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Bearbeitung, zuletzt am 15.03.2020, durch: Sabiha Akagündüz, A. Tschentscher | |||
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7. Auszug aus dem Urteil |
vom 17. Februar 1971 |
i.S. X. gegen Bezirksanwaltschaft Zürich und Justizdirektion des Kantons Zürich. | |
Regeste |
Persönliche Freiheit; Untersuchungshaft. |
Die durch ungeschriebenes Verfassungsrecht des Bundes gewährleistete persönliche Freiheit schützt als verfassungsrechtlicher Leitgrundsatz alle Freiheiten, welche elementare Erscheinungen der Persönlichkeitsentfaltung des Menschen darstellen. Sie bietet auf diese Weise einen umfassenden Grundrechtsschutz, der sich auf den Inhalt und Umfang der übrigen verfassungsmässig gewährleisteten Freiheitsrechte entscheidend auswirkt; sie gilt als notwendige Voraussetzung für deren Ausübung und wirkt überdies als unmittelbar anwendbares Verfassungsrecht in dem Sinne komplementär, als sich der Bürger in Fällen, in denen kein dem geschriebenen oder ungeschriebenen Verfassungsrecht angehörendes Freiheitsrecht in Frage steht, zum Schutz seiner Persönlichkeit und Menschenwürde auf sie berufen kann. |
Der Untersuchungsgefangene darf in seiner individuellen Freiheit nicht weiter beschränkt werden, als es der Zweck der Untersuchung und die Gefängnisordnung erfordern; er darf während der Untersuchungshaft insbesondere nicht zur Arbeit verpflichtet werden. | |
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A. | |
§ 76 der zürcherischen Strafprozessordnung (StPO) lautet wie folgt:
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"Die Untersuchungsverhafteten werden, wenn nicht besondere Gründe entgegenstehen, in Einzelhaft verwahrt.
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Sie werden bezüglich Nahrung und Kleidung wie die zu Haft Verurteilten gehalten.
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Im übrigen dürfen sie in ihrer Freiheit nicht mehr beschränkt werden, als der Zweck des Verhaftes es erfordert.
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Ordnungswidriges Betragen des Verhafteten wird mit Ordnungsbusse oder mit den in der Hausordnung für die Bezirksgefängnisse vorgesehenen Disziplinarstrafen geahndet, und zwar während der Untersuchung vom Untersuchungsbeamten und nach Überweisung an das Gericht durch das letztere".
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Die zürchereische Verordnung über die Bezirksgefängnisse vom 7. Februar 1963 (GefängnisVO) enthält hiezu folgende ergän zende Bestimmungen:
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§ 60
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"Untersuchungsgefangene können sich gemäss § 33 Absatz 2 selbst beschäftigen.
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Die Untersuchungs- oder Anklagebehörde kann die Zuweisung von Arbeit schriftlich untersagen."
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§ 33 Abs. 2 und 3
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"Gefangene, die berechtigt sind, sich selbst Arbeit zu beschaffen..., können dies nur im Rahmen der Gefängnisordnung tun (insbesondere ![]() ![]() | 11 |
Beschäftigt sich der hiezu berechtigte Gefangene nicht selber, so hat er die ihm zugewiesene Arbeit zu verrichten".
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B. | |
Frl. X. steht bei der Bezirksanwaltschaft Zürich in Strafuntersuchung und befindet sich seit 31. August 1970 in Untersuchungshaft. Ihr Verteidiger liess der Gefängnisverwaltung mit Zustimmung des zuständigen Bezirksanwalts Malutensilien zugehen mit der Bitte, diese der Untersuchungsgefangenen auszuhändigen. Die Wärterin lehnte dieses Begehren jedoch ab mit der Begründung, Frl. X. weigere sich, die ihr zugewiesenen Klebearbeiten auszuführen, weshalb ihr auch keine Freizeitbeschäftigung gestattet werden könne. Der Verteidiger stellte hierauf beim zuständigen Bezirksanwalt das förmliche Gesuch, es sei Frl. X. das erwähnte Malzeug auszuhändigen. Dieser wies indessen das Gesuch am 16. November 1970 ab und verwies zur Begründung auf die Vernehmlassung der Gefängnisverwaltung, in welcher ausgeführt wurde, dem Begehren könne mit Rücksicht auf die Gefängnisordnung nicht stattgegeben werden.
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C. | |
Frl. X. erhob gegen die Verfügung des Bezirksanwalts Rekurs bei der Justizdirektion mit dem Antrag, die Gefängnisverwaltung sei anzuweisen, ihr das Malen in der Untersuchungshaft zu gestatten. Die Justizdirektion wies den Rekurs am 2. Dezember 1970 ab, und zwar im wesentlichen mit folgender Begründung: Der angefochtene Entscheid des Bezirksanwalts stelle eine Disziplinarmassnahme dar. Der Rekurrentin werde das Malzeug vorenthalten, weil sie sich weigere, die ihr zugewiesene Arbeit zu verrichten. Hinsichtlich der Arbeitspflicht der Untersuchungsgefangenen gälten grundsätzlich die gleichen Vorschriften wie für die Strafgefangenen, mit der Ausnahme, dass sich jene selbst eine Beschäftigung verschaffen könnten (§§ 33 und 60 GefängnisVO). Die Rekurrentin mache zu Unrecht geltend, die Arbeitspflicht der Untersuchungsgefangenen verstosse gegen die verfassungsmässig gewährleistete persönliche Freiheit. Wohl dürften die Untersuchungshäftlinge in ihrer Freiheit nicht mehr beschränkt werden, als es der Zweck der Verhaftung erfordere (§ 76 Abs. 3 StPO); ebenso sei richtig, dass diese Bestimmung bezwecke, den Untersuchungsgefangenen ![]() ![]() | 14 |
D. | |
Frl. X. führt staatsrechtliche Beschwerde wegen Verletzung der persönlichen Freiheit (Art. 7 KV). Sie beantragt, der Entscheid vom 2. Dezember 1970 sei aufzuheben und die Justizdirektion sei anzuweisen, ihr die freie Beschäftigung, namentlich das Malen, in der Untersuchungshaft zu gestatten. Die Beschwerdebegründung ergibt sich, soweit wesentlich, aus den nachfolgenden Erwägungen.
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E. | |
Die Justizdirektion des Kantons Zürich beantragt in ihrer Vernehmlassung, die Beschwerde sei abzuweisen. Die Bezirksanwaltschaft Zürich hat auf Gegenbemerkungen verzichtet.
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Auszug aus den Erwägungen: | |
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
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Erwägung 1 | |
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Erwägung 2 | |
2.- Die Beschwerdeführerin macht geltend, der angefochtene Entscheid verstosse gegen die in Art. 7 KV gewährleistete ![]() ![]() | 19 |
Erwägung 3 | |
3.- Das Bundesgericht hat im grundlegenden Entscheid BGE 90 I 36 ausgeführt, dem Grundrecht der persönlichen Freiheit komme insoweit überragende Bedeutung zu, als es als notwendige Voraussetzung für die Ausübung der übrigen verfassungsrechtlich gewährleisteten Freiheitsrechte zu gelten habe; die persönliche Freiheit garantiere somit nicht bloss das Recht auf freie Bewegung bzw. körperliche Unversehrtheit, sondern schütze den Bürger vielmehr auch in der ihm eigenen Fähigkeit, eine bestimmte tatsächliche Begebenheit zu würdigen und danach zu handeln. Mit dieser Rechtsprechung hat sich das Bundesgericht zwar nicht die Auffassung GIACOMETTIS zu eigen gemacht, wonach die Verfassung - unter Vorbehalt ausdrücklicher Ausnahmen - überhaupt jede individuelle Freiheit gewährleistet, die durch einen staatlichen Eingriff je verletzt werden könnte (Z. GIACOMETTI, Die Freiheitsrechtskataloge als Kodifikation der Freiheit, ZSR 74/1955, S. 149 ff.; vgl. dazu auch Y. HANGARTNER, Die Freiheitsgarantie der Bundesverfassung, ZBl 70/1969, S. 337 ff.; kritisch JÖRG P. MÜLLER, Die Grundrechte der Verfassung und der Persönlichkeitsschutz des Privatrechts, Diss. Bern 1964, S. 134 ff., und P. SALADIN, Grundrechte im Wandel, Bern 1970, S. 289 sowie BGE 96 I 107, 223/4). Es hat sich jedoch im erwähnten Urteil BGE 90 I 36 in unzweideutiger Weise zu einer Wertordnung bekannt, die es sich zur Aufgabe macht, "die Menschenwürde und den Eigenwert des Individuums sicherzustellen" (GIACOMETTI a.a.O., S. 165). Die in diesem Sinne institutionell verstandene persönliche Freiheit gewährleistet somit als verfassungsrechtlicher Leitgrundsatz alle Freiheiten, welche elementare Erscheinungen der Persönlichkeitsentfaltung des Menschen darstellen; sie bietet auf diese Weise einen umfassenden Grundrechtsschutz, der sich auf den Inhalt und Umfang der übrigen verfassungsmässig gewährleisteten ![]() ![]() | 20 |
Die persönliche Freiheit gehört zum Kreis der unverzichtbaren und unverjährbaren Rechte (BGE 90 I 37 mit Verweisungen). Daraus folgt namentlich, dass der Bürger dem Staate gegenüber nicht zum voraus und endgültig darauf verzichten kann. Das heisst indessen nicht, dass die persönliche Freiheit keinen Beschränkungen unterliegt. Eingriffe sind jedoch nur zulässig, wenn sie auf gesetzlicher Grundlage beruhen, im öffentlichen Interesse liegen und wenn sie das Grundrecht überdies weder völlig unterdrücken noch seines Gehalts als fundamentale Institution unserer Rechtsordnung entleeren (BGE 95 I 360 Erw. 2, 91 I 34 Erw. 2, 90 I 36/7). Der Wesenskern der persönlichen Freiheit geniesst somit einen absoluten Schutz. Welche Beschränkungen vor der Freiheitsgarantie standhalten, lässt sich jedoch mit Rücksicht auf die dem Wandel unterworfene ethische Wertordnung und in Anbetracht der sich verändernden Sozialverhältnisse nicht ein für allemal verbindlich festsetzen. Ob staatliche Eingriffe mit der persönlichen Freiheit vereinbar sind, ist vielmehr von Fall zu Fall zu entscheiden (BGE 90 I 37). Als Leitidee hat dabei die Erhaltung eines Staatswesens zu gelten, welches dem Bürger in jedem Fall ein bestimmtes Mindestmass an persönlichen Entfaltungsmöglichkeiten belässt. Ebenso sind der Entscheidung je nach den Verhältnissen des konkreten Falles die einer rechtsstaatlichen Freiheitsidee entsprechenden philosophischen und ethischen Prinzipien zugrunde zu legen, die jedoch ihrerseits gewissen Wandlungen unterworfen sein können. Weiter hat der Verfassungsrichter bei der Umschreibung der geschützten Freiheitssphäre den Grundsatz der Verhältnismässigkeit zu beachten und eine Wertung der sich gegenüberstehenden Rechtsgüter und Interessen vorzunehmen. Nicht zuletzt hat er auch rechtsvergleichende Überlegungen ![]() ![]() | 21 |
Erwägung 4 | |
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a) Die Beschwerdeführerin steht als Untersuchungsgefangene in einem sog. besonderen Gewaltverhältnis zum Staat. Wohl bedarf die zwangsweise Begründung eines solchen Gewaltverhältnisses (z.B. Eintritt in den Militärdienst, Anstaltsversorgung, Einweisung in eine Strafanstalt) als Beschränkung der individuellen Freiheit in jedem Fall einer hinreichenden gesetzlichen Grundlage, welche das Bundesgericht frei prüft, wenn ![]() ![]() | 23 |
24 | |
Die Untersuchungshaft bezweckt, die ordnungsgemässe Durchführung einer Strafuntersuchung sicherzustellen; sie soll verhindern, dass der Angeschuldigte sich dem Verfahren durch Flucht entzieht oder dass er die Spuren seiner Straftat verwischen und damit die Abklärung des Sachverhalts vereiteln kann (BGE 96 IV 46; vgl. auch V. SCHWANDER, Das schweizerische Strafgesetzbuch, 2. Aufl., S. 236 ff.; F. CLERC, La détention ![]() ![]() ![]() ![]() | 25 |
Erwägung 5 | |
5.- Da die Beschwerdeführerin nicht zur Arbeit verpflichtet werden kann, erweist sich die gegen sie verhängte Disziplinarmassnahme als verfassungswidrig. Das Grundrecht der persönlichen Freiheit erheischt, der Beschwerdeführerin während der Untersuchungshaft wie den übrigen Untersuchungsgefangenen das Recht auf freie Beschäftigung zuzuerkennen, wie es der zürcherische Gesetzgeber im übrigen in § 60 Abs. 1 in Verbindung mit § 33 Abs. 2 GefängnisVO ausdrücklich vorgesehen hat. Dabei ist unerheblich, ob die von der Beschwerdeführerin gewählte Beschäftigung als eigentliche Erwerbstätigkeit bezeichnet werden kann oder als blosser Zeitvertreib anzusehen ist. Dass das Malen in der Zelle die Gefängnisordnung in unzulässiger Weise beeinträchtige oder den Zweck der Untersuchung gefährde, wird im übrigen weder von der Gefängnisverwaltung noch von der Justizdirektion behauptet, so dass einer entsprechenden Erlaubnis grundsätzlich nichts entgegensteht. Die Gefängnisverwaltung hat freilich das Recht, der Beschwerdeführerin bestimmte, sich aus den räumlichen Verhältnissen ergebende Beschränkungen aufzuerlegen. Mit Rücksicht darauf ist davon abzusehen, die kantonalen Behörden im Dispositiv des vorliegenden Entscheids in der von der Beschwerdeführerin begehrten allgemeinen Form anzuweisen, ihr das ![]() ![]() | 26 |
Entscheid: | |
Demnach erkennt das Bundesgericht: | |
Die Beschwerde wird gutgeheissen und der angefochtene Entscheid der Justizdirektion des Kantons Zürich vom 2. Dezember 1970 aufgehoben. ![]() | 27 |
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