![]() ![]() | |||
| |||
Bearbeitung, zuletzt am 15.03.2020, durch: A. Tschentscher | |||
![]() | ![]() |
2. Auszug aus dem Urteil der Strafrechtlichen Abteilung i.S. X. gegen Staatsanwaltschaft des Kantons Appenzell A.Rh. (Beschwerde in Strafsachen) |
6B_345/2011 vom 17. November 2011 | |
Regeste |
Grobe Verletzung von Sitte und Anstand in der Öffentlichkeit (Art. 19 des Strafrechts des Kantons Appenzell A.Rh.), "Nacktwandern"; Gesetzgebungskompetenz der Kantone auf dem Gebiet des Übertretungsstrafrechts (Art. 335 Abs. 1 StGB); Bestimmtheitsgebot (Art. 1 StGB); persönliche Freiheit (Art. 10 Abs. 2 BV); Verbotsirrtum (Art. 21 StGB); Strafbefreiung wegen fehlenden Strafbedürfnisses (Art. 52 StGB). |
Die Kantone sind gestützt auf Art. 335 Abs. 1 StGB befugt, das "Nacktwandern" im öffentlichen Raum unter Strafe zu stellen (E. 3). |
Eine Norm, welche demjenigen Strafe androht, der "öffentlich Sitte und Anstand grob verletzt", ist hinreichend bestimmt (E. 4). |
Das "Nacktwandern" kann willkürfrei als grobe Verletzung von Sitte und Anstand qualifiziert werden (E. 5). |
Der Tatbestand setzt nicht voraus, dass der "Nacktwanderer" auf einen Menschen trifft, der dadurch in seinem Anstandsgefühl verletzt wird (E. 6). |
Verletzung des Grundrechts der persönlichen Freiheit verneint (E. 7). |
Verbotsirrtum verneint (E. 8). |
Keine Strafbefreiung wegen fehlenden Strafbedürfnisses (E. 9). | |
Sachverhalt | |
![]() | 1 |
B.a Das Verhöramt Appenzell A.Rh. verurteilte X. mit Strafverfügung vom 23. November 2009 wegen unanständigen Benehmens im Sinne von Art. 19 des Gesetzes über das kantonale Strafrecht des Kantons Appenzell A.Rh. zu einer Busse von 100 Franken respektive zu einer Ersatzfreiheitsstrafe von einem Tag bei schuldhafter Nichtbezahlung der Busse.
| 2 |
B.b Die Kantonsgerichtspräsidentin von Appenzell A.Rh. sprach X. mit Urteil vom 27. Mai 2010 frei.
| 3 |
B.c Das Obergericht von Appenzell A.Rh. verurteilte X. mit Entscheid vom 17. Januar 2011 in Gutheissung der Appellation der Staatsanwaltschaft wegen unanständigen Benehmens im Sinne von Art. 19 al. 2 des Gesetzes über das kantonale Strafrecht des Kantons Appenzell A.Rh. zu einer Busse von 100 Franken.
| 4 |
C. X. führt Beschwerde in Strafsachen mit den Anträgen, das Urteil des Obergerichts sei aufzuheben und er sei vom Vorwurf des unanständigen Benehmens freizusprechen. Zudem ersucht er um Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege. ![]() | 5 |
6 | |
E. Das Bundesgericht hat sein Urteil in einer öffentlichen Sitzung gefällt.
| 7 |
Aus den Erwägungen: | |
Erwägung 2 | |
8 | |
Erwägung 3.1 | |
9 | |
10 | |
Erwägung 3.2 | |
3.2 Der Fünfte Titel des Schweizerischen Strafgesetzbuches enthielt vor der Revision des Sexualstrafrechts durch das Bundesgesetz vom 21. Juni 1991, in Kraft seit 1. Oktober 1992, unter dem 3. Abschnitt betreffend "Verletzung der öffentlichen Sittlichkeit" den Tatbestand der "öffentlichen unzüchtigen Handlung" (aArt. 203 StGB). Danach wurde mit Gefängnis oder mit Busse bestraft, wer öffentlich eine ![]() ![]() | 11 |
aArt. 203 StGB wurde im Rahmen der Revision des Sexualstrafrechts durch das Bundesgesetz vom 21. Juni 1991 aufgehoben. Die Botschaft des Bundesrates hält dazu fest, dass sich beim Tatbestand der "öffentlichen unzüchtigen Handlung" die Grenze der Strafbarkeit nur schwer bestimmen liess, die Strafnorm Anlass zu einer weiten richterlichen Auslegung gab und der Strafrichter von der Pflicht befreit werden solle, in solchen Fällen den Sittenrichter spielen zu müssen. Die Botschaft verweist auf die Doktrin, wonach jedenfalls Handlungen ohne sexuelle Bedeutung entgegen der Rechtsprechung niemals unzüchtig sein könnten und im Übrigen der Massstab der durchschnittlichen sittlichen Anschauung ohnehin verfehlt sei (Botschaft vom 26. Juni 1985 über die Änderung des Schweizerischen Strafgesetzbuches und des Militärstrafgesetzes [Strafbare Handlungen gegen Leib und Leben, gegen die Sittlichkeit und gegen die Familie], BBl 1985 II 1009 ff., 1079 f.). An die Stelle des aufgehobenen Tatbestands der "öffentlichen unzüchtigen Handlung" sind die Tatbestände des "Exhibitionismus" und der "sexuellen Belästigungen" getreten, die allerdings im Unterschied zum aufgehobenen Tatbestand keine Öffentlichkeit voraussetzen (Botschaft, a.a.O., 1079 f., 1092 f.).
| 12 |
Erwägung 3.3 | |
3.3.1 Soweit das Schweizerische Strafgesetzbuch die Angriffe auf ein Rechtsgut durch ein geschlossenes System von Normen abschliessend regelt, bleibt für kantonales Übertretungsstrafrecht kein Raum (BGE 129 IV 276 E. 2.1; BGE 117 Ia 472 E. 2b; je mit Hinweisen). Art. 187 ff. StGB regeln die Angriffe auf die sexuelle Integrität abschliessend (TRECHSEL/LIEBER, in: Schweizerisches Strafgesetzbuch, Praxiskommentar, 2008, N. 9 zu Art. 335 StGB; ROLAND WIPRÄCHTIGER, in: Basler Kommentar, Strafrecht, Bd. II, 2. Aufl. 2007, N. 17 zu Art. 335 StGB; siehe auch BGE 81 IV 124).
| 13 |
3.3.2 Daraus folgt jedoch nicht, dass ein Verhalten in der Öffentlichkeit, welches, wie etwa das nicht sexuell motivierte Entblössen des Intimbereichs im öffentlichen Raum, unter dem Geltungsbereich des früheren Sexualstrafrechts allenfalls gemäss aArt. 203 StGB als ![]() ![]() | 14 |
Unter dem Geltungsbereich des früheren Sexualstrafrechts unterschied die Rechtsprechung zwischen dem Polizeigut der öffentlichen Sittlichkeit und dem strafrechtlich geschützten Rechtsgut der Sittlichkeit, die nicht notwendig identisch seien (BGE 106 Ia 267 E. 3a mit Hinweis). Nicht sexuell motivierte Entblössungen in der Öffentlichkeit wurden von der Praxis je nach den Umständen nach kantonalem Übertretungsstrafrecht (Polizeistrafrecht) oder als "öffentliche unzüchtige Handlung" gemäss aArt. 203 StGB bestraft (siehe BGE 89 IV 129; BGE 103 IV 167), je nachdem, ob die Entblössung lediglich Sitte und Anstand oder auch den geschlechtlichen Anstand verletzte. Demgegenüber wurde in der Lehre die Auffassung vertreten, dass Betätigungen ohne sexuelle Bedeutung und somit unter anderem nicht sexuell motivierte Entblössungen nie unzüchtig seien und daher im Falle ihrer Vornahme in der Öffentlichkeit nicht unter den Anwendungsbereich des Tatbestands der "öffentlichen unzüchtigen Handlung" (aArt. 203 StGB) fielen, sondern ausschliesslich eine Angelegenheit des kantonalen Polizeirechts seien (GÜNTER STRATENWERTH, Schweizerisches Strafrecht, Besonderer Teil, Bd. II, 3. Aufl. 1984, § 27 N. 3, 6). Die Revision des Sexualstrafrechts trug dieser Kritik Rechnung. Die nicht sexuell motivierte Entblössung im öffentlichen Raum ist nicht nach StGB strafbar. An der Kompetenz der Kantone, solche Verhaltensweisen in ihrem Übertretungsstrafrecht gestützt auf Art. 335 Abs. 1 StGB zum Schutz des Polizeiguts der "öffentlichen Sittlichkeit" beziehungsweise der "guten Sitten" respektive von "Sitte und Anstand" etc. unter Strafe zu stellen, hat sich dadurch nichts geändert. Die zitierte Botschaft des Bundesrates (BBl 1985 II 1009 ff.) enthält denn auch keinerlei Hinweise, die dafür sprechen könnten, dass die Kantone infolge der Revision des Sexualstrafrechts und der Aufhebung von aArt. 203 StGB betreffend die öffentliche unzüchtige Handlung nicht mehr befugt seien, in ihrem Übertretungsstrafrecht für Verletzung von Sitte und Anstand in der Öffentlichkeit Strafe anzudrohen, beziehungsweise dass infolge der Revision des Sexualstrafrechts die nicht sexuell motivierte Entblössung in der Öffentlichkeit nicht mehr als Verletzung von Sitte und Anstand im Sinne der Bestimmungen des kantonalen Übertretungsstrafrechts ![]() ![]() | 15 |
Die Bestrafung des Nacktwanderns im öffentlichen Raum in Anwendung von kantonalem Übertretungsstrafrecht verstösst daher nicht gegen Art. 335 Abs. 1 StGB.
| 16 |
Erwägung 3.4 | |
17 | |
3.4.2 Die Vorbringen des Beschwerdeführers gehen an der Sache vorbei. Es mag zutreffen, dass Einschränkungen und Verbote durch polizeiliche Realakte und durch Verfügungen der Verwaltung einzig unter Berufung auf die "öffentliche Sittlichkeit" problematisch sein können. Daraus leitet der zitierte Autor die Forderung ab, die ![]() ![]() | 18 |
Erwägung 4 | |
4.1 Eine Strafe oder Massnahme darf nur wegen einer Tat verhängt werden, die das Gesetz ausdrücklich unter Strafe stellt (Art. 1 StGB). Der Grundsatz der Legalität ("nulla poena sine lege") ist ebenfalls in Art. 7 EMRK ausdrücklich verankert. Er ergibt sich auch aus Art. 5 ![]() ![]() | 19 |
Aus dem Grundsatz der Legalität wird das Bestimmtheitsgebot abgeleitet ("nulla poena sine lege certa"). Eine Strafnorm muss hinreichend bestimmt sein. Welche Anforderungen daran zu stellen sind, hängt unter anderem von der Komplexität der Regelungsmaterie und der angedrohten Strafe ab (POPP/LEVANTE, in: Basler Kommentar, Strafrecht, Bd. I, 2. Aufl. 2007, N. 32 zu Art. 1 StGB, mit Hinweisen). Das Gesetz muss so präzise formuliert sein, dass der Bürger sein Verhalten danach richten und die Folgen eines bestimmten Verhaltens mit einem den Umständen entsprechenden Grad an Gewissheit erkennen kann (BGE 119 IV 242 E. 1c; BGE 117 Ia 472 E. 3e; je mit Hinweisen). Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts und des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte darf das Gebot nach Bestimmtheit rechtlicher Normen indessen nicht in absoluter Weise verstanden werden. Der Gesetzgeber kann nicht darauf verzichten, allgemeine und mehr oder minder vage Begriffe zu verwenden, deren Auslegung und Anwendung der Praxis überlassen werden muss. Der Grad der erforderlichen Bestimmtheit lässt sich nicht abstrakt festlegen. Er hängt unter anderem von der Vielfalt der zu ordnenden Sachverhalte, von der Komplexität und der Vorhersehbarkeit der im Einzelfall erforderlichen Entscheidung, von den Normadressaten, von der Schwere des Eingriffs in Verfassungsrechte und von der erst bei der Konkretisierung im Einzelfall möglichen und sachgerechten Entscheidung ab (BGE 132 I 49 E. 6.2; BGE 128 I 327 E. 4.2; je mit Hinweisen; Urteil des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte Larissis Dimitrios gegen Griechenland vom 24. Februar 1998, Recueil CourEDH 1998-I S. 362). ![]() | 20 |
![]() | 21 |
Gleichartige oder ähnliche Strafbestimmungen betreffend Verletzung von Sitte und Anstand sind auch in Übertretungsstrafgesetzen beziehungsweise Einführungsgesetzen anderer Kantone enthalten. Bestraft wird etwa, "wer sich öffentlich ein unanständiges Benehmen zuschulden kommen lässt" (Art. 12 lit. b des bernischen Gesetzes über das kantonale Strafrecht); "wer sich öffentlich ein unanständiges, Sitte und Anstand verletzendes Benehmen zuschulden kommen lässt" (§ 23 Abs. 2 erste Hälfte des solothurnischen Gesetzes über das kantonale Strafrecht); "wer sich öffentlich ein Sitte und Anstand verletzendes Benehmen zuschulden kommen lässt" (Art. 10 des Glarner Gesetzes über die Einführung des Schweizerischen Strafgesetzbuches); "wer sich öffentlich in einer Sitte und Anstand grob verletzenden Weise aufführt" (§ 18 Abs. 2 des Übertretungsstrafgesetzes des Kantons Luzern); "wer durch sein Benehmen in der Öffentlichkeit Sitte und Anstand grob verletzt" (§ 18 Abs. 2 des Schwyzer Gesetzes über das kantonale Strafrecht, ebenso Art. 6 Ziff. 2 des Übertretungsstrafgesetzes des Kantons Nidwalden).
| 22 |
Art. 19 al. 2 Strafrecht/AR, wonach bestraft wird, wer öffentlich Sitte und Anstand grob verletzt, ist mit Rücksicht auf die gemäss der vorstehend zitierten Rechtsprechung massgebenden Kriterien hinreichend bestimmt. Aus der Norm ergibt sich klar und unmissverständlich, dass die grobe Verletzung von Sitte und Anstand in der Öffentlichkeit strafbar ist. Eine andere Frage ist, ob das inkriminierte Verhalten überhaupt Sitte und Anstand verletzt und ob eine allfällige Verletzung grob ist.
| 23 |
Erwägung 5.1 | |
5.1 Das Bundesgericht prüft die Verletzung von kantonalem Recht nur insofern, als eine solche Rüge in der Beschwerde vorgebracht und begründet worden ist (Art. 106 Abs. 1 BGG). Es prüft die Auslegung und Anwendung von kantonalen Gesetzesbestimmungen, unter Vorbehalt von hier nicht in Betracht fallenden Ausnahmen (siehe ![]() ![]() | 24 |
Zu prüfen ist, ob die Auffassung der Vorinstanz, der Beschwerdeführer habe durch das inkriminierte Nacktwandern öffentlich Sitte und Anstand grob verletzt, willkürlich, also schlechterdings unhaltbar ist.
| 25 |
Erwägung 5.2 | |
26 | |
Erwägung 5.3 | |
5.3 Ob ein Verhalten Sitte und Anstand verletzt und ob diese Verletzung als grob erscheint, beurteilt sich nicht nach dem Eindruck des besonders unsensiblen oder des besonders empfindsamen, sondern nach der Einschätzung des durchschnittlich empfindenden Menschen. Darüber muss der Richter entscheiden. Es kommt entgegen der Meinung des Beschwerdeführers nicht in Betracht, die Frage, ob und gegebenenfalls in welchem Ausmass ein bestimmtes Verhalten unter welchen Voraussetzungen Sitte und Anstand verletzt, durch sog. repräsentative Umfragen zu klären. Die Anschauungen ![]() ![]() | 27 |
Erwägung 5.4 | |
28 | |
29 | |
30 | |
5.4.4 In diesem Zusammenhang ist auch darauf hinzuweisen, dass das Volk des Kantons Appenzell I.Rh., welches nach der vom Beschwerdeführer nicht angefochtenen Einschätzung der Vorinstanz eine ähnliche Mentalität besitzt wie die Bevölkerung des Kantons ![]() ![]() | 31 |
32 | |
Erwägung 5.5 | |
33 | |
5.5.2 Wohl ist davon auszugehen, dass das Nacktwandern in einer belebten Innenstadt schwerer wiegt als das Nacktwandern in einer abgelegenen Gegend abseits von Wanderwegen. Dies betrifft indessen lediglich das Mass des Verschuldens. Beim Nacktwandern in der Abgeschiedenheit kommt, soweit sich überhaupt ein Anzeigeerstatter findet, allenfalls eine Strafbefreiung wegen fehlenden Strafbedürfnisses in Betracht. Im Übrigen liesse sich ohnehin nicht hinreichend zuverlässig bestimmen, bei welchen örtlichen Gegebenheiten und übrigen konkreten Umständen im Einzelnen das Nacktwandern ![]() ![]() | 34 |
Die Beschwerde ist auch in diesem Punkt unbegründet.
| 35 |
Erwägung 6 | |
36 | |
Erwägung 7 | |
37 | |
7.1 Das Grundrecht auf persönliche Freiheit umfasst neben den in Art. 10 Abs. 2 BV ausdrücklich genannten Rechten auch das Recht auf Selbstbestimmung und auf individuelle Lebensgestaltung sowie den Schutz der elementaren Erscheinungen der Persönlichkeitsentfaltung (BGE 133 I 110 E. 5.2 mit Hinweisen; RAINER J. SCHWEIZER, in: Die schweizerische Bundesverfassung, Kommentar, Bernhard Ehrenzeller und andere [Hrsg.], 2. Aufl. 2008, N. 5, 25 ff. zu Art. 10 BV). Das Grundrecht enthält jedoch keine allgemeine Handlungsfreiheit, auf die sich der Einzelne gegenüber jedem staatlichen Akt, der sich auf seine persönliche Lebensgestaltung auswirkt, berufen ![]() ![]() | 38 |
39 | |
Das Grundrecht auf persönliche Freiheit wird dadurch, dass der Mensch beim Wandern im öffentlichen Raum sich wenigstens im Intimbereich zu bekleiden hat, höchstens geringfügig eingeschränkt. Daher sind an die Voraussetzungen für die Einschränkung keine hohen Anforderungen zu stellen. Das Verbot des Nacktwanderns im öffentlichen Raum findet in Art. 19 Strafrecht/AR eine ausreichende gesetzliche Grundlage. Das Verbot liegt schon mit Rücksicht auf die nachvollziehbare Empörung über das Nacktwandern in Teilen der Bevölkerung und die daher möglichen Zwistigkeiten sowie zwecks Verhinderung von Auswüchsen im öffentlichen Interesse. Das Verbot des Nacktwanderns unter Androhung einer Busse im Zuwiderhandlungsfall ist auch insoweit, als es für abgelegene Gegenden des Kantons mit entsprechend geringem Risiko einer Begegnung gilt, verhältnismässig, da das Gebot, sich wenigstens im Intimbereich zu bekleiden, nur eine minimale Beschränkung der persönlichen Freiheit darstellt, die Begegnung mit einem Nacktwanderer auch in einer abgelegenen Gegend mit Grund Anstoss erregen kann und für sportliche Betätigungen in nacktem Zustand beispielsweise in Anlagen für Freikörperkultur Möglichkeiten bestehen.
| 40 |
Die Verurteilung des Beschwerdeführers zu einer Busse von Fr. 100.- wegen Nacktwanderns in Anwendung kantonalen Rechts verletzt das Grundrecht auf persönliche Freiheit nicht.
| 41 |
42 | |
![]() | |
43 | |
44 | |
Auf das Wissen um die Strafbarkeit kommt es indessen nicht an (BGE 128 IV 201 E. 2; TRECHSEL/JEAN-RICHARD, in: Schweizerisches Strafgesetzbuch, Praxiskommentar, 2008, N. 4 zu Art. 21 StGB). Ein Rechtsirrtum liegt nicht schon vor, wenn der Täter sein Verhalten irrtümlich für straflos hält, sondern nur, wenn er nicht weiss und nicht wissen kann, dass er sich rechtswidrig verhält. Inwiefern dies der Fall ist, legt der Beschwerdeführer nicht dar und ist nicht ersichtlich. Das Fehlen einer Strafbestimmung, die ausdrücklich auch das Nacktwandern mit Strafe bedroht, lässt sich im Übrigen aus verschiedenen Gründen erklären, etwa damit, dass das Nacktwandern im Zeitpunkt der inkriminierten Tat noch neu war oder dass der zuständige Gesetzgeber die bestehenden Gesetzesbestimmungen als ausreichend auch für eine Bestrafung des Nacktwanderns erachtet oder dass er die Androhung von Strafe als nicht opportun beziehungsweise zweckmässig respektive erforderlich einschätzt, etwa weil die Zahl der Nacktwanderer sehr klein und daher das Risiko, einen Nacktwanderer anzutreffen oder auch nur in der Ferne zu erblicken, äusserst gering ist. Ein Sitte und Anstand grob verletzendes Verhalten ist im Kanton Appenzell A.Rh. rechtswidrig, weil es durch eine Strafnorm, Art. 19 Strafrecht/AR, verboten wird. Ein allfälliger Irrtum des Beschwerdeführers, dass er durch das inkriminierte Nacktwandern nicht im Sinne von Art. 19 Strafrecht/AR Sitte und Anstand ![]() ![]() ![]() | 45 |
46 | |
Erwägung 9 | |
47 | |
Diese Voraussetzungen sind vorliegend nicht erfüllt. Der Beschwerdeführer war nicht in einem Gelände unterwegs, wo die Begegnung mit anderen Menschen unwahrscheinlich war, sondern er wanderte nackt an einem Sonntagnachmittag, bei schönem Wetter, auf einem Wanderweg in einem Naherholungsgebiet in der Nähe von Herisau, wo mit andern Menschen, auch Familien mit Kindern, stets gerechnet werden musste, und er spazierte nackt tatsächlich an einer Familie mit kleinen Kindern vorbei. Das Nacktwandern löst bei einem nicht unerheblichen Teil der Bevölkerung Empörung aus. Eine Strafbefreiung in Anwendung von Art. 52 StGB lässt sich weder unter spezial- noch unter generalpräventiven Gesichtspunkten rechtfertigen.
| 48 |
Diese Voraussetzungen sind vorliegend nicht erfüllt. Der Beschwerdeführer war nicht in einem Gelände unterwegs, wo die Begegnung mit anderen Menschen unwahrscheinlich war, sondern er wanderte nackt an einem Sonntagnachmittag, bei schönem Wetter, auf einem Wanderweg in einem Naherholungsgebiet in der Nähe von Herisau, wo mit andern Menschen, auch Familien mit Kindern, stets gerechnet werden musste, und er spazierte nackt tatsächlich an einer Familie mit kleinen Kindern vorbei. Das Nacktwandern löst bei einem nicht unerheblichen Teil der Bevölkerung Empörung aus. Eine Strafbefreiung in Anwendung von Art. 52 StGB lässt sich weder unter spezial- noch unter generalpräventiven Gesichtspunkten rechtfertigen.
| 49 |
50 | |
© 1994-2020 Das Fallrecht (DFR). |