nach dem Grundgesetz, 1960, S. 17 f.; Habscheid, FamRZ 1958, S. 350 f.). Seit Beginn der sechziger Jahre hat diese Auffassung zunehmend an Boden gewonnen, besonders im Hinblick auf die günstigen Erfahrungen mit der Verwirklichung der Gleichberechtigung durch die Gerichte in der Zeit zwischen dem Stichtag des Art. 117 Abs. 1 GG und dem Inkrafttreten des Gleichberechtigungsgesetzes vom 18. Juni 1957 (BGBl. I S. 609);
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vgl. Hamann, Kommentar zum GG, 2. Aufl., 1960, Anm. B 9 zu Art. 6; Peter Schneider auf der Juristinnentagung in Wiesbaden 1961, s. Bericht von Brühl, FamRZ 1961, 358 f.; Wägenbaur, FamRZ 1962, S. 129 ff.; Zweigert, Verhandlungen des 44. Deutschen Juristentages - DJT -, Bd. II/C, S. 38 f.; Schultz, MDR 1962, S. 710; Schlosser, FamRZ 1963, S. 601 ff.; Kalkbrenner, DÖV 1963, S. 41 ff.; Junker, Die verfassungsrechtliche Stellung des unehelichen Kindes, Dissertation, Bonn 1964, S. 37 f.; Gernhuber, Lehrbuch des Familienrechts, 1964, § 5 V 2, S. 41 f.; Georg Scheffler, RGR Komm. z. BGB, 10./11. Aufl., 1964, Vorbem. II vor § 1705; Dölle, Familienrecht, 1965, Bd. II, § 101 II 3, S. 356 f.; H. Lange, JZ 1965, S. 779; Boehmer, Einführung in das Bürgerliche Recht, 2. Aufl., 1965, ![]() ![]() | |
Dabei gehen die Meinungen darüber auseinander, wann der Zeitpunkt für eine solche weitergehende Aktualisierung eingetreten sei und ob diese Aktualisierung für die gesamte privatrechtliche Stellung des unehelichen Kindes gelte oder nur solche Gesetzesvorschriften außer Kraft gesetzt habe, die eklatant mit der Wertentscheidung der Verfassung unvereinbar seien. Einige der genannten Autoren vertreten die Ansicht, die an sich mögliche und gebotene Aktualisierung setze zunächst eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts voraus, das unter unmittelbarer oder analoger Anwendung des Art. 100 Abs. 1 GG auf eine entsprechende Gerichtsvorlage oder im Verfassungsbeschwerdeverfahren den Weg für einen unmittelbaren Vollzug der Verfassungsnorm durch die Gerichte freigeben, namentlich den Zeitpunkt der Aktualisierung feststellen müsse.
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b) Demgegenüber haben andere Autoren eine derartige Aktualisierung des Art. 6 Abs. 5 GG abgelehnt;
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vgl. Bosch, u. a. FamRZ 1962, S. 292 f., 44. DJT, Gutachten, S. 49 f., FamRZ 1967, S. 518; Göppinger in Staudinger, Kommentar zum BGB, 10./11. Aufl., 1966, Vorbem. 45 ff. vor §§ 1705 ff. BGB; Gaul, FamRZ 1968, 673 ff. (674); Dürig in Maunz-Dürig, Kommentar zum GG, 2. Aufl., 1968, zu Art. 1 Abs. 3 GG, S. 44 Fußn. 5; Maunz, Deutsches Staatsrecht, 16. Aufl., 1968, § 13 II 6, S. 94 f.; Beitzke, Familienrecht, 14. Aufl., 1968, § 33, S. 209; Fuss, JZ 1963, S. 39 f. (40); Dunz, NJW 1962, S. 1472 ff. (1473); Seiwerth, Zur Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde gegenüber Grundrechtsverletzungen des Gesetzgebers durch Unterlassen, 1962, S. 95 f., 97 ff.
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Zur Begründung wird ausgeführt, der eindeutige Wortlaut des Art. 6 Abs. 5 GG stehe einer Verwirklichung des Verfassungswillens unmittelbar durch den Richter entgegen, vor allem aber sei Art. 6 Abs. 5 GG zu unscharf formuliert, um ohne Gefährdung der Rechtssicherheit einen unmittelbaren Vollzug durch den Richter zu ermöglichen, zumal die Erfüllung des Verfassungsauftrags weitgehend mehrere in gleicher Weise verfassungs ![]() ![]() | |
c) Soweit die Rechtsprechung das Problem der Aktualisierung erörtert hat, hat sie sich überwiegend auf den Standpunkt gestellt, die angemessene Frist, die dem Gesetzgeber zur Erfüllung des Verfassungsauftrags eingeräumt werden müsse, sei - jedenfalls im Zeitpunkt der jeweiligen Entscheidung - noch nicht abgelaufen gewesen;
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vgl. BVerwGE 11, 101; OLG Hamm, FamRZ 1962, S. 437 f.; LG Stuttgart, FamRZ 1966, S. 366 f.; LG Kreuznach, FamRZ 1967, S. 492 f.; BGH, FamRZ 1968, S. 520 (521).
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Das Oberlandesgericht Saarbrücken (FamRZ 1965, 162 f.) hält eine Aktualisierung insoweit für möglich, als das Zurückbleiben der Rechtsstellung des unehelichen Kindes hinter der Forderung des Art. 6 Abs. 5 GG für die Zeit bis zum Erlaß der einschlägigen gesetzlichen Bestimmungen als unerträglich anzusehen wäre. Es hält diese Voraussetzung jedoch nicht für gegeben, soweit nach geltendem Recht dem unehelichen Vater kein Verkehrsrecht zusteht. Neuerdings hat das Oberlandesgericht Frankfurt/M. ein Erbscheinsverfahren dem Bundesverfassungsgericht zur Entscheidung darüber vorgelegt, "ob die Bestimmungen des Bürgerlichen Gesetzbuches, die ein Erbrecht des unehelichen Kindes ausschließen (insbesondere § 1705 BGB in Verbindung mit ![]() ![]() | |
4. a) Das Bundesverfassungsgericht hat sich mit dem Problem, ob eine Verfassungsnorm bei fruchtlosem Ablauf der vom Verfassungsgeber für die erforderliche Anpassung des einfachen Rechts gesetzten Frist derogierende Kraft gegenüber entgegenstehendem Recht erhalten kann und nunmehr als allgemeine Rechtsregel vom Richter im Wege richterlicher Interpretation und rechtsfindender Lückenfüllung unmittelbar anzuwenden ist, bereits in dem Urteil vom 18. Dezember 1953 zur Verfassungsmäßigkeit des Art. 117 Abs. 1 GG befaßt (BVerfGE 3, 225). Es erklärte in dieser Entscheidung die in Art. 117 Abs. 1 GG vorgeschriebene Aktualisierung der Gleichberechtigung zu einem bestimmten Stichtag für rechtswirksam und wies die aus den Gründen der Rechtssicherheit und Gewaltenteilung hergeleiteten Bedenken zurück. Danach ist es verfassungsrechtlich denkbar und zulässig, daß eine allgemein gefaßte Verfassungsnorm zahlreiche Einzelvorschriften des einfachen Rechts ohne spezielle Aufzählung außer Kraft setzt und als unmittelbar anzuwendende Generalklausel an die Stelle der aufgehobenen Bestimmungen tritt (vgl. BVerfGE, a.a.O., S. 243 f.).
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b) Die Verfassungsregelung über die Stellung der unehelichen Kinder unterscheidet sich von der Regelung der Gleichberechti ![]() ![]() | |
Somit ist die in Art. 6 Abs. 5 GG enthaltene Anweisung an den Gesetzgeber ähnlich wie Art. 3 Abs. 2 in Verbindung mit Art. 117 Abs. 1 GG als eine Ausnahme von der unmittelbaren Geltung der Grundrechte gemäß Art. 1 Abs. 3 GG anzusehen: Der Verfassunggeber wollte für eine vorübergehende Zeit bestimmte mit den Grundrechten nicht vereinbare Vorschriften des einfachen Rechts weitergelten lassen, um dem Gesetzgeber Gelegenheit zu ![]() ![]() | |
Dieser Auslegung der Verfassung steht nicht entgegen, daß zwar für die Geltung der Gleichberechtigung ein bestimmter Stichtag festgelegt ist, in Art. 6 Abs. 5 GG dagegen jede Befristung fehlt. Der Verfassunggeber wollte der Gleichberechtigung besonderen Vorrang zuerkennen und ihre Verwirklichung unter allen Umständen in einer verhältnismäßig kurzen Frist sicherstellen. Bei der Reform des Unehelichenrechts glaubte er, dem Gesetzgeber, möglicherweise wegen des Zusammenhangs mit der durch die Gleichberechtigung gebotenen Neuordnung des Familienrechts, einen größeren zeitlichen Spielraum einräumen zu können. Wie sich aus den Materialien ergibt, bestand im Parlamentarischen Rat allgemeine Übereinstimmung nicht nur über die Reformbedürftigkeit des Unehelichenrechts, sondern auch über die Dringlichkeit der Reform; die Möglichkeit einer Untätigkeit des Gesetzgebers wurde nicht in Erwägung gezogen (vgl. Protokolle der 21. und 43. Sitzung des Hauptausschusses des Parlamentarischen Rates vom 7. Dezember 1948 und 18. Januar 1949, besonders die Ausführungen der Abgeordneten Dr. Süsterhenn [CDU] und Frau Dr. Weber [CDU], Frau Nadig [SPD], Dr. Bergstraesser [SPD], Dr. Greve [SPD], Dr. Heuss [FDP], Frau Wessel [Z] und Renner [KPD]). Es kommt also darauf an, wie der in Art. 6 Abs. 5 GG zum Ausdruck gekommene objektive Wille der Verfassung für den von dem Verfassunggeber nicht vorausgesehenen, jedenfalls nicht ausdrücklich geregelten Fall der Untätigkeit des Gesetzgebers zu interpretieren ist. Es wäre mit ![]() ![]() | |
c) Hierin liegt schon deswegen kein Verstoß gegen den Grundsatz der Gewaltenteilung, weil der aus der Untätigkeit des Gesetzgebers folgende Funktionszuwachs der Rechtsprechung nur subsidiärer Natur ist: Dem Gesetzgeber steht es jederzeit frei, die Erfüllung des zunächst an ihn gerichteten Verfassungsauftrags wieder an sich zu ziehen und nach seinen Vorstellungen zu verwirklichen. Außerdem hat das Bundesverfassungsgericht in der Entscheidung zu Art. 117 Abs. 1 GG ausgeführt, daß der Auftrag, auf Grund einer unmittelbar anwendbar gewordenen Generalklausel die zur Lösung der Einzelfälle nötigen Regelungen zu entwickeln, die an die Stelle der außer Kraft gesetzten älteren Spezialvorschriften treten, im modernen Rechtsstaat eine echte richterliche Aufgabe darstellt (BVerfGE 3, 225 [242 ff.]). Es hat als Beispiel u. a. die zahlreichen Rechtssätze und Rechtsinstitute genannt, welche die Rechtsprechung aus dem Grundsatz von Treu und Glauben entwickelt hat, und darauf verwiesen, daß der moderne Gesetzgeber vielerorts unbestimmte Rechtsbegriffe und allgemeine Rechtsregeln verwendet, weil es unmöglich ist, mit Spezialnormen der Vielfalt der Lebensverhältnisse Herr zu werden und zugleich einen Weg zu der rechtlichen Differenzierung zu eröffnen, ohne die sich im Einzelfall oft keine gerechte Entscheidung treffen läßt. Da auch das geltende Familienrecht nicht ohne solche Generalklauseln auskommen kann, steht der Aktualisierung einer Verfassungsnorm auch nicht entgegen, daß sie neben wirtschaftlichen Fragen auch immaterielle Fragen des Ehe- und Familienrechts betrifft (BVerfGE, a.a.O., S. 244). ![]() ![]() | |
5. Eine ähnliche Aktualisierung des Art. 6 Abs. 5 GG setzt voraus,
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a) daß die Verfassungsnorm einen hinreichend klaren positiven Rechtsgehalt hat, um ohne unerträgliche Gefährdung der Rechtssicherheit als unmittelbar anwendbare Generalklausel zu fungieren,
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b) daß die angemessene Frist für den Erlaß des Anpassungsgesetzes abgelaufen ist.
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Zu a) Die erste Voraussetzung ist grundsätzlich gegeben, weil sich die Vorschrift nicht in einer wertneutralen Anweisung zur Regelung einer bestimmten Materie erschöpft, sondern eine positive richtungweisende Wertentscheidung trifft. Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts enthält Art. 6 Abs. 5 GG insoweit eine echte Rechtsnorm, die bereits vor einer Aktualisierung als Auslegungsmaßstab für das überkommene Recht und als Prüfungsmaßstab für nachkonstitutionelles Recht unmittelbare Beachtung fordert (vgl. BVerfGE 8, 210 [217 ff.]; 17, 148 [153 ff.]; 17, 280 [283 ff.]; 22, 163 [172 ff.]). Diese Wertentscheidung geht davon aus, daß die unehelichen Kinder nach der mit den Mitteln des Rechts allein nicht behebbaren tatsächlichen und sozialen Situation insgesamt ungünstigere Lebensbedingungen vorfinden als die ehelichen Kinder und daß sie zudem durch das bei Erlaß des Grundgesetzes geltende Recht gegenüber den ehelichen Kindern wesentlich benachteiligt sind. Diesen ![]() ![]() | |
Dieser Rechtsgehalt reicht aus, um dem Richter in der Regel eine Entscheidung über die Weitergeltung der bisherigen Rechtsvorschriften und gegebenenfalls die Ausfüllung der entstandenen Lücken zu ermöglichen. Freilich können sich Schwierigkeiten daraus ergeben, daß Art. 6 Abs. 5 GG keine schematische Übertragung der für eheliche Kinder geltenden Rechtsvorschriften auf die unehelichen Kinder verlangt. Das "starre" Ziel des Verfassungsauftrags, "die gleichen Bedingungen" wie für eheliche Kinder zu schaffen, läßt sich u. U. auf verschiedene Weise erreichen. Namentlich kann die verschiedene Ausgangslage es rechtfertigen oder sogar geboten erscheinen lassen, das uneheliche Kind anders und günstiger zu behandeln als das eheliche Kind, um dem Verfassungsauftrag gerecht zu werden (vgl. BVerfGE 17, 280 [284]; 22, 163 [173]). In dieser Hinsicht ist die Regelung einer Einzelfrage, etwa im Unterhaltsrecht, nicht isoliert, sondern in ihrem Zusammenhang mit anderen Regelungen des betreffenden Sachbereiches zu würdigen (vgl. BVerfGE 17, 280 [284]). Daß sich hierbei in bestimmten Fällen verschiedene Möglichkeiten zur Verwirklichung des Verfassungsauftrags ergeben können, steht aber einer Aktualisierung noch nicht entgegen, wenn das Problem mit den erprobten Mitteln der Interpretation und rechtsschöpferischen Lückenfüllung gelöst werden kann, z.B. durch entsprechende Anwendung der Regelungen für die in einer vergleichbaren Lage befindlichen ehelichen Kinder, deren Eltern geschieden sind oder getrennt leben. Etwas anderes gilt erst, wenn die ![]() ![]() | |
Zu b) Aus dem Verhältnis der gesetzgebenden zu der rechtsprechenden Gewalt in der Verfassungsordnung folgt, daß bei der Entscheidung über das Vorliegen der zweiten Voraussetzung der Aktualisierung Zurückhaltung geboten ist. Wenn die Verfassung einen Gesetzgebungsauftrag erteilt, ohne ihn ausdrücklich zu befristen, so liegt die zeitliche Erledigung zunächst in der Dispositionsfreiheit des Gesetzgebers, die von den anderen Gewalten grundsätzlich respektiert werden muß. Es kommt hinzu, daß die Feststellung, die angemessene Frist für die Erfüllung eines Verfassungsauftrags sei verstrichen, zwangsläufig den Vorwurf einer - mindestens objektiven - Verletzung der Verfassung enthält. Daher werden die Organe der Rechtsprechung erst dann eine solche Verfassungsverletzung feststellen können, wenn die Untätigkeit des Gesetzgebers solange andauert, daß sie auch unter Beachtung seiner grundsätzlichen Dispositionsfreiheit und unter Würdigung aller die Verzögerung rechtfertigenden oder erklärenden Umstände nicht mehr erträglich erscheint. ![]() ![]() | |
Da eine Frist für ein Handeln des Gesetzgebers zu bestimmen ist, kommt als sachgerechter Anknüpfungspunkt, auch im Hinblick auf den Grundsatz der Diskontinuität, das Ende einer Legislaturperiode in Betracht (vgl. BVerfGE 15, 337 [352]). Es ist somit zu fragen, ob mit dem Ablauf einer der vergangenen Legislaturperioden des Bundestages, spätestens mit dem Ablauf der vierten Legislaturperiode im Herbst 1965, der Zeitpunkt für eine Aktualisierung des Art. 6 Abs. 5 GG durch den Richter eingetreten ist.
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Hierfür ist einerseits zu berücksichtigen, daß die Reformbedürftigkeit der geltenden privatrechtlichen Vorschriften schon bald nach Erlaß des Bürgerlichen Gesetzbuches erkannt worden ist und diese Erkenntnis bereits zur Zeit der Monarchie, erst recht aber zur Zeit der Weimarer Republik unter dem Einfluß des Art. 121 WRV zu einer umfangreichen kritischen Auseinandersetzung und einer Fülle von Reformvorschlägen geführt hat. Den Organen der Legislative war auch spätestens seit der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 23. Oktober 1958 ![]() ![]() | |
Andererseits war der Gesetzgeber im ersten Jahrzehnt nach Errichtung der Bundesrepublik außerordentlich belastet, besonders durch Gesetzesvorhaben, die der allgemeinen Existenzsicherung, der Wiedergutmachung und Beseitigung der Kriegsfolgen sowie der inneren Konsolidierung des Staatswesens dienten. Auf dem Gebiete des Familienrechts mußte wegen des in der Verfassung gesetzten Stichtages (1. April 1953) zunächst die Durchführung der Gleichberechtigung von Mann und Frau in Angriff genommen werden. Wegen der Zusammenhänge zwischen beiden Materien ließ es sich rechtfertigen, vor der Reform des Unehelichenrechts zunächst die Verabschiedung des Gleichberechtigungsgesetzes abzuwarten, die sich bis zum Sommer 1957 hinzog. Immerhin brachte das Familienrechtsänderungsgesetz vom 11. August 1961 (BGBl. I S. 1221) Teilregelungen für einige besonders vordringliche Fragen, namentlich eine gewisse Verbesserung des Unterhaltsrechts und der Stellung der unehelichen Mutter. Vor allem handelt es sich bei der privatrechtlichen Rechtsstellung der unehelichen Kinder um eine nicht einfache und vielschichtige Materie, deren Regelung sorgfältiger Vorbereitung bedarf und wegen ihrer allgemeinen Bedeutung nicht nur die Beteiligung bestimmter interessierter Institutionen und Organisationen, sondern auch eine Diskussion in der breiteren Öffentlichkeit wünschenswert erscheinen läßt. Insoweit haben allerdings die Erörterungen im Schrifttum, auf dem Deutschen Juristentag in Hannover 1962, in der von der Arbeitsgemeinschaft für Jugendpflege und Jugendfürsorge eingesetzten Kommission, im Deutschen Institut für Vormundschaftswesen, innerhalb der Kirchen und zahlreicher konfessioneller und sozialer Organisationen seit Beginn der sechziger Jahre zu einer Klärung der Meinungen geführt. Die dabei erarbeiteten Vorschläge und Gesetzentwürfe haben ebenso wie die gleichzeitigen Reformarbeiten in anderen Ländern wesentlich zur Sichtung der streitigen Fragen und der Lösungsmöglichkeiten beigetragen. Auch auf dieser Grundlage ![]() ![]() | |
Die Bundesregierung hat im September 1967 dem Bundesrat den Entwurf eines Gesetzes über die rechtliche Stellung der unehelichen Kinder vorgelegt, der die Neuordnung der bürgerlichrechtlichen Stellung des unehelichen Kindes zum Gegenstand hat, und diesen Entwurf am 7. Dezember 1967 im Bundestag eingebracht (BTDrucks. V/2370). Der Bundestag hat den Entwurf am 17. Januar 1968 in erster Lesung beraten (vgl. StenBer. der 146. Sitzung, S. 7557 ff.); die Beratungen des Entwurfs im federführenden Rechtsausschuß des Bundestags und in dem von ihm eingesetzten Unterausschuß "Unehelichenrecht" sind bereits erheblich fortgeschritten (vgl. die Protokolle des Rechtsausschusses vom 12. Dezember 1968 [103. Sitzung] und vom 16. Januar 1969 [105. Sitzung] und die Protokolle des Unterausschusses ab 2. Dezember 1968 [1. Beratung] bis 23. Januar 1969 [23. Beratung]). Den Gesetzgebungsorganen ist bewußt, daß der Ablauf der ihnen gegebenen angemessenen Frist auch bei großzügiger Bemessung unmittelbar bevorsteht (vgl. die Ausführungen des Bundesjustizministers Heinemann und des Abgeordneten Köppler bei der ersten Lesung des Gesetzentwurfs im Bundestag; StenBer. der 146. Sitzung, S. 7557 ff. und 7570 f.). Bei dieser Sachlage wird der Gesetzgeber dem Verfassungsauftrag des Art. 6 Abs. 5 GG nur dann gerecht, wenn er die Reform des Unehe ![]() ![]() | |
6. Insgesamt ist danach festzustellen, daß der Verfassungsauftrag des Art. 6 Abs. 5 GG unmittelbar durch die Gerichte verwirklicht werden kann und muß, sofern der Gesetzgeber ihn nicht binnen angemessener Frist erfüllt. Diese Frist läuft jedoch erst mit dem Ende der gegenwärtigen Legislaturperiode ab. Danach waren zu dem hier maßgeblichen Zeitpunkt die einschlägigen Bestimmungen des Bürgerlichen Gesetzbuches über den Ausschluß des unehelichen Kindes vom Erbrecht und über seinen Anspruch gegen die Erben des Vaters aus § 1712 BGB noch nicht durch Art. 6 Abs. 5 GG außer Kraft gesetzt worden, gleichgültig ob man den Eintritt des Erbfalls oder den Erlaß der angefochtenen Gerichtsentscheidung für wesentlich hält.
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II.
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Der Erfolg der Verfassungsbeschwerde hängt daher allein davon ab, ob die angefochtene Gerichtsentscheidung bei der Auslegung und Anwendung des § 1712 BGB in Verbindung mit den Rentenvorschriften des Sozialversicherungsrechts die Einwirkung des Art. 6 Abs. 5 GG auf die Auslegung des einfachen Rechts hinreichend beachtet hat (vgl. BVerfGE 8, 210 [217]; 7, 198 [207]; 18, 85 [92 f.]). Dies ist zu verneinen.
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1. Im Schrifttum überwiegt die Auffassung, daß die Waisenrente die Verpflichtung des Erben aus § 1712 BGB nicht berührt, während in der Rechtsprechung der Landgerichte, die in den entsprechenden Rechtsstreitigkeiten regelmäßig in letzter Instanz entscheiden (vgl. § 23 Nr. 2 Buchst. f, § 72 GVG), die Meinungen geteilt sind (s. die Übersicht bei Göppinger, a.a.O., Rdnr. 18 zu § 1712).
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Nach Ansicht derjenigen, die eine Anrechnung der Waisenrente auf den Anspruch aus § 1712 BGB für geboten erachten, erfüllt der Sozialversicherungsträger durch die Zahlung der Rente gemäß § 267 BGB die Unterhaltsschuld des verstorbenen Versicherten oder seines Erben, weil die Waisenrente nicht pri ![]() ![]() | |
Die Gegner der Anrechnung meinen demgegenüber, der Anspruch auf Waisenrente und der Anspruch aus § 1712 BGB unterschieden sich nach ihrer Rechtsnatur und Ausgestaltung wesentlich voneinander und seien daher im Verhältnis zueinander völlig selbständig. Vor allem dienten sie verschiedenen Zwecken: Der Anspruch aus § 1712 BGB solle dem unehelichen Kind einen gewissen Ersatz für das fehlende Recht auf einen Erbteil oder Pflichtteil bieten, während die Sozialversicherungsrenten ein Mittel staatlicher Vorsorge für bestimmte schicksalsmäßige Lebenssituationen darstellten. Der Sozialversicherungsträger erfülle mit der Zahlung der Rente ausschließlich eine eigene Verpflichtung und wolle nicht andere Unterhaltspflichtige entlasten; demgemäß werde die Waisenrente auch an eheliche Kinder ebenso wie an Stief- und Pflegekinder ohne Rücksicht auf ihre Bedürftigkeit und unabhängig von dem Bestehen eines Unterhaltsanspruchs gegen den verstorbenen Versicherten gezahlt. Eine Sozialversicherung könne nicht einem Vertrag zugunsten Dritter gleichgeachtet werden, weil der Versicherte auf Begründung und Inhalt des Versicherungsverhältnisses keinen Einfluß habe. Außerdem seien die Leistungen aus der Sozialversicherung keine echten Gegenleistungen für die vom Versicherten gezahlten Beiträge, weil sie auch durch die Arbeitgeberanteile und durch staatliche ![]() ![]() | |
Aus der gleichen Erwägung halten einige Autoren und Gerichte die Gewährung beider Ansprüche nebeneinander für verfassungsrechtlich geboten; Art. 6 Abs. 5 GG verbiete, dem unehelichen Kind den ihm vom Bürgerlichen Gesetzbuch zugedachten Ausgleich für das fehlende Erbrecht zu nehmen (vgl. Beitzke, FamRZ 1960, S. 451 ff.; Dölle, Familienrecht, Bd. II, 1965, S. 416; Göppinger, a.a.O.; LG Koblenz, DAVorm XXXI [1958/1959], Sp. 76; LG Ravensburg, DAVorm XXXV [1962], Sp. 89 ff. [91]).
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Der Bundesgerichtshof hat in der Entscheidung vom 26. November 1965 (BGHZ 44, 312; vgl. schon BGHZ 30, 162 [172]) ebenfalls die Anrechnung der Waisenrente auf den Anspruch aus § 1712 BGB abgelehnt. Die Begründung stimmt im wesentlichen mit den vorstehenden aus der Auslegung des einfachen Rechts gewonnenen Argumenten überein. Zur Widerlegung der in der Rechtsprechung z. T. aus Art. 6 Abs. 1 GG hergeleiteten verfassungsrechtlichen Bedenken weist der Bundesgerichtshof noch darauf hin, daß das uneheliche Kind, wenn sein Vater stirbt, unterhaltsrechtlich insgesamt viel weniger gesichert sei als das eheliche Kind, dem außer dem Erb- oder Pflichtteilsrecht gegebenenfalls noch ein Unterhaltsanspruch gegen die väterlichen Aszendenten zustehe.
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2. Wie bereits ausgeführt, enthält Art. 6 Abs. 5 GG eine Ausprägung des allgemeinen Gleichheitssatzes und eine Schutznorm zugunsten der unehelichen Kinder (BVerfGE 17, 280 [286]; 17, 148 [153]). Den damit getroffenen Wertentscheidungen muß die ![]() ![]() | |
3. a) Nach diesen Auslegungsgrundsätzen kann im vorliegenden Fall eine Anrechnung der Waisenrente auf den Anspruch nach § 1712 BGB nicht als verfassungsgerecht angesehen werden. Zunächst ließe es sich bereits rechtfertigen, wenn das uneheliche Kind, das bei einer Gesamtbetrachtung nach dem derzeitigen Familien- und Erbrecht gegenüber dem ehelichen Kind wesentlich benachteiligt ist, zum Ausgleich in einzelnen Beziehungen vermögensrechtlich besser gestellt würde (vgl. BVerfGE 17, 280 [284 ff.]; 22, 163 [172 f.]). Jedoch kommt es hierauf nicht an. Auch abgesehen von dieser Gesamtbetrachtung ist die Situation des unehelichen Kindes beim Tode seines Vaters nach geltendem Recht weit ungünstiger als die des ehelichen Kindes: Die ehelichen Kinder erhalten neben der Waisenrente ein Erbrecht am väterlichen Nachlaß, jedenfalls aber ein Pflichtteilsrecht; sie haben ferner die Chance, daß die Mutter oder die väterlichen Großeltern vermöge ihres Erbrechts an diesem Nachlaß überhaupt oder besser instandgesetzt werden, ihrer Unterhaltspflicht nachzukommen; schließlich haben sie auch unabhängig vom Vorhandensein eines Nachlasses einen Unterhaltsanspruch gegen die väterlichen Aszendenten. Alles dies fehlt den unehelichen Kindern; sie haben neben der Waisenrente lediglich den begrenzten Anspruch aus § 1712 BGB.
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Zwar ist dieser Anspruch nach dem Wortlaut der Vorschrift und ihrer Stellung im Gesetz als "Unterhaltsanspruch" bezeichnet: Die - überwiegend schuldrechtlich gestaltete - Unterhaltspflicht des Vaters setzt sich gewissermaßen über seinen Tod hinaus fort, während der Unterhaltsanspruch des ehelichen Kindes ![]() ![]() | |
Auch die Motive zum Bürgerlichen Gesetzbuch sprechen dafür, daß dieser Anspruch dem unehelichen Kind einen Ausgleich für das fehlende Erbrecht gewähren sollte; die mit § 1712 BGB be ![]() ![]() | |
"Die rechtliche Natur des hier fraglichen Anspruches als eines auf der Vaterschaft beruhenden familienrechtlichen Anspruches weist an sich darauf hin, den letzteren, wie im Falle des § 1496, mit dem Tode des unehelichen Vaters erlöschen zu lassen. Allein bei einer solchen Gestaltung kann das uneheliche Kind erheblich leiden, und zwar namentlich dann, wenn der vermögende Vater frühzeitig stirbt. Das Kind solchenfalls leer ausgehen zu lassen, widerstreitet dem Rechtsgefühle und dem Interesse der öffentlichen Armenpflege. Man würde dazu gedrängt werden, dem unehelichen Kinde zur Ausgleichung ein Erbrecht gegenüber dem unehelichen Vater einzuräumen, ein Ausweg, gegen welchen indessen ebenfalls erhebliche Bedenken sprechen." (Motive zum BGB, Bd. IV, S. 902, zu § 1575).
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Der Gesetzgeber des Bürgerlichen Gesetzbuches ging also davon aus, daß er mit Rücksicht auf das Rechtsgefühl dem unehelichen Kind entweder ein reguläres Erbrecht einräumen oder es in der Form eines "verlängerten Unterhaltsanspruchs" am Nachlaß des Vaters beteiligen müsse; er entschied sich für das letztere. Er sorgte daher von seinem Standpunkt für die Waisen vor, indem er den ehelichen Waisen einen Erb- oder Pflichtteilsanspruch zusprach, den unehelichen Waisen wenigstens den Anspruch aus § 1712 BGB gegen die Erben des Vaters gewährte, jedoch höchstens bis zur Pflichtteilsquote eines ehelichen Kindes. Für beide Gruppen von Waisen haben später die Sozialversicherungsgesetze eine zusätzliche Vorsorge geschaffen, indem sie ihnen Rentenansprüche einräumten. Bisher ist noch niemals erwogen worden, bei den ehelichen Kindern die Waisenrente auf den Erbteil oder den Pflichtteilsanspruch anzurechnen. Dann ist es aber auch nicht gerechtfertigt, bei den unehelichen Kindern eine derartige Anrechnung vorzunehmen mit der Folge, daß die Stellung der unehelichen Kinder sogar hinter den Absichten des BGB-Gesetzgebers zurückbliebe. Dies wäre mit der Wertentscheidung des Art. 6 Abs. 5 GG nicht vereinbar. Solange der Verfassungsauf ![]() ![]() | |
b) Die Gegner dieser Auffassung berufen sich zu Unrecht darauf, daß bei ehelichen Kindern die Gewährung einer Waisenrente die bestehenden familienrechtlichen Unterhaltsansprüche beeinträchtige. Zwar kann das eheliche Kind Unterhaltsansprüche gegen seine Eltern oder gegen andere Verwandte stets nur geltend machen, wenn es im Sinne des § 1602 BGB unterhaltsbedürftig, d. h. auch bei Berücksichtigung etwaiger Einkünfte aus Vermögen oder eigener Arbeit außerstande ist, sich selbst zu unterhalten. Soweit seine Bedürftigkeit durch eine Waisenrente beseitigt oder gemindert wird, entfällt der familienrechtliche Unterhaltsanspruch. Die subsidiären Unterhaltsansprüche des unehelichen Kindes nach dem Tode seines Vaters sind aber genauso geregelt: Im Verhältnis des unehelichen Kindes zu seiner Mutter und zu deren Verwandten findet § 1602 BGB uneingeschränkt Anwendung (§ 1705 BGB). Wenn für den Anspruch nach § 1712 BGB wegen der überwiegend schuldrechtlichen Gestaltung des Unterhaltsanspruches des unehelichen Kindes gegen seinen Erzeuger etwas anderes gilt, so liegt hierin bei sachgerechter Betrachtung keine Bevorzugung, weil dieser Anspruch des unehelichen Kindes das Äquivalent des Erb- und Pflichtteilsrechtes der ehelichen Kinder darstellt, für das es ebenfalls nicht auf die Bedürftigkeit des Berechtigten ankommt.
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c) Aus den gleichen Erwägungen kann der Auffassung des Bundesministers der Justiz nicht gefolgt werden, die Anrechnung der Waisenrente sei gerechtfertigt, weil anderenfalls die Erben des unehelichen Vaters schlechter gestellt würden als der Erblasser. Außerdem dienen die dem unehelichen wie dem ehelichen Vater zu seinen Lebzeiten zufließenden Kinderzuschüsse, Kinderzuschläge oder Kindergelder dem Zweck, dem Unterhaltspflichtigen selbst die Erfüllung seiner Unterhaltspflicht zu erleichtern oder die besonderen Lasten der mehrere Kinder betreuenden Familie auszugleichen (vgl. BVerfGE 22, 163 [169 ff.]). Der ![]() ![]() | |
d) Gewiß ist dem Bundesminister der Justiz darin zuzustimmen, daß die gleichzeitige Gewährung des Anspruchs aus § 1712 BGB und der Waisenrente die derzeit noch bestehende Benachteiligung der unehelichen Kinder gegenüber den ehelichen nicht völlig auszugleichen vermag. Hiermit läßt sich jedoch die Anrechnung der Waisenrente nicht rechtfertigen. Denn jedenfalls kommt es der Verwirklichung des Verfassungszieles näher, wenn wenigstens in bezug auf die Stellung des unehelichen Kindes nach dem Tode seines Vaters ein Schritt getan wird, um seine vermögensrechtliche Lage der des ehelichen Kindes anzugleichen.
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4. Im Schrifttum und in der Rechtsprechung wird es nicht selten für erforderlich angesehen, eine Regelung zugunsten des unehelichen Kindes neben der Prüfung an Art. 6 Abs. 5 GG noch besonders an Art. 6 Abs. 1 GG zu messen und nur dann für verfassungsgemäß zu erklären, wenn sie das uneheliche Kind nicht besser stellt als das eheliche Kind. Diese Betrachtung beruht auf einem unzutreffenden Ausgangspunkt, nämlich auf der Vorstellung einer Antinomie der beiden Verfassungsnormen und der ![]() ![]() | |
Die vom Verfassunggeber vorausgesetzte ungünstige Ausgangsposition des unehelichen Kindes beruht gerade darauf, daß nach den in Art. 6 Abs. 1 GG verfassungsrechtlich garantierten Wertvorstellungen die Ehe die einzige legitime Form umfassender Lebensgemeinschaft zwischen Mann und Frau ist und die gesunde körperliche und seelische Entwicklung des Kindes grundsätzlich das Geborgensein in der nur in der Ehe verwirklichten vollständigen Familiengemeinschaft mit Vater und Mutter voraussetzt (vgl. BVerfGE 22, 163 [173]; 24, 119 [149]). Gerade weil das uneheliche Kind durch das Fehlen dieser Familiengemeinschaft von vornherein benachteiligt ist, will der Verfassunggeber mit den Mitteln der Rechtsordnung und sonstiger staatlicher Vorsorge einen gewissen Ausgleich für diesen Mangel schaffen: Das Kind soll so wenig wie möglich unter dem Verhalten seiner Erzeuger und einer daraus erwachsenden gesellschaftlichen Diskriminierung leiden; es soll als Wesen mit eigener Menschenwürde und mit eigenem Recht auf Entfaltung seiner Persönlichkeit möglichst die gleichen Chancen für seine Entwicklung und für seine Stellung in der Gesellschaft erhalten wie ein eheliches Kind (vgl. BVerfGE 24, 119 [144, 149]). Daher bilden zwar die Entwicklungsbedingungen des ehelichen Kindes und dessen gesellschaftliche Stellung insgesamt den Richtpunkt oder das Modell ![]() ![]() | |
Im übrigen folgt aus den früheren Ausführungen, daß auch bei ungeschmälertem Nebeneinander des Anspruchs aus § 1712 BGB und der Waisenrente das uneheliche Kind nicht besser steht als das eheliche Kind. Denn der Anspruch aus § 1712 BGB kann wegen § 1712 Abs. 2 praktisch nur durchgesetzt werden, wenn überhaupt ein Nachlaß vorhanden ist. Ist dies aber der Fall, so erhält das uneheliche Kind normalerweise (wenn das eheliche Kind zu den Erben gehört) wertmäßig höchstens die Hälfte des Betrages, den das erbberechtigte eheliche Kind bekommt, im Ausnahmefall (wenn das eheliche Kind auf den Pflichtteil gesetzt ist) höchstens den gleichen Betrag wie das eheliche Kind.
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5. Gebietet Art. 6 Abs. 5 GG danach grundsätzlich, die Waisenrente nicht auf den verlängerten Unterhaltsanspruch des § 1712 BGB anzurechnen, so fragt sich, ob dies nur bis zum Zeitpunkt der Vollendung des 16. Lebensjahres oder auch für das 17. und 18. Lebensjahr des unehelichen Kindes gilt. Die Unterhaltsansprüche des unehelichen Kindes für die beiden genannten Zeiträume sind verschieden gestaltet. Nach der ursprünglichen Fassung des § 1708 BGB endete der Unterhaltsanspruch des unehelichen Kindes grundsätzlich mit der Vollendung des 16. Lebensjahres. Das Familienrechtsänderungsgesetz vom 11. August 1961 (BGBl. I S. 1221) hat zusätzlich einen Unterhaltsanspruch für das 17. und 18. Lebensjahr geschaffen, jedoch mit der Einschränkung, daß auf Verlangen des Vaters eigenes Einkommen des Kindes zu berücksichtigen ist, soweit dies der Billigkeit entspricht (§ 1708 Abs. 1 Sätze 1 und 3 BGB; s. dazu BVerfGE 17, 280 [283 ff.]). ![]() ![]() | |