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Bearbeitung, zuletzt am 15.03.2020, durch: A. Tschentscher | |||
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37. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlichrechtlichen Abteilung |
vom 30. Juni 2000 |
i.S. X. gegen Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich |
(Verwaltungsgerichtsbeschwerde) | |
Regeste |
Beginn der Verwirkungsfrist bei Straftaten, deren Schadensfolgen für das Opfer erst einige Zeit nach dem tatbestandsmässigen Verhalten eintreten bzw. erkennbar werden (E. 2-5; Präzisierung der Rechtsprechung); bei Ansteckung des Opfers mit dem HI-Virus und späterem Ausbruch von AIDS (E. 6 u. 7). | |
Auszug aus den Erwägungen: | |
Aus den Erwägungen:
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Erwägung 2 | |
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"Das Opfer muss die Gesuche um Entschädigung und Genugtuung innert zwei Jahren nach der Straftat bei der Behörde einreichen; andernfalls verwirkt es seine Ansprüche."
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aa) Der Wortlaut von Art. 16 Abs. 3 OHG verlangt für das Einsetzen des Fristenlaufes eine "Straftat" ("infraction", "reato"). Eine Straftat im Sinne des OHG liegt grundsätzlich vor, wenn der objektive Straftatbestand erfüllt und kein Rechtfertigungsgrund gegeben ist (BGE 125 II 265 E. 2a/bb S. 268; 122 II 211 E. 3b S. 215, je mit Hinweisen; vgl. Botschaft vom 25. April 1990 zum OHG, BBl 1990 II 977). ![]() | 5 |
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bb) Dem Opfer darf es allerdings nicht faktisch verunmöglicht sein, innerhalb der Verwirkungsfrist ein substanziertes Opferhilfegesuch zu stellen. Andernfalls würde der Sinn und Zweck des OHG unterlaufen (vgl. BBl 1990 II 909 ff., S. 942; BGE 123 II 241 E. 3c S. 243). Zwar müssen im Zeitpunkt der Einreichung des Opferhilfegesuches die Tatbestandsmerkmale noch nicht durch Strafuntersuchung oder Anklageerhebung konkretisiert (oder gar durch ein rechtskräftiges Urteil nachgewiesen) sein. Nach Treu und Glauben muss dem Opfer allerdings ein Minimum an Informationen über die Straftat bzw. deren Umstände und Schadensfolgen vorliegen, die es ihm möglich und zumutbar machen, ein ausreichend substanziertes Opferhilfegesuch zu stellen (vgl. BGE 126 II 97 E. 2e S. 101 f.). In der Literatur wird überwiegend die Auffassung vertreten, bei Straftaten, deren Schadensfolgen für das Opfer erst einige Zeit nach dem tatbestandsmässigen Verhalten eintreten bzw. erkennbar werden, setze die Verwirkungsfrist von Art. 16 Abs. 3 OHG erst ab Eintritt des Erfolges ein (vgl. RUTH BANTLI KELLER, Überblick über das Opferhilfegesetz, Kriminalistik 1995, S. 65 ff., 69; RUTH BANTLI KELLER/ULRICH WEDER/KURT MEIER, Anwendungsprobleme des Opferhilfegesetzes, Plädoyer 1995 Nr. 5, S. 30 ff., 44; PETER GOMM/PETER STEIN/DOMINIK ZEHNTNER, Kommentar zum Opferhilfegesetz, Bern 1995, Art. 16 N. 16-18). Das Bundesgericht hat diese Frage bisher ausdrücklich offen gelassen (nicht publiziertes Urteil vom 3. November 1999 i.S. G., E. 4c; vgl. auch BGE 123 II 241 E. 3d S. 243 f.).
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Erwägung 3 | |
3.- Unbestrittenermassen wurde die Beschwerdeführerin am 31. Juli 1993 von einem unbekannten Straftäter beraubt und ![]() ![]() | 8 |
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Der Kassationshof weist in diesem Zusammenhang ausdrücklich darauf hin, dass - über die HIV-Infektion hinaus - schon vor dem Ausbruch der AIDS-Krankheit erhebliche psychische, gesundheitliche und soziale Belastungen eintreten können, sobald das Opfer von der Ansteckung erfährt. Dazu gehörten nicht nur die "Gewissheit, ![]() ![]() | 12 |
Erwägung 4 | |
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a) Selbst wenn aus strafrechtlicher Sicht bereits die nicht diagnostizierte und vom Opfer nicht erkannte HIV-Ansteckung eine schwere Körperverletzung darstellt, ist damit noch keineswegs gesagt, dass der Ausbruch der eigentlichen AIDS-Krankheit nicht als Vollendung eines separaten Körperverletzungstatbestandes (in Idealkonkurrenz zur blossen HIV-Ansteckung) angesehen werden könnte. Für eine solche Beurteilung spräche jedenfalls, dass die AIDS-Krankheit ("Stadium IV") weit schwerwiegendere gesundheitliche Folgen nach sich zieht als die asymptomatische Phase der (stillen) HIV-Infektion ("Stadium II"), und dass die Betroffenen (wie im vorliegenden Fall) von der HIV-Infektion oft erst nach Ausbruch der AIDS-Erkrankung erfahren (vgl. Bundesamt für Gesundheitswesen ![]() ![]() | 14 |
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Einerseits ist auf den Schutzzweck des OHG sowie von Art. 124 BV - gerade zugunsten der Opfer schwerer Gewaltverbrechen - hinzuweisen. Das OHG soll den Opfern von Straftaten wirksame Hilfe ermöglichen und ihre Rechtsstellung verbessern (Art. 1 Abs. 1 OHG). Der Grad der Betroffenheit des Opfers stellt dabei ein massgebliches Kriterium für die Frage der Zulässigkeit der beantragten Opferhilfe dar (BGE 125 II 265 E. 2a S. 268 mit Hinweisen). Zum andern ist auf die - dem Grundsatz von Treu und Glauben (Art. 5 Abs. 3 BV) entspringende - bundesgerichtliche Praxis hinzuweisen, wonach das Opfer die Verwirkungsfrist von Art. 16 Abs. 3 OHG nach Massgabe des Zumutbaren zu wahren hat (vgl. oben, E. 2c/bb). Im Übrigen wäre die absolute strafrechtliche Verfolgungsverjährung für schwere Körperverletzung (selbst wenn sie schon am 31. Juli 1993 zu laufen begann) mit 15 Jahren erheblich länger als die bloss zweijährige Verwirkungsfrist von Art. 16 Abs. 3 OHG (Art. 70 Abs. 3 i.V.m. Art. 72 Ziff. 2 Abs. 2 und Art. 122 ![]() ![]() | 17 |
Erwägung 5 | |
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b) Die wirksame Inanspruchnahme von Opferhilfe setzt nach dem in Art. 5 Abs. 3 BV verankerten Grundsatz von Treu und Glauben aber auch voraus, dass das Opfer überhaupt davon Kenntnis erhält, dass es von einer schweren Straftat betroffen ist. Die Praxis verlangt ![]() ![]() | 20 |
c) Damit das Opfer das Vorliegen einer Straftat im Sinne des OHG überhaupt glaubhaft machen kann, muss es die massgebliche Schädigung bzw. Verletzung erkannt haben können (vgl. BGE 126 II 97 E. 2c S. 100 mit Hinweisen). Anders zu entscheiden hiesse, dem Sinn und Zweck des OHG zuwiderlaufende Anforderungen an die rechtzeitige Einreichung eines (substanzierten) Opferhilfegesuches zu stellen.
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d) Nach der Praxis des Bundesgerichtes erscheint aus opferhilferechtlicher Sicht massgeblich, ob die Beeinträchtigung des Geschädigten in seiner körperlichen, sexuellen oder psychischen Integrität das legitime Bedürfnis begründet, die Hilfsangebote und die Schutzrechte des OHG - ganz oder zumindest teilweise - in Anspruch zu nehmen (vgl. BGE 125 II 265 E. 2a/aa in fine S. 268). Im Sommer 1993 bestand für die Beschwerdeführerin kein Anlass, in Bezug auf die ihr nicht bekannte HIV-Ansteckung und die erst 1997 ärztlich diagnostizierte AIDS-Erkrankung bzw. schwere Körperverletzung die Hilfsangebote des OHG in Anspruch zu nehmen. Konkludent verzichtet hat die Beschwerdeführerin nur auf jene Opferhilfeansprüche, welche die (ihr schon im Sommer 1993 bekannten) Straftatbestände der Vergewaltigung und des Raubes betrafen. Es ist legitim und widerspricht dem Sinn und Zweck des OHG nicht, wenn das Opfer einer Vergewaltigung auf seine diesbezüglichen Entschädigungs- und Genugtuungsansprüche verzichtet, die ihm gesetzlich zustehenden Rechte jedoch in Anspruch nimmt, sobald es erkennt, dass es nicht nur von Raub und Vergewaltigung betroffen ist, sondern darüber hinaus auch noch von einer schweren Körperverletzung (hier: Ansteckung mit einer möglicherweise tödlich verlaufenden Krankheit). Im vorliegenden Fall wurden die HIV-Infektion und der Ausbruch der AIDS-Krankheit von den Ärzten erst am 7. August 1997 festgestellt. Die Beschwerdeführerin erhielt davon unbestrittenermassen erst am 12. August 1997 ![]() ![]() | 22 |
Erwägung 6 | |
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b) Im vorliegenden Fall hat die Beschwerdeführerin innert fünf Monaten seit Kenntnis der HIV-Infektion und der AIDS-Erkrankung das Opferhilfegesuch eingereicht. Bezüglich Vergewaltigung und Raub sind allfällige Opferhilfeansprüche zwar verwirkt. Es ist aber immerhin darauf hinzuweisen, dass die Beschwerdeführerin noch in Brasilien (am 15. September 1993 bei der Polizei von Bahia) Strafanzeige gegen Unbekannt erhoben hat. Gemäss den vorliegenden Akten liess sich die Beschwerdeführerin nach ihrer Rückkehr in die Schweiz ab 3. Mai 1994 bei verschiedenen Ärzten (Dr. A., Dr. F. und Dr. H.) wegen Dysmenorrhoe (starken Beschwerden während der Regelblutung) ärztlich behandeln. Gemäss Krankengeschichte erzählte die Patientin ihren Ärzten mehrmals ausdrücklich von der "Vergewaltigung in Brasilien". Während der symptomlosen Latenzzeit ("Stadium II") konnte die HIV-Infektion nur durch positiven HIV-Antikörpertest festgestellt werden (vgl. KUNZ, a.a.O., S. 40). Laut ärztlichem Bericht wurden bis August 1997 "keine HIV-Tests" durchgeführt. Da sie wegen der Vergewaltigung auch unter schweren psychischen Problemen litt, begab sich die Beschwerdeführerin ab Oktober 1994 in psychotherapeutische Behandlung. Unbestrittenermassen wurde die HIV-Infektion erst ![]() ![]() | 25 |
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Erwägung 7 | |
7.- Im Lichte der vorstehenden Erwägungen widerspricht es nicht nur dem Sinn und Zweck des OHG und von Art. 124 BV, sondern auch dem verfassungsmässigen Grundsatz von Treu und Glauben (Art. 5 Abs. 3 BV), wenn die kantonalen Instanzen im hier zu beurteilenden konkreten Fall von einer Verwirkung der Opferhilfeansprüche bezüglich der Straftatbestände von Art. 231 und Art. 122 StGB ausgegangen sind. Die Beschwerde ist daher gutzuheissen und der angefochtene Entscheid aufzuheben. Die kantonalen Behörden werden darüber zu befinden haben, ob und inwieweit die gesetzlichen Voraussetzungen für die Zusprechung einer Entschädigung und Genugtuung erfüllt sind. ![]() | 27 |
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