BVerfGE 119, 96 - Nachtragshaushaltsgesetz 2004 |
1. Für die Maßstäbe rechtzeitiger Einbringung eines Nachtragshaushaltsgesetzes des Bundes gelten die allgemeinen Grundsätze zu den Anforderungen an die gebotene gegenseitige Rücksichtnahme zwischen Verfassungsorganen. |
2. Aus dem Verfassungsgebot der Haushaltswahrheit folgt die Pflicht zur Schätzgenauigkeit mit dem Ziel, die Wirksamkeit der Budgetfunktionen im parlamentarischen Regierungssystem -- Leitung, Kontrolle und Transparenz durch Öffentlichkeit der staatlichen Tätigkeit -- zu gewährleisten. Die für die Einnahmen- und Ausgabenschätzungen erforderlichen Prognosen müssen aus der Sicht ex ante sachgerecht und vertretbar ausfallen. |
3. Grundlegende Revisionen des Regelungskonzepts der Art. 115 Abs. 1 Satz 2 und Art. 109 Abs. 2 GG bleiben dem verfassungsändernden Gesetzgeber vorbehalten. Im Hinblick auf den in der Normallage entscheidenden Begriff der Investitionen weist der Regelungsauftrag des Art. 115 Abs. 1 Satz 3 GG die Konkretisierung des verfassungsrechtlichen Tatbestands in erster Linie dem Verantwortungsbereich des Gesetzgebers, nicht dem des Bundesverfassungsgerichts zu. Auch zum Tatbestand einer Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts bleibt der Einschätzungs- und Beurteilungsspielraum des Gesetzgebers zu respektieren (Bestätigung von BVerfGE 79, 311). |
Urteil |
des Zweiten Senats vom 9. Juli 2007 aufgrund der mündlichen Verhandlung vom 14. Februar 2007 |
-- 2 BvF 1/04 -- |
in dem Verfahren zur verfassungsrechtlichen Prüfung, ob § 1 und § 2 Abs. 1 des Bundeshaushaltsgesetzes vom 18. Februar 2004 (BGBl I S. 230) in der Fassung der Art. 1 und 2 des Gesetzes über die Feststellung eines Nachtrags zum Bundeshaushaltsplan für das Haushaltsjahr 2004 (Nachtragshaushaltsgesetz 2004) vom 21. Dezember 2004 (BGBl I S. 3662) mit Art. 110 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 GG (§ 1 Haushaltsgesetz 2004 n. F.) sowie mit Art. 115 Abs. 1 Satz 2, Art. 20 Abs. 1 und 2, Art. 38 und Art. 39 Abs. 1 GG (§ 2 Abs. 1 Haushaltsgesetz 2004 n. F.) unvereinbar und daher nichtig sind; hilfsweise, soweit der Hauptantrag § 1 des Haushaltsgesetzes 2004 n. F. betrifft, festzustellen, dass dieser in seiner ursprünglichen Fassung insoweit mit Art. 110 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 GG unvereinbar gewesen ist, als der von ihm festgestellte Bundeshaushaltsplan 2004 -- im Einzelplan 60 (Allgemeine Finanzverwaltung) Kapitel 6002 Titel 121 04 (Anteil des Bundes am Reingewinn der Bundesbank) eine Einnahme von 3,5 Mrd. € auswies, obwohl die Bundesbank 2004 für das Geschäftsjahr 2003 lediglich einen Gewinn von 0,248 Mrd. € an den Bund hat abführen können, -- in den Einzelplänen 09 (Bundesministerium für Arbeit und Wirtschaft), 12 (Bundesministerium für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen) und 60 (Allgemeine Finanzverwaltung) nicht berücksichtigt hat, dass das Vierte Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt vom 24. Dezember 2003 -- Hartz IV -- (BGBl I S. 2954) nicht am 1. Juli 2004, sondern erst am 1. Januar 2005 in Kraft getreten ist, und dass aus diesem Grunde die von diesem Gesetz beeinflussten Einnahmen und Ausgaben in den genannten Einzelplänen nicht in der veranschlagten Höhe haben anfallen können, -- Antragsteller: 1. Dr. Angela Merkel, Mitglied des Deutschen Bundestages, 2. Michael Glos, Mitglied des Deutschen Bundestages, 3. Dr. Wolfgang Gerhardt, Mitglied des Deutschen Bundestages, und weitere 290 Mitglieder des Deutschen Bundestages, sämtlich: Platz der Republik 1, 11011 Berlin -- Bevollmächtigter: Prof. Dr. Reinhard Mußgnug, Keplerstraße 40, 69120 Heidelberg. |
Entscheidungsformel: |
1. § 1 des Gesetzes über die Feststellung des Bundeshaltshaltsplans für das Haushaltsjahr 2004 ist in der Gesetzesfassung vom 18. Februar 2004 (Bundesgesetzblatt I S. 230) und in der Fassung des Gesetzes über die Feststellung eines Nachtrags zum Bundeshaushaltsplan für das Haushaltsjahr 2004 vom 21. Dezember 2004 (Bundesgesetzblatt I S. 3662) mit dem Grundgesetz vereinbar gewesen. |
2. § 2 Absatz 1 des Gesetzes über die Feststellung des Bundeshaltshaltsplans für das Haushaltsjahr 2004 in der Fassung des Gesetzes über die Feststellung eines Nachtrags zum Bundeshaushaltsplan für das Haushaltsjahr 2004 vom 21. Dezember 2004 (Bundesgesetzblatt I S. 3662) ist mit dem Grundgesetz vereinbar gewesen. |
Gründe: |
A. |
Das abstrakte Normenkontrollverfahren betrifft zwei Fragenkomplexe: Zum einen geht es um die Frage, ob es mit Art. 110 Abs. 1 und Abs. 2 GG vereinbar gewesen ist, dass § 1 des Haushaltsgesetzes 2004 bei der Feststellung des Bundeshaushaltsplans für das Haushaltsjahr 2004 erst in der Fassung des Nachtragshaushaltsgesetzes 2004 vom 21. Dezember 2004 den (Soll-)Anteil des Bundes am Reingewinn der Deutschen Bundesbank in Höhe von 248 Mio. € (ursprünglich 3,5 Mrd. €) angesetzt sowie berücksichtigt hat, dass das Vierte Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt ("Hartz IV") vom 24. Dezember 2003 in seinen wesentlichen Teilen erst am 1. Januar 2005 in Kraft getreten ist. Hilfsweise geht es um die Feststellung, dass § 1 des Haushaltsgesetzes 2004 in seiner ursprünglichen Fassung vom 18. Februar 2004 gegen Art. 110 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 GG verstoßen hat.
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Zum anderen betrifft das Normenkontrollverfahren die Frage, ob es mit dem Grundgesetz, insbesondere mit Art. 115 Abs. 1 Satz 2 GG, vereinbar gewesen ist, dass § 2 Abs. 1 des Haushaltsgesetzes 2004 in der Fassung des Nachtragshaushaltsgesetzes 2004 das Bundesministerium der Finanzen zu einer Kreditaufnahme von 43,5 Mrd. € (ursprünglich 29,3 Mrd. €) ermächtigt hat, deren Höhe die im Nachtrag zum Gesamtplan des Bundeshaushaltsplans 2004 unverändert ausgewiesene Summe der Ausgaben für Investitionen von 24.639.063.000 € überstiegen hat.
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I. |
1. Am 15. August 2003 brachte die Bundesregierung beim 15. Deutschen Bundestag ihren Entwurf eines Gesetzes über die Feststellung des Bundeshaushaltsplans für das Haushaltsjahr 2004 (Haushaltsgesetz 2004) einschließlich eines Entwurfs des Bundeshaushaltsplans 2004 ein (BTDrucks 15/1500) und leitete die Entwürfe zugleich auch dem Bundesrat zu (BRDrucks 650/03). Der Haushaltsentwurf sah unter anderem die Feststellung des Bundeshaushalts 2004 in Einnahmen und Ausgaben auf 251,2 Mrd. €, eine Kreditaufnahmeermächtigung in Höhe von 30,84 Mrd. € und einen Investitionshaushalt in Höhe von rund 24,8 Mrd. € vor (vgl. BTDrucks 15/1500, S. 13 und 27).
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In seiner Stellungnahme vom 26. September 2003 (BTDrucks 15/1670 vom 9. Oktober 2003, S. 1 f.) wandte der Bundesrat gegen die Regierungsvorlage ein, diese setze auf unrealistische Wachstumserwartungen, und die im Entwurf geplante Neuverschuldung übersteige die Summe der Investitionen deutlich. Die Bundesregierung hielt dem entgegen, es bedürfe dringend eines Wachstumsimpulses, und die geplante Nettokreditaufnahme sei zur Abwehr einer Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts erforderlich (BTDrucks 15/1670, S. 2 f.).
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Im November 2003 schlug der Haushaltsausschuss des Deutschen Bundestages in seinem Bericht zu dem Gesetzentwurf der Bundesregierung vor, das Haushaltsvolumen auf 257,3 Mrd. € zu erhöhen und die Kreditaufnahmeermächtigung auf 29,3 Mrd. € zu senken (Beschlussempfehlung des Haushaltsausschusses, BTDrucks 15/1922 vom 19. November 2003; zusammenfassender Gesamtüberblick und Erläuterungen der wesentlichen Veränderungen gegenüber dem Regierungsentwurf 2004, BTDrucks 15/1923 vom 21. November 2003, S. 12, 28, 32 ff.). Auch berücksichtigte der Haushaltshaltsausschuss finanzielle Auswirkungen des geplanten Vierten Gesetzes für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt ("Hartz IV"), das nach dem zu jener Zeit vorliegenden Gesetzentwurf im Wesentlichen zum 1. Juli 2004 in Kraft treten sollte (BTDrucks 15/1923, S. 17 und 34 f. zu Einzelplan 09, S. 19 und 35 zu Einzelplan 12, S. 22 und 36 zu Einzelplan 17, S. 33 zu Einzelplan 60).
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An dem im Einzelplan 60 angesetzten "Anteil des Bundes am Reingewinn der Deutschen Bundesbank", zu dessen Höhe der Bericht des Haushaltsausschusses keinerlei Erwägungen oder Kritik erkennen lässt, nahm der Ausschuss keine Veränderungen vor (vgl. Beschlussempfehlung speziell zu Einzelplan 60, BTDrucks 15/1920, und Bericht, BTDrucks 15/1923, S. 25). Die Fraktionen der CDU/CSU und der FDP kritisierten im Bericht des Haushaltsausschusses lediglich die geplante Neuverschuldung und wiesen darauf hin, dass wesentliche haushaltsrelevante Gesetzgebungsvorhaben wie das Vierte Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt noch im Vermittlungsverfahren anhängig seien, so dass der Haushalt voraussichtlich wenige Wochen später in wesentlichen Teilen überholt sein werde und bereits zu Beginn des Jahres 2004 durch einen Nachtragshaushalt angepasst werden müsse (BTDrucks 15/1923, S. 12 und 26 f.). Entsprechend wurde in zwei Entschließungsanträgen von Abgeordneten der Fraktionen CDU/CSU und FDP, jeweils vom 26. November 2003, darauf hingewiesen, dass noch nicht abzusehen sei, welche finanziellen Auswirkungen aufgrund der Beratungen des Vermittlungsausschusses über "Hartz IV" auf den Bundeshaushalt 2004 zukämen (BTDrucks 15/2089, S. 2, und BTDrucks 15/2090, S. 2 f.).
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In seinem nach der dritten Lesung gefassten Gesetzesbeschluss vom 28. November 2003 folgte der Deutsche Bundestag den Empfehlungen des Haushaltsausschusses (BRDrucks 874/03 vom 28. November 2003; BT-Plenarprotokoll 15/80, S. 7058 ff.). Am 19. Dezember 2003 beschloss der Bundesrat, die Einberufung des Vermittlungsausschusses "mit dem Ziel einer grundlegenden Überarbeitung" zu verlangen (BTDrucks 15/2307 vom 6. Januar 2004). Der Vermittlungsausschuss schloss das Verfahren zu dem vom 15. Deutschen Bundestag beschlossenen Haushaltsgesetz 2004 am 14. Januar 2004 ohne Einigungsvorschlag ab (BRDrucks 44/04 vom 30. Januar 2004). Den Einspruch des Bundesrates vom 13. Februar 2004 gegen das Haushaltsgesetz 2004 (BTDrucks 15/2501; BR-Plenarprotokoll 796, S. 6 A) wies der Deutsche Bundestag am selben Tag zurück (BTDrucks 15/2504; BT-Plenarprotokoll 15/92, S. 8255). Das Gesetz über die Feststellung des Bundeshaushaltsplans für das Haushaltsjahr 2004 (Haushaltsgesetz 2004) vom 18. Februar 2004 (BGBl I S. 230) trat zum 1. Januar 2004 in Kraft.
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Im April 2004 wies das Bundesministerium der Finanzen in seinem Monatsbericht (Monatsbericht 04.2004, unter "Der Bundeshaushalt 2004 -- Dreiklang aus Haushaltskonsolidierung, Steuersenkungen und Strukturreformen", S. 33 ff. [42]) darauf hin, dass als Ergebnis des Vermittlungsverfahrens vom November/Dezember 2003 zum Vierten Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt die schrittweise Einführung dieser Grundsicherung entgegen der ursprünglichen Planung nicht bereits zum 1. Juli 2004, sondern erst zum 1. Januar 2005 vorgesehen sei. Die Haushaltsansätze im Bundeshaushalt 2004 unterstellten die ursprüngliche Planung. Die verzögerte Einführung werde im Rahmen der Haushaltsführung berücksichtigt.
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2. Am 4. Mai 2004 beantragten Abgeordnete der CDU/CSU sowie deren Fraktion (BTDrucks 15/3096 vom 4. Mai 2004), der Deutsche Bundestag möge die Bundesregierung auffordern, "unverzüglich, spätestens zusammen mit dem Entwurf eines Bundeshaushaltes für das Jahr 2005, einen Nachtragshaushalt für das Jahr 2004" und "mit dem Nachtragshaushalt, jedenfalls noch vor der Sommerpause" ein umfassendes Haushaltssicherungsgesetz einzubringen. Ähnlich beantragten Abgeordnete der FDP sowie deren Fraktion am 26. Mai 2004 (BTDrucks 15/3216), "zeitnah einen Nachtragshaushalt mit einem Haushaltssicherungsgesetz vorzulegen, um den Haushalt zu stabilisieren und die tatsächliche Haushaltssituation nicht weiter zu verschleiern". Beide Anträge fanden in den damit befassten Ausschüssen des Deutschen Bundestages keine Mehrheit (vgl. Beschlussempfehlung und Bericht des Haushaltsausschusses des Deutschen Bundestages vom 30. Juni 2004, BTDrucks 15/3556 vom 2. Juli 2004). Sie wurden im Plenum nicht weiter verfolgt.
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Am 15. Oktober 2004 legte die Bundesregierung ihren Entwurf eines Gesetzes über die Feststellung eines Nachtrags zum Bundeshaushaltsplan für das Haushaltsjahr 2004 (Nachtragshaushaltsgesetz 2004) vor (BTDrucks 15/4020 und BRDrucks 740/04). Darin waren die Senkung des Haushaltsvolumens auf 255,6 Mrd. € (von ursprünglich 257,3 Mrd. €), die Erhöhung der Kreditaufnahmeermächtigung auf 43,7 Mrd. € (von ursprünglich 29,3 Mrd. €) und der Ansatz globaler Steuermindereinnahmen (Einzelplan 60, Kapitel 6001 Steuern) von 13 Mrd. € vorgesehen. Der Monatsbericht November 2004 des Bundesministeriums der Finanzen weist zu dem Regierungsentwurf für einen Nachtragshaushalt 2004 darauf hin, dass mit Steuerausfällen in Höhe von 11,1 Mrd. € zu rechnen sei; hinzu kämen Mindereinnahmen beim Bundesbankgewinn, Ansatzveränderungen durch die Verschiebung der "Hartz-IV-Reformen" auf den 1. Januar 2005 und die noch unbefriedigende Lage auf dem Arbeitsmarkt (BMF, Monatsbericht November 2004, unter "Die Entwicklung im Bundeshaushalt zum 3. Quartal 2004", S. 35). Wie sich aus den Anlagen zu der Regierungsvorlage (Anlagen zu BTDrucks 15/4020, Einzelplan 09, 12, 32 und 60) ergibt, waren von Nachträgen lediglich die Einzelpläne 09 (Bundesministerium für Wirtschaft und Arbeit), 12 (Bundesministerium für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen), 32 (Bundesschuld) und 60 (Allgemeine Finanzverwaltung) betroffen.
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In seiner Stellungnahme vom 5. November 2004 (BTDrucks 15/4137 vom 10. November 2004, S. 1) führte der Bundesrat aus:
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"Der Bundesrat hat erneut Anlass zur Feststellung, dass die Bundesregierung mit erheblicher Verspätung auf schon seit geraumer Zeit absehbare Entwicklungen reagiert. Mehrbelastungen auf der Ausgabenseite wie auch Mindereinnahmen bei den Steuern und den sonstigen Einnahmen des Bundes waren schon lange absehbar. Durch die späte Einbringung des Nachtrags verliert der Haushalt weitgehend seine Funktion als Planungs- und Kontrollinstrument. Er wird vielmehr zu einem reinen Vollzugsinstrument degradiert."
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Die Bundesregierung erwiderte hierauf (BTDrucks 15/4137 vom 10. November 2004, S. 1):
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"Der Nachtragshaushalt 2004 konnte erst im Oktober nach sorgfältiger Bewertung der finanziellen Entwicklung vorgelegt werden. Die Arbeitsmarktausgaben wie auch einige Steuereinnahmen sind stark konjunkturabhängig und unterliegen unterjährig teilweise großen Schwankungen. Daher wäre es weder ökonomisch richtig noch zweckmäßig gewesen, bereits vorher Festlegungen über einen Nachtragshaushalt 2004 zu treffen. Die Bundesregierung hat allerdings schon frühzeitig auf die Notwendigkeit eines Nachtragshaushalts für das Jahr 2004 hingewiesen. So hat Bundesminister Hans Eichel bereits in seiner Rede vor dem Deutschen Bundestag am 27. Mai 2004 (Bundestagsprotokoll 15/111) unter Berücksichtigung aller damals erkennbaren Be- und Entlastungen einen zusätzlichen Finanzbedarf für 2004 in einer Größenordnung von rund 10 bis 11 Mrd. Euro genannt."
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Des Weiteren kritisierte der Bundesrat erneut die Höhe der Neuverschuldung. Die Bundesregierung berief sich wiederum darauf, dass zwar die Nettokreditaufnahme für das Jahr 2004 die Summe der im Bundeshaushalt 2004 ausgewiesenen Investitionen übersteige, dass dies jedoch nach Art. 115 GG zur Abwehr einer Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts zulässig sei (a.a.O., S. 2, sinngemäß unter Bezug auf BTDrucks 15/4020, Gesetzentwurf Nachtragshaushaltsgesetz 2004, S. 4 f.).
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Im November 2004 empfahl der Haushaltsausschuss des Deutschen Bundestages eine geringere Erhöhung der Kreditaufnahmeermächtigung (43,5 Mrd. € statt 43,7 Mrd. €) (Beschlussempfehlung, BTDrucks 15/4138; Bericht, BTDrucks 15/4139, S. 4). Am 23. November 2004 beschloss der Deutsche Bundestag den Gesetzentwurf der Bundesregierung nach Maßgabe der vom Haushaltsausschuss vorgeschlagenen Kreditaufnahmeermächtigung (BRDrucks 921/04). Eine Einberufung des Vermittlungsausschusses verlangte der Bundesrat nicht (BR-Plenarprotokoll 807 vom 17. Dezember 2004, S. 626 D). Das Gesetz über die Feststellung eines Nachtrags zum Bundeshaushaltsplan für das Haushaltsjahr 2004 (Nachtragshaushaltsgesetz 2004) vom 21. Dezember 2004 (BGBl I S. 3662) trat zum 1. Januar 2004 in Kraft.
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3. Die Antragsteller stellen in ihrem Hauptantrag § 1 und § 2 Abs. 1 des Haushaltsgesetzes 2004 vom 18. Februar 2004 in der Fassung der Art. 1 und Art. 2 des Nachtragshaushaltsgesetzes 2004 vom 21. Dezember 2004 zur Prüfung, in ihrem Hilfsantrag § 1 des Haushaltsgesetzes 2004 in seiner ursprünglichen Fassung, soweit der Hauptantrag § 1 in der Nachtragsfassung betrifft.
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Die zur Prüfung gestellten Normen haben folgenden Wortlaut (in Klammern kursiv: die ursprünglichen Fassungen des Haushaltsgesetzes 2004):
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Der diesem Gesetz als Anlage beigefügte Bundeshaushaltsplan für das Haushaltsjahr 2004 wird in Einnahmen und Ausgaben auf 255.600.000.000 Euro (257.300.000.000 Euro) festgestellt.
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§ 2 Kreditermächtigungen |
(1) Das Bundesministerium der Finanzen wird ermächtigt, zur Deckung von Ausgaben für das Haushaltsjahr 2004 Kredite bis zur Höhe von 43.500.000.000 Euro (29.300.000.000 Euro) aufzunehmen. (2) -- (10) (...). |
II. |
Mit ihren zunächst gegen das Haushaltsgesetz in der ursprünglichen Fassung vom 18. Februar 2004 gerichteten, sodann auf die Fassung des Nachtragshaushaltsgesetzes vom 21. Dezember 2004 gestellten Normenkontrollanträgen rügen die Antragsteller zum einen eine allzu späte, nämlich erst im Nachtragshaushalt ausgeführte Anpassung des Bundeshaushalts 2004 an die realen Gegebenheiten der Einnahmen und Ausgaben des Bundes (1.), zum anderen die Höhe der die Investitionsausgaben überschreitenden Ermächtigung zur Nettoneuverschuldung (2.)
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1. Die verspätete Korrektur der Haushaltsansätze erst im Nachtragshaushalt bedeute eine Verletzung der haushaltsverfassungsrechtlichen Grundsätze der Vollständigkeit und Wahrheit (Art. 110 Abs. 1 Satz 1 GG) und der Vorherigkeit des Haushaltsgesetzes (Art. 110 Abs. 2 GG) sowie des Ausgleichs von Einnahmen und Ausgaben im Haushaltsplan (Art. 110 Abs. 1 Satz 2 GG).
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Der Haushaltsplan 2004 habe nur die letzten vier Tage des Haushaltsjahres 2004 die Gewinnabführung der Deutschen Bundesbank richtig ausgewiesen. In gleicher Weise seien Einnahmenansätze und Ausgabenvoranschläge, bei denen fälschlicherweise von einem Inkrafttreten von "Hartz IV" zum 1. Juli 2004 ausgegangen worden sei, korrigiert worden. Bereits im Spätjahr 2003 sei abzusehen gewesen, dass die Bundesbank weniger als ein Zehntel des veranschlagten Gewinns 2003 an den Bund werde abführen können. Sicherlich sei das Bundesfinanzministerium auch schon vor der Unterrichtung der Presse über die Gewinnentwicklung informiert gewesen; ab Januar 2004 habe kein Zweifel an einem niedrigeren Bundesbankgewinn mehr bestanden.
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Die Verschiebung von "Hartz IV" in das Jahr 2005 sei seit der Verabschiedung des Vierten Gesetzes für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt am 24. Dezember 2003 bekannt gewesen. Nachdem die Antragsteller zunächst von einer erheblichen "Deckungslücke" in den ursprünglichen Haushaltsansätzen (auch) durch das Vorziehen von "Hartz IV" ausgegangen waren, haben sie den Feststellungen in einem Schreiben der Berichterstatterin nicht widersprochen, wonach die vollständige Berücksichtigung aller einschlägigen Haushaltsansätze hierfür keine Bestätigung liefere, sondern zu dem Befund führe, dass sich der Bund durch den verfrühten Ansatz des Gesetzes eher "ärmer" als "reicher" gerechnet habe. Wegen des komplexen Geflechts von Einnahme- und Ausgabetiteln, die durch "Hartz IV" teils belastet und teils entlastet worden seien, seien -- so die Antragsteller -- die Berechnungen schwierig gewesen. Es komme aber angesichts der Art und des Ausmaßes fehlerhafter Ansätze, die durch Saldierung nicht beseitigt würden, in diesem Zusammenhang auf Existenz und Höhe einer Deckungslücke letztlich nicht an. Im Übrigen bleibe es schon wegen des überhöht angesetzten Bundesbankgewinns bei einer Deckungslücke in Milliardenhöhe, so dass nicht nur das Gebot der Vollständigkeit gemäß Art. 110 Abs. 1 Satz 1 GG, sondern auch das Gebot des -- materiell zu verstehenden -- Ausgleichs gemäß Art. 110 Abs. 1 Satz 2 GG verletzt sei.
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Der Nachtragshaushalt habe die Verfassungswidrigkeit des Haushaltsgesetzes 2004 a. F. nicht heilen können. Etwas anderes könne nur dann gelten, wenn die Bundesregierung diesen Nachtrag unverzüglich vorlege, sobald das Erforderliche zu erkennen sei. Ihren Nachtrag zum Haushaltsplan 2004 habe die Bundesregierung dem Bundestag und dem Bundesrat indes erst lange nach seinem Erforderlichwerden zur Prüfung und Beschlussfassung zugeleitet: Bereits bei Verabschiedung des Haushaltsplans 2004 a. F. am 18. Februar 2004 sei dessen Korrekturbedürftigkeit sowohl hinsichtlich des Bundesbankgewinns als auch hinsichtlich "Hartz IV" offenkundig gewesen. Zudem habe im Mai 2004 der "Arbeitskreis Steuerschätzung" für das laufende Jahr einen Steuerausfall von rund 9 Mrd. € vorhergesagt. Deshalb sei der Nachtragshaushalt spätestens Ende Mai 2004 vollends unumgänglich geworden. Das Nachtragsverfahren sei dazu missbraucht worden, ein von Anbeginn bestehendes Defizit bis zum Jahresende zu verschleiern, um es erst im letzten Augenblick aufzudecken und dann kurzer Hand mit einer Erhöhung der Kreditermächtigung glatt zu ziehen, anstatt es rechtzeitig mit exakt geplanten haushalts- und finanzwirtschaftlichen Mitteln zu beseitigen. Mit dem verspäteten Einbringen des Nachtragshaushalts 2004 habe die Bundesregierung das Ausgabenbewilligungsrecht des Bundestages unterlaufen; das Nachtragshaushaltsgesetz 2004 verstoße gegen das auch für Nachtragshaushalte verbindliche Vorherigkeitsprinzip (Art. 110 Abs. 2 Satz 1 GG).
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2. Soweit sich die Antragsteller gegen § 2 Abs. 1 Haushaltsgesetz 2004 n. F. wenden, kritisieren sie, dass die Verschuldungsgrenze des Art. 115 GG überschritten sei. Die im Haushaltsplan 2004 veranschlagte Investitionssumme von 24,6 Mrd. € sei ursprünglich um 4,7 Mrd. €, also um 19,1 Prozent und schließlich um 18,9 Mrd. €, also um mehr als 75 Prozent überschritten worden. Zusätzlich verschärft werde dies, wenn man richtigerweise von den veranschlagten Investitionen die jährlichen Deinvestitionen, zumindest die aufgrund der Haushaltsansätze für Veräußerungserlöse leicht bezifferbaren Vermögensabgänge durch Veräußerung, abziehe, und zwar für das Haushaltsjahr 2004 einen (Soll-) Betrag von 10,4 Mrd. €.
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Die Überschreitung der Investitionsgrenze rechtfertige die Bundesregierung nunmehr schon zum vierten Mal mit der Konjunkturklausel des Art. 115 Abs. 1 Satz 2 GG. Was diese Vorschrift gemeinsam mit Art. 109 Abs. 2 GG und dem Stabilitätsgesetz nur als Ausnahme bei einer Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts hinnehme, sei für die Bundesregierung mittlerweile zur Regel geworden.
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Die Vorschrift meine mit der "Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts" nur eine vorübergehende Krisensituation; strukturbedingte Dauerkrisen der öffentlichen Finanzwirtschaft erfasse diese Formel nicht. Die Überinterpretation der Rolle des Staates in der Sozialen Marktwirtschaft habe zu der bestehenden Überforderungskrise geführt; hinzugekommen seien die Lasten der Wiedervereinigung, und schließlich führten die Folgen der demographischen Entwicklung zu einem weiteren Anstieg der Soziallasten. Eine Finanzpolitik, die Staatsaufgaben über stetig steigende Schulden finanziere, verspiele das Vertrauen der Bevölkerung in die Solidität der Staatsfinanzen und die Sicherheit der Arbeitsplätze und der Altersvorsorge, was verstärktes Sparen und Lähmung der Konsum- und Investitionsbereitschaft nach sich ziehe. Dem sei mit den Instrumenten der antizyklischen Konjunkturpolitik nicht beizukommen.
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Ein Programm, wie es das Bundesverfassungsgericht in BVerfGE 79, 311 (339 f.) verlangt habe und das nach Umfang und Verwendung geeignet sei, die Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts zielgerichtet zu bekämpfen, liege der kritisierten Nettokreditaufnahme nicht zugrunde. Die Bundesregierung führe im Wesentlichen nur ins Feld, dass die derzeitige Konjunkturlage energischere Sparmaßnahmen nicht erlaube. Die Gesetzesbegründung benenne im Wesentlichen das als "Agenda 2010" bezeichnete Reformprogramm, ohne einen Ursache-Wirkungs-Zusammenhang zwischen diesem Programm und der erhöhten Kreditaufnahme herzustellen.
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Im Hinblick auf das Bruttoinlandsprodukt und die Auslastung des Produktionspotentials sehe auch der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (im Folgenden: Sachverständigenrat) keine Fehlentwicklung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts (Jahresgutachten 2004/05, Tz. 745, S. 521). Als potentielle Störung bleibe einzig das Verfehlen eines hohen Beschäftigungsstands. Ob dies aber bereits eine ernsthafte und nachhaltige Beeinträchtigung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts begründe, sei auch im Sachverständigenrat strittig. Zudem sei nach dessen Auffassung eine erhöhte Kreditaufnahme zur Beseitigung der Störung auf dem Arbeitsmarkt nicht geeignet. Die seit 2002 wiederholten Rückgriffe auf die Konjunkturklausel des Art. 115 Abs. 1 Satz 2 GG bestätigten, dass ihnen kein auf Effektivität und Konsequenz angelegtes antizyklisches Programm zugrunde liege.
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Die Antragsteller weisen auch darauf hin, dass Kreditermächtigungen, die erst gegen Ende des Haushaltsjahrs erteilt würden, dem Bundesfinanzminister "Restkreditermächtigungen" verschafften, auf die er im neuen Haushaltsjahr zurückgreifen könne, ehe er die für dieses Haushaltsjahr bewilligten Kredite in Anspruch nehmen müsse. § 2 Abs. 9 Haushaltsgesetz gebe die übertragenen Restkreditermächtigungen zwar nur bis zur Höhe von 0,5% des in § 1 Haushaltsgesetz für das gleiche Jahr festgestellten Haushaltsvolumens frei; was darüber hinausgehe, dürfe nur nach vorheriger Zustimmung des Haushaltsausschusses genutzt werden; dies sei jedoch "im Stillen" ohne eine breitere öffentliche Diskussion möglich. Dies verstärke die verfassungsrechtlichen Bedenken gegen den Umgang der Bundesregierung und der Mehrheit des 15. Deutschen Bundestages mit Art. 115 Abs. 1 Satz 2 GG.
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Schließlich drohe die beschleunigte Erhöhung der bestehenden hohen Bundesschuld, die Handlungsfreiheit der für die Politik der Zukunft verantwortlichen Volksvertreter und Regierungen aufzuheben; damit sei neben Art. 115 Abs. 1 Satz 2 GG auch das in Art. 20 Abs. 1 und 2, Art. 38 und Art. 39 GG verankerte demokratische Prinzip der Herrschaft auf Zeit verletzt.
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III. |
Zu dem Normenkontrollantrag haben die Bundesregierung und die Bayerische Staatsregierung Stellung genommen.
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1. a) Die Bundesregierung hält den Normenkontrollantrag für unzulässig, soweit er sich mit dem Hauptantrag auf § 1 Haushaltsgesetz 2004 in der Fassung des Nachtragshaushalts bezieht. Es fehle das objektive Klarstellungsinteresse, da die Vorschrift, wie die Antragsteller selbst eingeräumt hätten, den tatsächlichen Verhältnissen und haushaltsverfassungsrechtlichen Vorgaben entspreche. Unzulässig sei auch der Hilfsantrag, soweit er Verstöße der Bundesregierung gegen Vorschriften des Haushaltsverfassungsrechts -- insbesondere das verspätete Einbringen des Nachtragshaushalts 2004 -- rüge. Das Verhalten der Bundesregierung könne nicht Gegenstand der abstrakten Normenkontrolle sein.
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b) Jedenfalls sei der Normenkontrollantrag unbegründet.
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aa) Der Hauptantrag zu § 1 Haushaltsgesetz 2004 n. F. sei selbst dann unbegründet, wenn eine Verletzung des Vorherigkeitsgrundsatzes (Art. 110 Abs. 2 Satz 1 GG) durch diese Vorschrift angenommen würde, denn eine solche Verletzung habe nicht die Verfassungswidrigkeit oder gar Nichtigkeit der Vorschrift zur Folge. Soweit der Hauptantrag den Grundsatz der Haushaltswahrheit betreffe, seien im Haushaltsplan 2004 n. F. sowohl der Bundesbankgewinn als auch die finanziellen Folgen von "Hartz IV" zutreffend berücksichtigt; die Ansätze entsprächen in vollem Umfang verfassungsrechtlichen Anforderungen.
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bb) Auch der Hilfsantrag sei unbegründet. Die Antragsteller rügten angebliche Verstöße gegen das Gebot des Haushaltsausgleichs (Art. 110 Abs. 1 Satz 2 GG) und die Grundsätze der Haushaltsvollständigkeit und -wahrheit (Art. 110 Abs. 1 Satz 1 GG). Eine Verletzung des Ausgleichsgebots müsse von vornherein ausscheiden, da die Pflicht, den Haushaltsplan in Einnahmen und Ausgaben auszugleichen, nur eine vom Haushaltsgesetz 2004 beachtete "formale Buchhaltungsregel" sei. Auch der Grundsatz der Budgetwahrheit, also die Pflicht, die künftigen Einnahmen und Ausgaben im Rahmen des Möglichen sachgerecht und vertretbar zu schätzen, sei nicht verletzt worden. Sowohl der Ansatz des Bundesbankgewinns als auch die Ansätze von "Hartz IV" im Haushaltsplan 2004 hätten zu jeder Zeit den verfassungsrechtlichen Anforderungen entsprochen.
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(1) (a) Zum Zeitpunkt des Gesetzesbeschlusses des Deutschen Bundestages am 28. November 2003 habe der ursprüngliche Ansatz des Bundesbankgewinns in Höhe von 3,5 Mrd. € der in § 6 Abs. 1 Nr. 1 des Gesetzes über die Errichtung eines Erblastentilgungsfonds genannten Obergrenze entsprochen. Im Zeitpunkt der Aufstellung des Bundeshaushaltsplans 2004 hätten die zugänglichen Informationen den Schluss zugelassen, dass der Bundesbankgewinn wieder mindestens diesen Betrag erreichen werde. Der Gewinnrückgang aufgrund des Dollarkurses, der Zinsentwicklung oder sonstiger Indikatoren sei nicht vorhersehbar gewesen. Auch habe der Vorstand der Bundesbank bei der Aufstellung des Jahresabschlusses einen Ermessensspielraum, über dessen Ausfüllung er erst nach Ablauf des Rechnungsjahres entscheide. In der Phase der Aufstellung des Jahresabschlusses am Jahresanfang gebe die Bundesbank wegen der bilanzpolitischen Gestaltungsspielräume des Vorstands grundsätzlich keine Informationen über ihren möglichen Jahresgewinn an das Bundesministerium der Finanzen weiter. Eine von den Antragstellern behauptete Verpflichtung der Bundesbank "zu raschen und exakten Informationen über alle für die Haushaltsplanung wesentlichen Tatsachen und Entwicklungen" sei im Bundesbankgesetz nicht vorgesehen und sei auch mit der Unabhängigkeit der Bundesbank nicht vereinbar. Deshalb hätten bis zur Verabschiedung des Haushaltsgesetzes 2004 weder die Bundesregierung noch der Bundestag belastbare Informationen über die tatsächliche Höhe des Bundesbankgewinns 2003 gehabt.
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(b) Das spätere Inkrafttreten von "Hartz IV" habe die Regierungsvorlage noch nicht berücksichtigen können. Bei Verabschiedung des Haushaltsgesetzes 2004 durch den Bundestag sei zwar bekannt gewesen, dass der Bundesrat im Hinblick auf das Vierte Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt den Vermittlungsausschuss angerufen hatte. Bei Abwarten des Vermittlungsverfahrens wäre allerdings gegen den vom Bundesverfassungsgericht angemahnten Vorherigkeitsgrundsatz verstoßen worden.
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(2) Im Rahmen des Vermittlungsverfahrens und der abschließenden Befassung des Bundestages mit dem Haushaltsgesetz 2004 sei hinsichtlich des Bundesbankgewinns bereits tatsächlich keine Korrektur veranlasst gewesen.
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Vor allem aber sei eine Korrektur des Haushaltsgesetzes 2004 im Vermittlungsverfahren in Gestalt der Berücksichtigung des tatsächlichen Bundesbankgewinns 2003 oder der -- im Gegensatz zur Höhe des Bundesbankgewinns mit Beginn des Vermittlungsverfahrens bekannten -- Verschiebung des Inkrafttretens von "Hartz IV" verfassungsrechtlich nicht zulässig gewesen, wie sich aus Stellung und Aufgaben des Vermittlungsausschusses ergebe. Der Bundesbankgewinn sei nicht Gegenstand des Anrufungsbegehrens gewesen. Zusätzliche Einschränkungen hätten sich aus dem besonderen Charakter des Haushaltsgesetzes ergeben. Normalerweise könne der Vermittlungsausschuss in gewissem Umfang Änderungen der vom Bundestag beschlossenen Gesetze vorschlagen. Beim Haushaltsgesetz geböten jedoch das ausschließliche Initiativrecht der Bundesregierung und das Budgetrecht des Parlaments, eine Überprüfung und Neubestimmung der Ausgabeprioritäten und Verteilungsentscheidungen dem ordnungsgemäßen parlamentarischen Verfahren vorzubehalten. Deshalb dürfe der Vermittlungsausschuss bei der Behandlung des Haushaltsgesetzes jedenfalls keine isolierten Änderungen einzelner Haushaltsansätze vornehmen. Auch eine "grundlegende Überarbeitung" des Haushaltsgesetzes, wie in der Anrufung des Vermittlungsausschusses durch den Bundesrat, BTDrucks 15/2307 vom 6. Januar 2004, S. 1, gefordert, sei im Vermittlungsverfahren unzulässig.
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Das zwischen den Gesetzesbeschluss des Bundestages und das endgültige Zustandekommen des Haushaltsgesetzes geschaltete Vermittlungsverfahren dürfe eine seit dem Zeitpunkt des Gesetzesbeschlusses veränderte Sachlage nicht berücksichtigen; dies sei dem parlamentarischen Beratungsverfahren vorbehalten.
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cc) Der von der Bundesregierung im Oktober 2004 vorgelegte Entwurf eines Nachtragshaushaltsgesetzes 2004 sei schließlich auch nicht in verfassungswidriger Weise zu spät gekommen. Er sei erst im Laufe des Jahres 2004 aus konjunkturpolitischen Gründen erforderlich geworden. Die vom teilweisen Vorziehen der Steuerreform ausgehenden Impulse seien nicht ausreichend gewesen, um die Inlandsnachfrage zu stimulieren. Das Wachstum sei im Wesentlichen vom Export getragen worden und habe auch nicht zu Beschäftigungswirkungen geführt. Die Bundesregierung habe mit dem Nachtrag bis nach der Sommerpause des Bundestages warten wollen, bis sich das Bild hinreichend verfestigt habe.
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dd) Auch § 2 Abs. 1 Haushaltsgesetz 2004 n. F. entspreche den verfassungsrechtlichen Anforderungen.
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Bundesregierung und Bundestag hätten die vom Bundesverfassungsgericht zu Art. 115 Abs. 1 Satz 2, 2. Halbsatz GG formulierten Pflichten zur Darlegung der Diagnose einer ernsthaften und nachhaltigen Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts sowie zu Ziel und Eignung der erhöhten Kreditaufnahme als Instrument zur Abwehr der Störung erfüllt, und zwar sowohl für den ursprünglichen Haushalt als auch für den Nachtragshaushalt 2004.
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Entgegen dem Vortrag der Antragsteller folge auch aus dem Demokratieprinzip kein Verbot der weiteren Erhöhung des Schuldenstands, das einen Verstoß gegen Art. 20 Abs. 1 und 2, Art. 38 und Art. 39 GG begründen könnte. Das Prinzip der Herrschaft auf Zeit sei zwar ein wesentliches Element der Demokratie, daraus ergebe sich jedoch keine Einschränkung des jeweiligen Bundestages im Hinblick auf seine Entscheidungsmöglichkeiten. Die speziellen Regelungen über die Kreditaufnahme in Art. 115 GG konkretisierten insoweit das Demokratieprinzip. Zusätzliche verfassungsrechtliche Grenzen der Kreditaufnahme seien dem Demokratieprinzip danach nicht zu entnehmen. Im Übrigen habe die Bundesregierung die aus einer hohen staatlichen Verschuldung für nachfolgende Generationen erwachsende Problematik erkannt und Maßnahmen zur langfristigen Tragfähigkeit der öffentlichen Finanzen umgesetzt.
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2. Die Bayerische Staatsregierung stimmt in allen wesentlichen Punkten mit den Antragstellern überein.
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Die Bundesregierung habe Art. 110 GG missachtet, indem sie wider besseres Wissen einen von vornherein unvollständigen und unrichtigen Haushalt für 2004 vorgelegt und diesen selbst im Vermittlungsverfahren trotz ausdrücklicher Aufforderung nicht korrigiert habe.
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Die Bundesregierung verkenne den Charakter des Art. 115 Abs. 1 Satz 2 GG als Ausnahmeregelung. Länger anhaltenden strukturellen Krisen sei mit einer antizyklischen Konjunkturpolitik nicht beizukommen. Entgegen der Begründung im Regierungsentwurf für das Haushaltsgesetz 2004 könne auch von einer Verfehlung des Wachstumsziels keine Rede sein, denn die Prognosen der Herbstprojektion der Bundesregierung für 2004, wonach mit einem Wachstum von 1,5 bis 2,0% zu rechnen gewesen sei, hätten sich angesichts eines tatsächlichen Wirtschaftswachstums von 1,6% als sachgerecht erwiesen. Trotz nach wie vor sehr angespannter Lage auf dem Arbeitsmarkt im Sommer 2003 erscheine angesichts dieser Wachstumsprognose auch zweifelhaft, ob für das Jahr 2004 eine Verfehlung des Beschäftigungsziels habe angenommen werden können, wobei ohnehin zumindest umstritten sei, ob eine solche Zielverfehlung allein schon als ernsthafte und nachhaltige Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts gewertet werden könne. Im Übrigen habe die Bundesregierung auch nicht nachvollziehbar begründet, wie -- entgegen der Stellungnahme des Sachverständigenrates im Jahresgutachten 2004/05 -- mittels einer erhöhten Kreditaufnahme insbesondere die drohende Verfehlung des Beschäftigungsziels habe abgewehrt werden sollen.
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Schließlich seien auch die Rechte der Gesetzgebungsorgane durch die verspätete Einbringung des Nachtragshaushalts verletzt worden. Bundesrat und Bundestag sei die Möglichkeit genommen worden, ihre Funktion als Planungs- und Kontrollinstanzen wahrzunehmen.
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IV. |
Als sachkundige Dritte (§ 27a BVerfGG) haben Stellung genommen der Präsident des Bundesrechnungshofs, Prof. Dr. Dieter Engels, sowie die Universitätsprofessoren Dr. Dres. h.c. Bert Rürup und Dr. Charles B. Blankart.
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Einmütig plädieren die Sachverständigen für einen engen, auf Nettoinvestitionen beschränkten Investitionsbegriff im Rahmen der für den "Normalfall" geltenden Begrenzung der jährlichen Neuverschuldung gemäß Art. 115 Abs. 1 Satz 2, 1. Halbsatz GG. Da nach dem Zweck der Regelgrenze für die Neuverschuldung nur Investitionen mit zukunftsbegünstigender Wirkung die staatliche Kreditfinanzierung rechtfertigten, seien -- entgegen der bisherigen Staatspraxis -- nicht die in den Haushalten als Ausgaben für Investitionen veranschlagten Beträge, also die Bruttoinvestitionen, sondern wesentlich geringere (im Einzelnen unterschiedlich abgegrenzte) Beträge, nämlich nur Nettoinvestitionen, maßgeblich. Nicht zu berücksichtigen und von den Bruttoausgaben abzuziehen seien insbesondere Abschreibungen in Höhe des Wertverzehrs der Investitionsgüter, bloße Ersatzinvestitionen und Einnahmen aus Privatisierungserlösen sowie andere Veräußerungserlöse, etwa aus Forderungsveräußerungen.
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Um dem faktischen Ausfall einer Begrenzungswirkung des Art. 115 GG entgegenzuwirken, tritt Prof. Dr. Engels im Übrigen de constitutione lata für eine Geltungserstreckung der Kreditgrenze über die Aufstellung des Haushalts hinaus auf den Haushaltsvollzug ein und wendet sich namentlich auch gegen die bisherige Praxis der "Fifo-Methode" ("first in first out") bei der Ausschöpfung von Restkreditermächtigungen aus dem Vorjahr. Der Bundesrechnungshof und die Landesrechnungshöfe seien allerdings der Ansicht, eine engere Auslegung des Investitionsbegriffs in der Haushaltspraxis reiche für eine angemessene Begrenzung der Kreditaufnahmemöglichkeiten nicht aus. Diese könne nur im Rahmen einer Änderung der Finanzverfassung erreicht werden. Insoweit könnten vor allem die neuen Regelungen in der schweizerischen Verfassung als Vorbild herangezogen werden, während eine ausreichende Schuldenbegrenzung durch Übernahme des europäischen Regelwerks in das Grundgesetz zweifelhaft sei.
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Nach Ansicht von Prof. Dr. Dres. h.c. Rürup sollte der Ausnahmetatbestand des Art. 115 Abs. 1 Satz 2, 2. Halbsatz GG neu und deutlich enger gefasst werden. Bei der Prüfung einer Störung müsse zu den Teilzielen des Beschäftigungsstandes und des Wirtschaftswachstums unterschieden werden zwischen konjunkturellen Anteilen und der Entwicklung des Produktionspotentials -- ungeachtet aller Probleme und Kritik im Hinblick auf technische Fragen der Messung. Die Entwicklung des Produktionspotentials hänge maßgeblich ab von Rahmenbedingungen wie dem Bildungssystem, den Systemen der sozialen Sicherung, dem Regulierungsumfang, der Abgabenbelastung sowie der Höhe der Staatsschuld usw., die mittel- bis langfristig die Rate des technischen Fortschritts, die Akkumulation von Sach- und Humankapital sowie die Entwicklung der Erwerbsbevölkerung bestimmten. Die Zerlegung der unterschiedlichen Anteile der Entwicklung des Wirtschaftswachstums erfolge in den Wirtschaftswissenschaften über die Berechnung der NAIRU (non accelerating inflation rate of unemployment -- nicht inflationsbeschleunigende Arbeitslosenquote) und des Produktionspotentials als den unbeobachtbaren, mittel- bis langfristigen und ganz überwiegend strukturell bestimmten Trends von Arbeitslosigkeit und Bruttoinlandsprodukt. Der Kritik an der nicht unumstrittenen Ermittlung dieser Größen könne durch einen Methodenpluralismus Rechnung getragen werden, wie dies auch der Sachverständigenrat im Rahmen des Konzepts der Bestimmung von Stand und Entwicklungsrichtung der sogenannten Outputlücke bei der Untersuchung der Frage nach der Verfassungmäßigkeit des Bundeshaushalts der Jahre 2004 und 2006 praktiziert habe.
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Schließlich bedürfe es wirksamerer Sanktionen im Falle eines Verstoßes gegen eine derart neu gefasste Begrenzung der Neuverschuldung. Entscheidend sei eine zeitnahe Feststellung des Verstoßes und ein rasches, möglichst automatisches Einsetzen der daran geknüpften Rechtsfolgen.
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Prof. Dr. Blankart äußert tiefgehende Zweifel an der Vertretbarkeit einer nachfrageorientierten staatlichen Fiskalpolitik im Sinne der "traditionellen" Theorie Keynes'. Inzwischen habe im Gefolge der Theorie der Geldmengensteuerung ein wirtschaftswissenschaftlicher Paradigmenwechsel stattgefunden. Danach seien staatliche kreditfinanzierte Ausgabenprogramme allenfalls noch in unerwarteten Katastrophenfällen wie etwa Kriegen oder Naturkatastrophen angebracht. De constitutione ferenda sei eine ersatzlose Streichung der Kompetenz zu Ausgabenprogrammen zur Herstellung eines gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts empfehlenswert. Als effektive Schuldenbegrenzungsmodelle seien solche mit automatischen Sanktionen zu bevorzugen, wie sie in der Schweiz auf kantonaler Ebene schon praktiziert würden. Insbesondere aber weise auch ein System der Gläubigerbeteiligung ("Gläubiger-Bail-in") im Insolvenzfall durch Klarheit, automatische Sanktionen und wirksame Anreize die wesentlichen Merkmale eines effektiven Regimes der Schuldenbegrenzung auf.
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B. |
Der abstrakte Normenkontrollantrag ist zulässig (Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG, §§ 13 Nr. 6, 76 ff. BVerfGG).
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I. |
Die Antragsteller sind antragsberechtigt. Gemäß Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG, § 76 Abs. 1 BVerfGG ist antragsberechtigt ein Drittel der Mitglieder des Bundestages. Die 293 Antragsteller waren Mitglieder des 15. Deutschen Bundestages und bildeten zur Zeit der Antragstellung mit allen 247 Abgeordneten der Fraktion der CDU/CSU und mit 46 von 55 Abgeordneten der Fraktion der FDP fast die Hälfte von insgesamt 601 gesetzlichen Mitgliedern des Bundestages.
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Die Antragsberechtigung der Antragsteller ist auch mit der Auflösung des 15. Deutschen Bundestages nicht entfallen (vgl. BVerfGE 79, 311 [327]).
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II. |
Der Gesetzgeber hat den Antrag nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG in § 76 BVerfGG nicht an eine Frist gebunden. Eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts kann so lange erforderlich sein, und ein Normenkontrollantrag ist so lange rechtzeitig gestellt wie die betreffende Norm gilt oder darüber hinaus noch weiter Rechtswirkungen äußert. Dies ist bei einem Hauhaltsgesetz allgemein bis zur Entlastung der Bundesregierung durch Bundestag und Bundesrat der Fall sowie speziell bei Ermächtigungen zur Aufnahme von Krediten gemäß § 18 Abs. 3 BHO jedenfalls bis zum Ende des nächsten Haushaltsjahres (vgl. BVerfGE 5, 25 [28]; 20, 56 [93 f.]; 79, 311 [326 f.]). Somit ist der noch vor Ende des Haushaltsjahres 2004 beim Bundesverfassungsgericht eingegangene und zeitnah an das Nachtragshaushaltsgesetz 2004 vom 21. Dezember 2004 angepasste Normenkontrollantrag rechtzeitig gestellt.
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III. |
Das besondere objektive Interesse an der Klarstellung der Geltung der zur verfassungsrechtlichen Prüfung gestellten Norm (vgl. stRspr BVerfGE 96, 133 [137]; 103, 111 [124]) ist gegeben. Die Antragsteller haben ihre Überzeugung von der Verfassungswidrigkeit der von ihnen angegriffenen Normen hinreichend deutlich gemacht. Das gilt entgegen der von der Bundesregierung vertretenen Auffassung auch für den Hauptantrag zu § 1 Haushaltsgesetz 2004 n. F. Im Zusammenhang mit der These, der Nachtragshaushalt 2004 sei nicht geeignet gewesen, die von den Antragstellern für verfassungswidrig erachtete Norm des § 1 Haushaltsgesetz 2004 a. F. zu "heilen", vertreten die Antragsteller sinngemäß die Auffassung, § 1 Haushaltsgesetz 2004 n. F. sei ebenfalls verfassungswidrig, auch wenn der Nachtragshaushalt 2004 die von den Antragstellern behauptete "Deckungslücke" im Bundeshaushaltsplan 2004 a. F. beseitigt habe.
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IV. |
Gemäß Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG, § 76 Abs. 1 BVerfGG ist Prüfungsgegenstand im abstrakten Normenkontrollverfahren Bundes- oder Landesrecht, zu dem auch die Haushaltsgesetze von Bund und Ländern gehören (vgl. BVerfGE 20, 56 [89 ff.]; 79, 311 [326]). Auch deren nur zeitlich begrenzte Wirkung lässt die Zulässigkeit des Antrags vom Zeitpunkt der Antragstellung bis zu einer verfassungsgerichtlichen Entscheidung im Verfahren der abstrakten Normenkontrolle nach deren Sinn und Zweck unberührt (vgl. BVerfGE 79, 311 [327 f.]).
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Soweit die Antragsteller auch Pflichtverstöße der Bundesregierung geltend machen, die möglicherweise, wie die Bundesregierung einwendet, nicht Gegenstand eines Normenkontrollverfahrens, sondern eines Organstreits sein können, betrifft dies nicht die Zulässigkeit ihrer eindeutig auf Normverwerfung gerichteten Anträge, sondern deren Begründetheit.
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C. |
§ 1 und § 2 Abs. 1 des Bundeshaushaltsgesetzes 2004 in der Fassung des Nachtragshaushaltsgesetzes vom 21. Dezember 2004 (Haushaltsgesetz 2004 n. F.) sowie die hilfsweise angegriffene Regelung des § 1 des Bundeshaushaltsgesetzes 2004 in der Fassung vom 18. Februar 2004 (Haushaltsgesetz 2004 a. F.) waren mit ihren Ansätzen zur Höhe des Bundesanteils am Reingewinn der Bundesbank und zur Berücksichtigung des Vierten Gesetzes für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt sowie mit der Ermächtigung zur Kreditaufnahme mit dem Grundgesetz, insbesondere mit Art. 110 Abs. 1 Satz 2 und Abs. 2 GG sowie mit Art. 115 Abs. 1 Satz 2 GG vereinbar.
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I. |
Soweit die Antragsteller die Feststellung begehren, § 1 Haushaltsgesetz 2004 in der Fassung des Nachtragshaushaltsgesetzes 2004 (Haushaltsgesetz 2004 n. F.), hilfsweise in seiner ursprünglichen Fassung (Haushaltsgesetz 2004 a. F.), sei mit dem Grundgesetz unvereinbar und deshalb nichtig, hat weder ihr Haupt- noch ihr Hilfsantrag Erfolg.
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1. Gemäß Art. 110 Abs. 1 Satz 1, 1. Halbsatz GG sind alle Einnahmen und Ausgaben des Bundes in den Haushaltsplan einzustellen. Satz 2 der Vorschrift bestimmt, dass der Haushaltsplan in Einnahme und Ausgabe auszugleichen ist. Nach Art. 110 Abs. 2 Satz 1 GG wird der Haushaltsplan für ein oder mehrere Rechnungsjahre, nach Jahren getrennt, vor Beginn des ersten Rechnungsjahres durch das Haushaltsgesetz festgestellt. Diese Normen bilden die Grundlage der für das parlamentarische Budgetrecht wesentlichen und im vorliegenden Verfahren maßgeblichen verfassungsrechtlichen Haushaltsgrundsätze der Vollständigkeit und Wahrheit, der Ausgeglichenheit und der Vorherigkeit des Haushaltsgesetzes in Verbindung mit dem Haushaltsplan.
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Der Grundsatz der Vollständigkeit einschließlich des in diesem Grundsatz aufgehobenen Grundsatzes der Wahrheit, nach dem alle zu erwartenden Einnahmen und alle Ausgaben, die der Bund voraussichtlich leisten wird, im Haushaltsplan anzuführen sind, zielt darauf ab, das gesamte staatliche Finanzvolumen der Budgetplanung und -entscheidung von Parlament und Regierung zu unterstellen (vgl. BVerfGE 108, 1 [16]; 108, 186 [216]; 110, 370 [388]; 113, 128 [147]) und so das Haushaltsbewilligungsrecht als eines der wesentlichen Instrumente der parlamentarischen Regierungskontrolle (vgl. BVerfGE 55, 274 [303]; 82, 159 [179]; 91, 186 [202]) wirksam auszugestalten. Regierung und Parlament sind gleichermaßen Adressaten der haushaltsrechtlichen Verpflichtung zur Vollständigkeit des Haushaltsplans. In ihrem Zusammenwirken haben sie für die Funktionsfähigkeit des parlamentarischen Regierungssystems im freiheitlichen demokratischen und sozialen Rechtsstaat durch sorgfältige und transparente haushaltswirtschaftliche Planung, Entscheidung und Kontrolle der staatlichen Tätigkeit Sorge zu tragen.
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In diesem Zusammenhang unterstützende Funktion hat auch das Gebot des Ausgleichs von Einnahmen und Ausgaben gemäß Art. 110 Abs. 1 Satz 2 GG, obwohl es sich auf eine formale, rechnerische Regel beschränkt (so auch die ganz überwiegende Ansicht in der Literatur, vgl. mit zahlreichen Nachweisen Heun, in: Dreier, Grundgesetz, Band 3, 2000, Art. 110 Rn. 25) und so lediglich einer sinnvollen Darstellung des vollständigen Haushalts dient. Unter Einnahmen sind danach auch Einnahmen aus Krediten zu verstehen, so dass auch ein Haushalt mit einem erheblichen Anteil an Einnahmen aus Krediten im Sinne des Art. 110 Abs. 1 Satz 2 GG ausgeglichen sein kann und sein muss.
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Dies ergibt sich deutlich aus dem systematischen Verhältnis dieser Norm zu der spezielleren Regelung des Art. 115 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 109 Abs. 2 GG. Art. 115 GG mit seinem ausdrücklichen besonderen Vorbehalt des Gesetzes und den weiteren materiellen Begrenzungsregeln für die Aufnahme von Krediten und für andere Maßnahmen, "die zu Ausgaben in künftigen Rechnungsjahren führen können", begründet und begrenzt die zulässige jährliche Neuverschuldung des Bundes durch Kreditaufnahme. Sowohl die ältere Fassung des Art. 115 GG, nach der Einnahmen aus Krediten nur für den "außerordentlichen" Bedarf und in der Regel nur für "werbende Zwecke" zulässig waren, als auch die seit der Haushaltsreform von 1969 geltende Fassung setzen die Vereinbarkeit des Ansatzes von Einnahmen aus Krediten mit dem Ausgleichsgebot des Art. 110 Abs. 1 Satz 2 GG voraus.
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Dem wollen auch die Antragsteller nicht widersprechen, wenn sie sich auf einen materiellen Gehalt des Ausgleichsgebots berufen und damit wohl einen Zusammenhang zwischen dem Ausgleichsgebot und dem Grundsatz der Vollständigkeit meinen, womit allerdings dem Grundsatz der Vollständigkeit nichts Neues hinzugefügt wird: Ein Haushalt, der etwa künftige Ausgaben niedriger oder Einnahmen höher veranschlagt als dies zum Zeitpunkt der Haushaltsaufstellung und Beschlussfassung des Parlaments vorhersehbar zu erwarten ist, enthält "in Wahrheit" eine "Deckungslücke", die nach dem Vollständigkeitsgebot auszuweisen, aber auch auszugleichen ist. Ein "in Wahrheit" nicht ausgeglichener Haushalt ist stets auch ein unvollständiger Haushalt, der unbeantwortet lässt, wie der Anteil zu erwartender, aber nicht veranschlagter Ausgaben zu finanzieren oder ein dem entsprechender Teil der Einnahmen zu verwenden ist. Einer Erweiterung des formalen Ausgleichsgebots des Art. 110 Abs. 1 Satz 2 GG bedarf es insoweit nicht.
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Der wirksamen Ausgestaltung des parlamentarischen Budgetrechts dient schließlich auch das Gebot der Vorherigkeit gemäß Art. 110 Abs. 2 GG, wonach der Haushaltsplan vor Beginn des Rechnungsjahres durch das Haushaltsgesetz festzustellen ist. Dieses Gebot zielt auf die Sicherung der Budgethoheit des Parlaments in zeitlicher Hinsicht und will insbesondere die Leitungsfunktion des Haushalts für das gesamte Haushaltsjahr gewährleisten. Obwohl der Vorherigkeitsgrundsatz nach seinem Wortlaut in erster Linie den Gesetzgeber anspricht, ist Verpflichtungsadressat auch dieses Grundsatzes nicht nur das Parlament. Alle am Gesetzgebungsverfahren mitwirkenden Verfassungsorgane sind verpflichtet, an der Erfüllung des Vorherigkeitsgebots mitzuwirken (vgl. BVerfGE 45, 1 [33]; 66, 26 [38]), also auch die Regierung, der die ausschließliche haushaltsgesetzliche Initiativkompetenz zukommt. Diese Kompetenz umfasst das Recht und die Pflicht zur rechtzeitigen Einbringung; im Funktionsbereich der Regierung sind die aufwendigen Vorbereitungsarbeiten zu den Entwürfen der Einzelpläne und des Gesamthaushaltsplans zu leisten, deren rechtzeitiger Abschluss notwendige Voraussetzung für die rechtzeitige Feststellung durch das Haushaltsgesetz ist.
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Der Vorherigkeitsgrundsatz nimmt allerdings insoweit eine Sonderstellung ein, als seine Verletzung die Wirksamkeit des Haushaltsgesetzes unberührt lässt. Als Folge eines Verstoßes gegen Art. 110 Abs. 2 Satz 1 GG weist Art. 111 GG der Bundesregierung ein Nothaushaltsrecht zu, in dessen Rahmen das fehlende Haushaltsgesetz vorübergehend ersetzt wird durch unmittelbare verfassungsrechtliche Ermächtigungen zur Haushaltsführung, die dann mit dem rückwirkenden Inkrafttreten des verspäteten Haushaltsgesetzes absorbiert oder (bei mangelnder Übereinstimmung der Ermächtigungen) nur für die Zukunft abgelöst werden (vgl. Siekmann, in: Sachs, Grundgesetz, 4. Aufl. 2007, Art. 110 Rn. 59, Art. 111 Rn. 11). Gerade angesichts des Zusammenwirkens des Vorherigkeitsgebots und des Nothaushaltsrechts besteht kein Zweifel an der auch nach Fristablauf fortbestehenden Pflicht aller Verfassungsorgane, das noch fehlende Haushaltsgesetz so zügig wie möglich zu verabschieden, um mit dessen rückwirkender Inkraftsetzung die Rechte des Parlaments wiederherzustellen. Ob danach die Verletzung des Vorherigkeitsgrundsatzes nicht nur die Wirksamkeit des Haushaltsgesetzes unberührt lässt, sondern auch dessen Verfassungsmäßigkeit, so dass eine solche Pflichtverletzung erfolgreich nur im Organstreitverfahren, nicht aber im Verfahren der Normenkontrolle geltend gemacht werden kann, ist durchaus fraglich, kann hier aber mangels einer Pflichtverletzung (nachfolgend unter 2.c]) im Ergebnis offen bleiben.
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2. § 1 des Haushaltsgesetzes 2004 n. F. war nach diesen verfassungsrechtlichen Maßstäben mit dem Grundgesetz vereinbar.
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a) Soweit es um die in diesem Gesetz festgestellten Ansätze im Haushaltsplan geht, scheidet eine Verletzung der Grundsätze der Vollständigkeit und Wahrheit durch dieses Gesetz, mit dem die veranschlagten Ansätze den gegebenen Realitäten angepasst wurden, von vornherein aus und wird auch von den Antragstellern in tatsächlicher Hinsicht nicht behauptet. Diese wenden sich vielmehr gegen die Einbringung des Nachtragshaushalts im Deutschen Bundestag erst Mitte Oktober 2004 statt zu einem bereits wesentlich früheren Zeitpunkt, und sie sehen darin ein pflichtwidriges, die Rechte des Deutschen Bundestages verletzendes Verhalten der Bundesregierung während des laufenden Haushaltsjahres.
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b) Als verfassungsrechtlicher Maßstab kommt insoweit allein der Grundsatz der Vorherigkeit gemäß Art. 110 Abs. 2 Satz 1 GG in Betracht. Dieser Grundsatz bezieht sich allerdings nach seinem Wortlaut naturgemäß nicht unmittelbar auf Nachtragshaushalte, die praktisch zwangsläufig erst während des laufenden Haushaltsjahres eingebracht werden können. Im Hinblick auf den Schutzzweck des Vorherigkeitsgebots, das im Zusammenspiel mit den Grundsätzen der Vollständigkeit und Wahrheit auf die Gewährleistung der Lenkungs- und Kontrollfunktionen des Haushaltsgesetzes und damit auf die Wirksamkeit der Budgethoheit des Parlaments zielt, ist jedoch eine entsprechende Anwendung auch auf die Einbringung eines Nachtragshaushalts nicht von vornherein ausgeschlossen. In entsprechender Anwendung wäre das Vorherigkeitsgebot dann ein Verfassungsgebot rechtzeitiger, nicht willkürlich verzögerter Korrektur oder Anpassung ursprünglich oder nachträglich realitätsfremder Haushaltsansätze.
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Zwar ist an der Möglichkeit entsprechender Pflichten, deren Verletzung im Organstreit geltend gemacht werden könnte, insbesondere auch unter dem Aspekt der Organtreue, kaum zu zweifeln. Der Senat hat jedoch Bedenken dagegen, diese als verfassungsrechtliche Anforderungen an das Haushaltsgesetz selbst zu qualifizieren. Wie bemerkt, ergeben sich schon für den unmittelbaren Anwendungsbereich des Vorherigkeitsgebots Zweifel, ob dessen Verletzung, die ja die Wirksamkeit des Haushaltsgesetzes unberührt lässt, überhaupt zu dessen -- folgenloser -- Verfassungswidrigkeit führt, die im Normenkontrollverfahren feststellbar wäre. Jedenfalls sind für den Fall entsprechender Anwendung des Art. 110 Abs. 2 Satz 1 GG auf einen Nachtragshaushalt gravierende Einwände unübersehbar:
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In seiner unmittelbaren Anwendung hat das Vorherigkeitsgebot einen klaren und bestimmten verfahrensrechtlichen Inhalt. Es bestimmt den Zeitpunkt, bis zu dem ein Haushaltsgesetz zu verkünden und in Kraft zu setzen ist, nämlich vor Ablauf des vorangegangenen Rechnungsjahres. Damit sind auch die Voraussetzungen einer Verletzung eindeutig bestimmt. Auf Verschulden oder pflichtwidriges Verhalten der beteiligten Verfassungsorgane kommt es insoweit nicht an.
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Im Gegensatz dazu sind die Voraussetzungen einer verfassungswidrigen Verspätung eines Nachtragshaushalts in keiner Weise normativ klar und bestimmt. Lediglich auf einfachgesetzlicher Ebene regelt § 33 Satz 2 BHO, dass der Entwurf eines Nachtragshaushalts "bis zum Ende des Haushaltsjahres einzubringen" ist. Für die Frage, ob auch unabhängig von dieser speziellen einfachgesetzlichen Pflicht der Bundesregierung ein strengeres verfassungsrechtliches Gebot "rechtzeitiger" Feststellung eines Nachtragshaushaltsplans durch Gesetz verletzt ist, hängt alles von der verfassungsrechtlichen Begründung konkreter Verhaltenspflichten und der Bewertung des Verhaltens der am Gesetzgebungsverfahren beteiligten Verfassungsorgane ab.
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Als verfassungsrechtlicher Maßstab der Vereinbarkeit eines Nachtragshaushaltsgesetzes mit der Verfassung in Gestalt eines Gebots rechtzeitiger Einbringung, Beschlussfassung und Verkündung veränderte das Gebot der Vorherigkeit des Haushaltsgesetzes also seinen Inhalt und seine normative Qualität in grundlegender Weise. Aus einer zeitlich bestimmten formalen Verfahrensanforderung zum Schutz des parlamentarischen Budgetrechts würde eine inhaltlich unbestimmte Generalklausel mit materiellen Anforderungen an die Sorgfalt der Beteiligten bei Einleitung und Durchführung eines Gesetzgebungsverfahrens. Als Maßstab für die Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes wäre dies ein Fremdkörper innerhalb der Verfassungsnormen zum Gesetzgebungsverfahren.
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c) Im Ergebnis kann jedoch offen bleiben, ob ein solcher Maßstab für Nachtragshaushalte anzuerkennen ist, denn der Bundesregierung ist die späte Einbringung des Nachtragshaushalts 2004 jedenfalls nicht als eine Verletzung verfassungsrechtlicher Pflichten vorzuwerfen.
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aa) Zu dem maßgeblichen Zeitpunkt, bis zu dem Erkenntnissen nach Verabschiedung und Verkündung eines Haushaltsgesetzes in einem Nachtragshaushalt Rechnung zu tragen ist, gibt es, abgesehen von der großzügigen einfachgesetzlichen Bestimmung des § 33 Satz 2 BHO zur Einbringung bis zum Ende des Haushaltsjahres, keine ausdrückliche bundesrechtliche Regel.
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bb) Die bisherige Staatspraxis ist nicht ganz einheitlich: Für die gemäß § 4 Satz 1 HGrG, § 4 Satz 1 BHO mit den Kalenderjahren übereinstimmenden Haushaltsjahre 1980 bis 2003 wurden insgesamt vierzehn Nachtragshaushalte verabschiedet. Einen Sonderfall bildete dabei das Jahr 1990, für das es im Zusammenhang mit den Aufgaben bei der Bewältigung der Deutschen Einheit -- einschließlich eines Gesetzes zur Änderung des Haushaltsgesetzes der DDR -- zu drei Nachtragshaushalten kam (vom 23. Mai, 26. Juni und 2. November 1990, BGBl I S. 944, 1146 und 2402). Nur ein weiteres Mal, für das Jahr 1982, wurden zwei Nachtragshaushalte verkündet, und zwar am 16. Oktober und am 22. Dezember (BGBl I S. 1389 und 1802). Für die übrigen Jahre bewegen sich die Verkündungsdaten nur in vier Fällen innerhalb der ersten sieben Monate des Jahres (Nachtragshaushaltsgesetze 1980 vom 8. Juli, BGBl I S. 868; 1989 vom 11. Juli, BGBl I S. 1402; 1992 vom 15. Juli, BGBl I S. 1290; 1993 vom 18. Juni, BGBl I S. 934), dreimal kam es erst im Dezember zur Verkündung (Nachtragshaushaltsgesetze 1991 vom 20. Dezember, BGBl I S. 2350; 1997 vom 22. Dezember, BGBl I S. 3242; 2002 vom 23. Dezember, BGBl I S. 4594), einmal im Oktober (Nachtragshaushaltsgesetz 1988 vom 26. Oktober, BGBl I S. 2082) und schließlich einmal sogar erst im Februar des Folgejahres (Nachtragshaushaltsgesetz 2003 vom 18. Februar 2004, BGBl I S. 222). Danach lässt sich feststellen, dass nur in seltenen Ausnahmefällen mehr als ein Nachtragshaushalt für ein Jahr verabschiedet wurde und dass die Verkündung erst gegen Jahresende nach der Staatspraxis als Normalität anzusehen ist.
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cc) Beide Feststellungen lösen grundsätzliche Bedenken gegen die bisherige Staatspraxis nicht aus. Die Maßstäbe "rechtzeitiger" Einbringung eines Nachtragshaushalts können -- auch wenn es um eine entsprechende Anwendung des Art. 110 Abs. 2 Satz 1 GG gehen soll -- nicht wesentlich anders ausfallen als diejenigen Maßstäbe, die das Bundesverfassungsgericht auch sonst -- also unter dem allgemeinen Aspekt der Organtreue (vgl. BVerfGE 89, 155 [191]; 90, 286 [337]; 97, 350 [374 f.]) und unter dem spezielleren des bundesfreundlichen Verhaltens im Verhältnis zwischen dem Bund und den Ländern (vgl. BVerfGE 81, 310 [337]; 104, 249 [269 f.]; 106, 1 [27]; 110, 33 [52]) -- an die gebotene gegenseitige Rücksichtnahme im Verhältnis zwischen Verfassungsorganen anlegt. In allen Fällen geht es um Sorgfaltspflichten bei der Wahrnehmung verfassungsrechtlicher Kompetenzen -- hier der Kompetenz der Bundesregierung zur Einbringung des Haushaltsgesetzes -- im Interesse der angemessenen Wahrung von Rechten und Interessen eines anderen Verfassungsorgans -- hier zur Wahrung der Budgethoheit des Parlaments. Nach diesen Grundsätzen dürfen Kompetenzen weder missbräuchlich noch im Widerspruch zu prozeduralen Anforderungen zu Lasten eines anderen Verfassungsorgans ausgeübt werden (vgl. BVerfGE 81, 310 [337]; 104, 249 [270]; 106, 1 [27]; 110, 33 [52]).
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Weder das Bestreben einer Bundesregierung, nach Möglichkeit nur einen einzigen Nachtragshaushalt einbringen zu müssen, noch die Praxis, diesen Haushalt zu einem Zeitpunkt einzubringen, der dessen Verkündung regelmäßig erst in den letzten Monaten eines Jahres ermöglicht, stellt sich ohne Weiteres als missbräuchlich dar.
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Der Einbringung möglichst nur eines Nachtragshaushalts liegt im Regelfall ein legitimes arbeitsökonomisches Interesse der Regierung und letztlich auch des Parlaments zugrunde, da Vorbereitung, Abschluss und Beratung des Entwurfs auch eines Nachtragshaushalts regelmäßig mit erheblichem Zeitaufwand verbunden sind und auch im Gesetzgebungsverfahren knappe Ressourcen binden. Dem entspricht es, dass mehrere Nachtragshaushalte innerhalb eines Jahres die seltene Ausnahme geblieben sind.
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Auch eine späte Einbringung des Entwurfs, nach der der Abschluss des Verfahrens mit der Verkündung des Gesetzes erst im letzten Quartal des laufenden Haushaltsjahres möglich wird, ist nicht schon ohne Weiteres als pflichtwidrig zu werten. Maßgeblich ist vielmehr, wieweit der späte Zeitpunkt der Einbringung einerseits zu konkreten Beeinträchtigungen des parlamentarischen Budgetrechts führt und andererseits die Regierung hinreichende sachliche Gründe für diesen späten Zeitpunkt anführen kann.
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dd) Hiernach hat die Bundesregierung ihre Pflicht zur rechtzeitigen Einbringung des Nachtragshaushalts 2004 nicht verletzt. Allerdings waren zwei wesentliche Anlässe für eine Anpassung des Haushaltsgesetzes 2004 an geänderte Sachverhalte bereits sehr früh klar: Die Differenz zwischen dem Soll und dem Ist des Bundesbankgewinns war spätestens mit der offiziellen Bekanntgabe durch die Bundesbank im März 2004 bekannt und die zeitliche Verschiebung des Inkrafttretens des Vierten Gesetzes für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt (vgl. Beschlussempfehlung des Vermittlungsausschusses vom 16. Dezember 2003, BTDrucks 15/2259) schon vor Abschluss des Verfahrens der Haushaltsgesetzgebung. Schließlich zeigte sich im Mai des Jahres durch die Ergebnisse des Arbeitskreises Steuerschätzung (erwartete Steuermindereinnahmen von 8,3 Mrd. € gegenüber der Schätzung vom November 2003, vgl. Monatsbericht 05.2004 Bundesministerium der Finanzen, S. 53 ff.) ein möglicher weiterer Korrekturbedarf hinsichtlich der zu erwartenden Steuereinnahmen. Konkrete erhebliche Beeinträchtigungen der Rechte des Parlaments durch die Einbringung des Nachtragshaushalts erst im Oktober 2004 sind gleichwohl nicht festzustellen:
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(1) Die Ansätze im Zusammenhang mit der zeitlichen Verschiebung von "Hartz IV", die erst aufgrund der Empfehlungen des Haushaltsausschusses des Deutschen Bundestages in das Haushaltsgesetz 2004 (a. F.) aufgenommen worden waren (Beschlussempfehlung des Haushaltsausschusses, BTDrucks 15/1922), bargen keine politisch gewichtigen eigenständigen Entscheidungen, sondern enthielten den Nachvollzug der Entscheidungen der Sachgesetzgebung. Diese Sachgesetzgebung verwirklicht hier die politische Konzeption, die im jährlichen Haushaltsplan in konkrete Ausgaben- und Einnahmenansätze zu transformieren ist (vgl. BVerfGE 79, 311 [330], wo auch insoweit vom staatsleitenden Hoheitsakt als Sinn des Haushaltsplans die Rede ist). Entsprechendes galt für die Korrekturen im Nachtragshaushalt, die in ihrer Summe keine bedeutenden Veränderungen der Gesamteinnahmen und -ausgaben verursachten und deren Art und Umfang dem Parlament im Wesentlichen bereits durch den von der Bundesregierung ursprünglich eingebrachten Entwurf bekannt waren. Vor diesem Hintergrund ist es vertretbar, wenn das Bundesministerium der Finanzen in seinem Monatsbericht im April 2004 (S. 42) mitteilte, die verzögerte Einführung von "Hartz IV" werde im Haushaltsvollzug berücksichtigt, und damit sachlich in den Grundzügen auf die Fassung der Regierungsvorlage zum Haushaltsgesetz 2004 verwies.
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(2) Haushaltspolitisch stärker ins Gewicht fallen die Korrekturen des Bundesbankgewinns in Höhe von mehr als 3 Mrd. €. Dies ergibt sich zwar nicht schon ohne Weiteres aus der Höhe des Korrekturansatzes, der sich im Verhältnis zum ursprünglich verabschiedeten Gesamthaushaltsvolumen auf rund 8% beläuft, wohl aber aus dem Erfordernis, über die Finanzierung dieser Differenz zu entscheiden. Für die Bewertung einer Beeinträchtigung der Rechte des Bundestages ist gleichwohl Folgendes zu berücksichtigen:
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Die Anträge von Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP sowie deren Fraktionen vom Mai 2004, mit denen die Vorlage eines Nachtragshaushalts und eines umfassenden Haushaltssicherungsgesetzes noch vor der parlamentarischen Sommerpause gefordert wurde, wurden im Plenum des Bundestages am 27. Mai 2004 -- schon vor dem Hintergrund der neuesten Ergebnisse des Arbeitskreises Steuerschätzungen -- debattiert (vgl. Deutscher Bundestag, Stenografischer Bericht der 111. Sitzung vom 27. Mai 2004, Plenarprotokoll 15/111, S. 10087 ff.). Nach der ablehnenden Beschlussempfehlung und dem Bericht des federführenden Haushaltsausschusses vom 30. Juni 2004 (BTDrucks 15/3556 vom 2. Juli 2004) über die Ablehnung auch in den weiteren befassten Ausschüssen wurden diese Anträge im Plenum nicht weiter verfolgt. Anträge auf weitere Beratung der Vorlagen und auf abschließende Abstimmung wurden nicht gestellt. Durch die Befassung mit den Anträgen der Oppositionsfraktionen war somit der Bundestag in vollem Umfang über die aktuellen Haushaltsprobleme informiert, und durch die Beratungen im Plenum war auch die Öffentlichkeitsfunktion des Parlaments gewahrt.
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(3) Die Entscheidung der Bundesregierung für einen späteren Zeitpunkt der Vorlage eines Nachtragshaushalts entsprach nicht nur dem Mehrheitswillen im Parlament, die Regierung konnte für ihre Entscheidung auch tragfähige sachliche Gründe in Anspruch nehmen: Angesichts des Beginns der parlamentarischen Sommerpause im Juli wäre die Erarbeitung von Regierungsvorlagen mit den von den Oppositionsfraktionen im Mai des Jahres geforderten umfassenden Änderungen sowohl des Haushaltsgesetzes als auch verschiedener Sachgesetze in Gestalt eines Haushaltssicherungsgesetzes schon aus zeitlichen Gründen äußerst schwierig zu bewältigen gewesen. Insbesondere die erfahrungsgemäß mit den jeweiligen Steuerschätzungen verbundenen Unsicherheiten legten es nicht nahe, sofort auf die neuesten Schätzungsergebnisse vom Mai 2004 mit Haushaltsanpassungen zu reagieren; sie begründeten eher ein sachliches Argument dafür, zunächst die weitere Entwicklung der Steuereinnahmen abzuwarten. Letzteres führte der Bundesminister der Finanzen in der Debatte zu den erwähnten Anträgen der Fraktionen der CDU/CSU und der FDP vor dem Plenum des Bundestages am 27. Mai ausdrücklich aus unter Hinweis auf die Unmöglichkeit, die Nettokreditaufnahme zurzeit zuverlässig zu prognostizieren, sowie auf das von ihm gegenwärtig geschätzte "Risiko" zusätzlicher Nettokreditaufnahme von 10 bis 11 Mrd. € (BT-Plenarprotokoll 15/111 S. 10094). Ebenso deutlich sprach er sich dagegen aus, Einnahmeausfälle -- angesichts noch schwacher Konjunktur und mangelnder Inlandsnachfrage -- durch Verschärfung der Sparmaßnahmen in Form einer Haushaltssperre oder eines Haushaltssicherungsgesetzes auszugleichen. Weder dem Bundestag noch der Öffentlichkeit blieben hiernach die aktuelle Haushaltslage und die weitere haushaltspolitische Marschrichtung der Bundesregierung verborgen.
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Betrachtet man vor diesem Hintergrund das weitere Verfahren, das zur Verabschiedung des Nachtragshaushalts 2004 führte, so sind pflichtwidrige Verzögerungen seitens der Bundesregierung nicht festzustellen: Nachdem die Anträge der Oppositionsfraktionen vom 4. und vom 26. Mai am 27. Mai an die Ausschüsse überwiesen worden waren und die negative Beschlussempfehlung des Haushaltsausschusses vom 30. Juni dem Bundestag als Drucksache vom 2. Juli vorlag, dort aber nicht weiterverfolgt wurde, fand am 9. Juli die letzte Sitzung vor der Sommerpause statt. In den ersten vier Sitzungen nach der parlamentarischen Sommerpause vom 7. bis zum 10. September wurde der Haushaltsentwurf 2005 beraten (BT-Plenarprotokoll 15/121--124) und am 21. Oktober der Nachtragshaushalt 2004 (BT-Plenarprotokoll 15/132).
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Eine Pflicht der Bundesregierung, zu einem deutlich früheren Zeitpunkt den Entwurf eines Nachtragshaushalts mit dem Risiko vorzulegen, wegen nicht vorhergesehener weiterer Veränderungen einen zweiten Nachtrag zum Jahresende vorlegen zu müssen, wäre nur denkbar, wenn bereits der Haushaltsentwurf 2004 a. F. wegen vorhersehbar realitätsfremder Ansätze verfassungswidrig und damit im Sinne des Vortrags der Antragsteller heilungsbedürftig gewesen wäre. Dies war jedoch nicht der Fall (nachfolgend unter 3.).
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3. Auch § 1 Haushaltsgesetz 2004 a. F. entsprach, entgegen dem Hilfsantrag der Antragsteller, den haushaltsverfassungsrechtlichen Anforderungen sowohl mit dem Ansatz des Anteils des Bundes am Reingewinn der Bundesbank (a) als auch mit den Ansätzen zum Vierten Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt -- "Hartz IV" (b).
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a) Der Ansatz des Anteils des Bundes am Reingewinn der Bundesbank des Jahres 2003 war mit den haushaltsverfassungsrechtlichen Geboten der Vollständigkeit und Wahrheit (Art. 110 Abs. 1 Satz 1 GG) vereinbar.
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Aus dem Verfassungsgebot der Haushaltswahrheit folgt vor allem die Pflicht zur Schätzgenauigkeit (vgl. Heun, Staatshaushalt und Staatsleitung, 1989, S. 264) mit dem Ziel, die Wirksamkeit der Budgetfunktionen im parlamentarischen Regierungssystem -- Leitung, Kontrolle und Transparenz durch Öffentlichkeit der staatlichen Tätigkeiten -- zu gewährleisten. Welche Verhaltensanforderungen an die beteiligten Verfassungsorgane im Einzelnen aus dieser Pflicht folgen, lässt sich kaum generell und abstrakt bestimmen. Jedenfalls ist die Pflicht verletzt durch bewusst falsche Etatansätze, aber auch durch "gegriffene" Ansätze, die trotz naheliegender Möglichkeiten besserer Informationsgewinnung ein angemessenes Bemühen um realitätsnahe Prognosen zu erwartender Einnahmen oder Ausgaben vermissen lassen. Wie andere Prognosen sind auch die vielfach erforderlichen Einnahmen- und Ausgabenschätzungen nicht schon dann als Verstoß gegen das Wahrheitsgebot zu bewerten, wenn sie sich im Nachhinein als falsch erweisen. Sie müssen stets nur aus der Sicht ex ante sachgerecht und vertretbar ausfallen (vgl. BVerfGE 30, 250 [263]; 113, 167 [234]). Was dabei als vertretbar zu gelten hat, kann nur aufgrund einer Gesamtbewertung der konkreten Entscheidungssituation unter Berücksichtigung des betroffenen Sach- und Regelungsbereichs, der Bedeutung der zu treffenden Entscheidung und deren Folgen sowie der verfügbaren Tatsachengrundlagen für die Prognose bestimmt werden.
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In dem Entwurf des Haushaltsgesetzes 2004 a. F., den die Bundesregierung dem Bundestag und dem Bundesrat am 15. August 2003 zugeleitet hat (BTDrucks 15/1500; BRDrucks 650/03), war der erwartete Anteil des Bundesbankgewinns mit 3,5 Mrd. € veranschlagt. Dies beruhte auf den Erfahrungen der vergangenen Jahre in Verbindung mit § 6 Abs. 1 des Erblastentilgungsfonds-Gesetzes, der diesen Betrag als Höchstbetrag des dem Bund zustehenden Anteils am Reingewinn der Bundesbank bestimmt. Die Höhe des Bilanzgewinns der Deutschen Bundesbank hatte sich in den Vorjahren -- überwiegend wesentlich -- oberhalb dieses Betrages bewegt (vgl. die jeweils in den Gewinn- und Verlustrechnungen der Geschäftsberichte der Deutschen Bundesbank angeführten Jahresüberschüsse bzw. Bilanzgewinne: 1995: 10,928 Mrd. DM; 1996: 9,427 Mrd. DM; 1997: 24,228 Mrd. DM; 1998: 12,608 Mrd. DM [6,447 Mrd. €]; 1999: 3,903 Mrd. €; 2000: 8,353 Mrd. €; 2001: 11,238 Mrd. €; 2002: 5,324 Mrd. € Jahresüberschuss, erhöht um eine Entnahme aus der gesetzlichen Rücklage zu einem Bilanzgewinn von 5,437 Mrd. €). Korrespondierend führt die Bundesregierung in ihrem am 8. August 2003 abgeschlossenen Finanzbericht 2004 (S. 236, Tabelle 6) in einer Übersicht die Ist-Werte der Anteile am Bundesbankgewinn für die Jahre 1990 bis 2002 konstant mit den seit 1993 jeweils nach § 6 Erblastentilgungsfonds-Gesetz maßgeblichen Höchstbeträgen von 3,579 Mrd. € (bis 2001: 7 Mrd. DM) und 3,5 Mrd. € (für 2002) an. Der letzte Wert wird dann als Soll-Wert für die Jahre 2003 bis 2007 fortgeschrieben.
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Entspricht hiernach der Ansatz im Haushaltsgesetz 2004 einem langjährigen Erfahrungswert, kommt eine Pflichtverletzung der Bundesregierung nur dann in Betracht, wenn zum fraglichen Zeitpunkt handfeste Indizien für eine wesentlich geänderte Gewinnsituation der Deutschen Bundesbank erkennbar waren. Dies war weder zum Zeitpunkt der Einbringung des Gesetzentwurfs im August 2003 noch zu einem späteren Zeitpunkt bis zur Annahme des Gesetzentwurfs im Deutschen Bundestag am 28. November 2003 (BT-Plenarprotokoll 15/80, S. 7058 ff.) der Fall. Zwar teilte die Deutsche Bundesbank in ihrem Monatsbericht November 2003 (S. 64) mit, die nichtsteuerlichen Einnahmen, namentlich der Bundesbankgewinn, fielen "niedriger als im Vorjahr" aus. Diese eher beiläufige Bemerkung, die nicht näher präzisiert wird, bezieht sich nach dem Zusammenhang der Ausführungen aber eher auf das Haushaltsjahr 2003, also auf das Geschäftsjahr 2002 der Bundesbank, und damit auf die geringeren Zuführungen der Bundesbank an den Erblastentilgungsfonds im Kontrast zum vorangegangenen Geschäftsjahr 2001 der Bundesbank, das mit 11,238 Mrd. € mehr als den doppelten Gewinn und damit auch erheblich höhere Einnahmen des Fonds erbracht hatte. Jedenfalls wird die Vertretbarkeit der Einschätzung der Bundesregierung zu der zu erwartenden Gewinnabführung der Bundesbank für das Haushaltsjahr 2004 auch dadurch bestätigt, dass dieser Ansatz weder im Bericht des Haushaltsausschusses des Bundestages vom 13. November 2003 (BTDrucks 15/1923) thematisiert noch in den Entschließungsanträgen der Abgeordneten von CDU/CSU und FDP sowie deren Fraktionen vom 26. November 2003 (BTDrucks 15/2089 und 15/2090) gerügt wurde.
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Soweit ersichtlich, tauchten erst nach der Annahme des Gesetzentwurfs durch den Deutschen Bundestag am 28. November 2003 in der Presse -- am 17. Dezember in der Financial Times Deutschland und am folgenden Tag auch in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung -- erste Berichte über einen möglicherweise niedrigen Gewinn der Deutschen Bundesbank im Geschäftsjahr 2003 auf, wobei Spekulationen über einen Abschreibungsbedarf bei den Währungsreserven wegen des schwachen Dollarkurses um bis zu 6 Mrd. € oder mehr im Vordergrund standen. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung wies zusätzlich darauf hin, dass zum Gewinn des vorangegangenen Geschäftsjahrs 2002 auch der Zinsertrag von 4,2 Mrd. € beigetragen habe. Falle der Gewinn des laufenden Geschäftsjahrs 2003 um rund 2 Mrd. € geringer aus, könne der Bund immer noch mit einem Gewinn von rund 3,5 Mrd. € rechnen, also mit dem im Haushalt 2004 veranschlagten Betrag.
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Dass derartige Presseberichte zum Ende des Jahres 2003 in hohem Maße spekulativ waren, hat sich nachträglich bei den im Jahresabschluss 2003 der Deutschen Bundesbank ausgewiesenen Abschreibungen auf Fremdwährungen gezeigt. Es handelte sich nicht um die in der Presse genannten 6 Mrd. € oder mehr, sondern um 2,328 Mrd. €, davon erfolgswirksamer Nettoaufwand 1,7 Mrd. €. Mehr als Spekulationen waren zu diesem Zeitpunkt angesichts erheblicher Wechselkursschwankungen (vgl. z. B. Europäische Zentralbank, Monatsbericht November 2003, S. 43; Monatsbericht Januar 2004, S. 43; Monatsbericht April 2004, S. 44) auch kaum möglich: Nach den Angaben der Deutschen Bundesbank in ihrer Pressekonferenz zum Geschäftsbericht 2003 am 24. März 2004 (Quelle: www.bundesbank.de) hätte eine Änderung des Wechselkurses zum Bilanzstichtag von 1 € = 1,26 US-$ zu dem Wechselkurs 1 € = 1,22 US-$ zu einem um 1 Mrd. € höheren Gewinn geführt.
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Vor diesem Hintergrund kann die Frage offen bleiben, ob es, wie die Antragsteller meinen, zu den Sorgfaltspflichten der Bundesregierung gehört hätte, Auskünfte der Bundesbank über den zu erwartenden Gewinn des Geschäftsjahres 2003 einzuholen, und ob, was die Bundesregierung bestreitet, sie dazu überhaupt berechtigt und die Bundesbank zur Auskunfterteilung verpflichtet gewesen wäre. Bis zum Zeitpunkt der Einbringung des Haushaltsentwurfs am 15. August 2003 waren valide Informationen über die Gewinnsituation am Bilanzstichtag, dem 31. Dezember 2003, nicht vorhanden. Anschließend war nicht mehr die Bundesregierung "Herrin des Verfahrens", sondern der Deutsche Bundestag, so dass es ohnehin näher liegt, an Möglichkeiten des Parlaments zur Gewinnung aktueller Informationen zu denken. Indes hatte sich die Informationslage schon angesichts der Wechselkursschwankungen noch bis zum Tag der Annahme des Gesetzentwurfs im Deutschen Bundestag, dem 28. November 2003, nicht deutlich geändert.
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Das anschließende, mit der unverzüglichen Zuleitung des beschlossenen Gesetzes an den Bundesrat weitergeführte Gesetzgebungsverfahren liegt zunächst außerhalb der Dispositionsbefugnis sowohl der Bundesregierung als auch des Bundestages, was im Anschluss an Hatschek (Deutsches und preussisches Staatsrecht, Bd. 2, 1923, S. 77 ff.) vielfach mit dem Begriff der (relativen) "Unverrückbarkeit" des Gesetzesbeschlusses gekennzeichnet wird (vgl. Lücke, in: Sachs, Grundgesetz, 4. Aufl., 2007, Art. 77 Rn. 3 m. w. N.). Abgesehen von offenbaren Unrichtigkeiten sind Korrekturen des Parlamentsbeschlusses unzulässig. Auch die Möglichkeiten des Bundesrates sind beschränkt, da das Haushaltsgesetz des Bundes nicht der Zustimmung bedarf, so dass nur die Befugnis bleibt, das Vermittlungsverfahren gemäß Art. 77 Abs. 2 GG einzuleiten und anschließend Einspruch einzulegen.
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Ob in dem vom Bundesrat zum Haushaltsgesetz 2004 a. F. eingeleiteten Vermittlungsverfahren noch Informationen über den aktuellen Stand des Bundesbankgewinns hätten verarbeitet werden können, ist angesichts der Aufgabe des Vermittlungsausschusses, innerhalb des vorgegebenen Rahmens des Anrufungsbeschlusses des Bundesrates und des ihm zugrunde liegenden Gesetzgebungsverfahrens (vgl. BVerfGE 101, 297 [306 ff.]) einen konsensfähigen Kompromiss zu suchen, zweifelhaft. Der Ansatz des Bundesbankgewinns im Haushaltsentwurf war zu keiner Zeit erkennbar Gegenstand parlamentarischer Kontroversen, wurde auch im Anrufungsbeschluss des Bundesrates nicht ausdrücklich angesprochen und seine Korrektur hätte einen zusätzlichen Beschluss über den Ausgleich einer entstehenden Finanzierungslücke erfordert. Insoweit bedarf es indes keiner Entscheidung. Zusätzliche verlässliche Informationen zur Gewinnsituation der Bundesbank lagen auch während des Vermittlungsverfahrens in der Zeit zwischen dem Anrufungsbeschluss des Bundesrates am 19. Dezember 2003 (BTDrucks 15/2307) und dem Beschluss des Vermittlungsausschusses vom 14. Januar 2004, das Verfahren ohne Einigungsvorschlag abzuschließen (Mitteilung gem. § 12 GGO vom 14. Januar 2004, BRDrucks 44/04 vom 30. Januar 2004), nicht vor.
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Erst zwei Tage nach Abschluss des Vermittlungsverfahrens, am 16. Januar 2004, berichtete die Börsen-Zeitung von einer Äußerung des Mitglieds des Vorstands der Bundesbank Fabricius, wonach der Gewinn des Geschäftsjahres 2003 "deutlich unter 3,5 Mrd. €" liegen werde. Ebenfalls unter Berufung auf Aussagen dieses Vorstandsmitglieds gibt der weitere Text dieser Pressemeldung sodann konkrete Hinweise auf den Abschreibungsbedarf wegen des schwachen Dollarkurses sowie auf damit aufrechenbare Beträge, nämlich eine sogenannte Neubewertungsrücklage von 4,4 Mrd. € sowie Rückstellungen für allgemeine Wagnisse, die Ende 2002 2,8 Mrd. € betragen hätten. Dies diente der Erläuterung der in dem Artikel geäußerten allgemeinen Vermutung einer Halbierung des Vorjahresgewinns von 5,4 Mrd. €, also der Vermutung eines Gewinns aus dem Geschäftsjahr 2003 von immerhin über 2,5 Mrd. €.
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Es bedarf keiner näheren Erläuterung, dass eine derartige Pressemeldung selbst dann keinen hinreichenden Anlass hätte bieten können, im Vermittlungsausschuss konkrete Alternativen zu dem Ansatz des Bundesbankgewinns im Gesetzesbeschluss zu entwickeln, wenn sie noch vor Abschluss dieses Verfahrens erschienen wäre. Zudem haben sich auch diese als "Insider-Informationen" dargestellten Angaben im Ergebnis als spekulativ erwiesen und deuten weniger auf die Zuverlässigkeit der Informationen hin als auf die Komplexität der Gewinnermittlung der Deutschen Bundesbank.
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Dem entspricht die deutliche Zurückhaltung von Amtsträgern der Bundesbank mit offiziellen Informationen über den Bilanzgewinn vor dem endgültigen Abschluss des Geschäftsberichts: Am 10. März 2004, also nach Verkündung des Haushaltsgesetzes 2004 am 25. Februar (BGBl I S. 230), gab der Bundesbankpräsident vor dem Haushaltsausschuss des Bundestages lediglich die pauschale Erklärung ab, der Bundesbankgewinn 2003 liege "deutlich unter 3,5 Mrd. €" (nachgewiesen in dem von der Bundesregierung im Verfahren vorgelegten Kurzprotokoll der 43. Sitzung des Haushaltsausschusses, Protokoll Nr. 15/43, S. 18). Dies geschah, nachdem der Vorstand der Deutschen Bundesbank den Jahresabschluss bereits -- am 18. Februar 2004 -- unterzeichnet hatte, aber noch vor Erteilung des Bestätigungsvermerks der Abschlussprüfer am 17. März 2004 und Abschluss des Geschäftsberichts 2003 am 19. März 2004.
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Vor dem Hintergrund dieser sachangemessenen informationellen Zurückhaltung und angesichts der verfassungsrechtlich eingegrenzten Entscheidungsmöglichkeiten im Rahmen der Mitwirkung des Bundesrates am Gesetzgebungsverfahren sind Pflichtverletzungen der am Gesetzgebungsverfahren beteiligten Organe im Hinblick auf den Ansatz des Bundesbankgewinns nicht erkennbar. Selbst eine schon während des laufenden Gesetzgebungsverfahrens mögliche Änderungsvorlage gemäß Art. 110 Abs. 3 GG speziell zur "Korrektur" der Veranschlagung des Bundesbankgewinns lag angesichts der Informationslage vor Abschluss des Geschäftberichts der Bundesbank nicht nahe und ist jedenfalls als Pflicht der Bundesregierung nicht in Betracht zu ziehen.
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b) Obwohl mit Beginn des Vermittlungsverfahrens zum Haushaltsgesetz 2004 bereits sicher war, dass die Etatansätze im Zusammenhang mit dem Vierten Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt wegen der Verschiebung dessen Inkrafttretens auf den 1. Januar 2005 "falsch" waren, durften diese Ansätze im Einklang mit den Anforderungen des Art. 110 Abs. 1 GG an Vollständigkeit und Wahrheit des Haushaltsgesetzes durch das Haushaltsgesetz 2004 a. F. festgestellt werden.
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aa) In diesem Zusammenhang kann offen bleiben, ob der Vermittlungsausschuss selbst diese -- zwischen Bundestag und Bundesrat in der Sache nicht streitigen -- Ansätze im Rahmen seiner verfassungsrechtlichen Aufgaben und Befugnisse (vgl. BVerfGE 101, 297 [306 ff.], sowie bereits oben unter a) überhaupt hätte korrigieren dürfen. Jedenfalls bestand eine Pflicht zur Korrektur schon deshalb nicht, weil der Vermittlungsausschuss zu den zahlreichen Einwänden des Bundesrates gegen das Haushaltsgesetz 2004 keinen Konsens finden konnte und das Vermittlungsverfahren ohne einen Vorschlag zur Änderung des Gesetzesbeschlusses abgeschlossen wurde. Auch dem Bundestag blieb danach nur noch die Entscheidung über den vom Bundesrat anschließend an das Vermittlungsverfahren eingelegten Einspruch.
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bb) Ebenso wenig war die Bundesregierung verpflichtet, den Weg einer Ergänzungsvorlage gemäß Art. 110 Abs. 3 GG zu beschreiten. Das folgt im Wesentlichen aus denselben Erwägungen, nach denen auch eine Pflichtverletzung im Hinblick auf den Zeitpunkt der Vorlage eines Nachtragshaushalts zu verneinen ist (oben unter 2. c). Für die Frage, ob die Bundesregierung verpflichtet ist, Korrekturen wegen nachträglich im Lauf des Gesetzgebungsverfahrens eingetretener oder bekannt gewordener Umstände bereits durch die Vorlage eines Ergänzungshaushalts zu ermöglichen, oder ob sie berechtigt ist, solche Korrekturen zu einem späteren Zeitpunkt erst im Rahmen eines Nachtragshaushalts zu ermöglichen, ist auch hier entscheidend der Zweck der verfassungsrechtlichen Gebote der Vollständigkeit, Wahrheit und Vorherigkeit des Haushaltsgesetzes, die Wirksamkeit der parlamentarischen Budgethoheit zu schützen. Auch für die Entscheidung gegen eine frühere Ergänzungsvorlage und für einen späteren Nachtragshaushalt kommt es danach darauf an, wieweit die Entscheidung für eine erst spätere Korrektur einerseits zu konkreten Beeinträchtigungen des parlamentarischen Budgetrechts führt und andererseits die Regierung hinreichende sachliche Gründe für einen späteren Zeitpunkt anführen kann.
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Danach durfte sich die Bundesregierung aus den schon unter 2. c) angeführten Gründen für einen späteren Zeitpunkt entscheiden. Insbesondere das fehlende eigenständige Gewicht der hier betroffenen Haushaltsansätze, die umfassende Information des Parlaments über die insoweit maßgeblichen Alternativen und die praktische Möglichkeit, die Änderungen im Haushaltsvollzug angemessen zu berücksichtigen, berechtigte die Bundesregierung gerade auch angesichts des vorgerückten Standes des Gesetzgebungsverfahrens, der grundsätzlichen Differenzen zwischen Bundestag und Bundesrat sowie absehbaren weiteren Korrekturbedarfs, auf eine weitere zeitliche Verzögerung durch Vorbereitung und Beratung einer Ergänzungsvorlage zu verzichten und die notwendigen Korrekturen einem späteren Nachtragshaushaltsverfahren zuzuordnen.
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II. |
§ 2 Abs. 1 des Bundeshaushaltsgesetzes 2004 n. F. war mit dem Grundgesetz, insbesondere mit Art. 115 Abs. 1 Satz 2 GG, vereinbar.
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1. Art. 115 Abs. 1 Satz 2 GG bestimmt: "Die Einnahmen aus Krediten dürfen die Summe der im Haushaltsplan veranschlagten Ausgaben für Investitionen nicht überschreiten; Ausnahmen sind nur zulässig zur Abwehr einer Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts." Zum allgemeinen Regelungsgehalt und zu den Tatbestandsmerkmalen dieser Verfassungsnorm hat der Senat in seinem Urteil vom 18. April 1989 (vgl. BVerfGE 79, 311) grundlegend Stellung genommen. Jene Entscheidung hat die folgenden Grundsätze entwickelt (a), von denen abzurücken auch gegenwärtig kein Anlass besteht (b).
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a) aa) Der allgemeine Regelungsgehalt des Art. 115 Abs. 1 Satz 2 GG zeigt sich vor allem beim Blick auf Entstehungsgeschichte und systematischen Zusammenhang der Norm:
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(1) Art. 115 Abs. 1 Satz 2 GG muss in seinem Gesamtzusammenhang mit der demokratisch-parlamentarischen, rechts- und sozialstaatlichen Ordnung des Grundgesetzes und insbesondere in seinem engen Sachzusammenhang mit Art. 109 Abs. 2 GG verstanden werden; dieser Sachzusammenhang ist geprägt durch die Ziele der Finanz- und Haushaltsreform der Jahre 1967 und 1969, wonach die Regelungen zur staatlichen Haushaltswirtschaft allgemein und insbesondere auch zur Schuldenpolitik entsprechend der ökonomischen Bedeutung staatlicher Finanz- und Haushaltspolitik für die Gesamtwirtschaft umgestaltet werden sollten. Die Verpflichtung von Bund und Ländern, dem gesamtwirtschaftlichen Gleichgewicht Rechnung zu tragen (Art. 109 Abs. 2 GG), und der diese verfassungsrechtliche Verpflichtung begleitende Erlass des Gesetzes zur Förderung der Stabilität und des Wachstums der Wirtschaft vom 8. Juni 1967 (BGBl I S. 582) orientierten sich an den Lehren J. M. Keynes' zur antizyklischen Steuerung mittelfristiger Konjunkturverläufe.
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(2) Als normativer Gehalt des Art. 115 Abs. 1 Satz 2 GG ergibt sich die Verabschiedung der alten haushaltsverfassungsrechtlichen Bindung der Verschuldung an einen außerordentlichen Bedarf und an werbende Zwecke. Maßgeblich sind vielmehr -- auch für die Kreditaufnahme -- die konjunkturpolitischen Vorgaben im Sinne von Art. 109 Abs. 2 GG. Daraus folgt die Unterscheidung des Art. 115 Abs. 1 Satz 2 GG zwischen einer gesamtwirtschaftlichen Normallage und einer Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts.
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(3) In der Normallage ist die Kreditaufnahme nicht ausgeschlossen. Zwar kann die Wahrung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts eine Begrenzung der Kreditaufnahme oder auch eine Rückführung des Schuldenstandes gebieten. Im Übrigen bleibt aber Raum für die Bedarfsdeckungsfunktion des Haushalts und damit für die Finanzierung ausgabenintensiver politischer Vorhaben. Zugleich begrenzt Art. 115 Abs. 1 Satz 2, 1. Halbsatz GG die Kreditaufnahme jedoch auf die Höhe der Ausgaben für Investitionen. Der Kredit darf nur im Umfang der Ausgaben mit "zukunftsbegünstigendem" Charakter in Anspruch genommen werden.
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(4) Die Ausnahme von dieser Regelgrenze der Kreditaufnahme eröffnet der 2. Halbsatz des Art. 115 Abs. 1 Satz 2 GG, damit auch in einer Störungslage, insbesondere bei einem Konjunkturabfall, dem gesamtwirtschaftlichen Gleichgewicht im Einklang sowohl mit dem Ausgleichsgebot des Art. 110 Abs. 1 Satz 2 GG als auch mit Art. 109 Abs. 2 GG Rechnung getragen werden kann. Eine Störungslage liegt deshalb nicht erst im extremen Notstandsfall vor. Die eingetretene oder unmittelbar bevorstehende Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts ist jedoch einerseits tatbestandliche Voraussetzung für die Überschreitung der Regelgrenze zulässiger Kreditaufnahme, andererseits ist diese Überschreitung nur zulässig zum Zweck der Abwehr dieser Störung.
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(5) Die das Regelungskonzept der Art. 109 Abs. 2 und Art. 115 Abs. 1 Satz 2 GG tragende Vorstellung, eine an der Nachfrage ansetzende Beeinflussung der wirtschaftlichen Konjunktur durch die staatliche Haushaltspolitik sei möglich und geboten, prägt den Regelungsgehalt der Normen, von dem die verfassungsrechtliche Prüfung auszugehen hat. Dies gilt -- so der Senat im Jahr 1989 -- trotz bereits früh einsetzender verfassungs- und finanzpolitischer Kritik an dem verfassungsgesetzlichen Konzept, insbesondere auch trotz der strikten Ablehnung interventionistischer staatlicher Nachfragepolitik zugunsten einer angebotsorientierten Geldmengensteuerung seitens der zunehmend einflussreichen Vertreter des Monetarismus. Die verfassungsgesetzlichen Instrumente der Haushalts- und Finanzpolitik im Hinblick auf neue wissenschaftliche Annahmen zu verändern, ist, wie der Senat ausdrücklich betont hat, Sache des verfassungsändernden Gesetzgebers, und die Konkretisierung der weithin unbestimmten verfassungsrechtlichen Vorgaben ist Aufgabe der einfachen Gesetzgebung gemäß Art. 115 Abs. 1 Satz 3 GG.
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bb) In Übereinstimmung mit den Aussagen zum allgemeinen Regelungsgehalt des Art. 115 Abs. 1 Satz 2 GG hat der Senat im Jahr 1989 auch bei der Konkretisierung der zentralen Tatbestandsmerkmale (Ausgaben für Investitionen, Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts) weitgehende richterliche Zurückhaltung geübt.
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(1) Der Investitionsbegriff kann danach "nicht weiter verstanden werden als in der bisherigen Staatspraxis" (a.a.O., S. 337). Ob dieser Begriff dagegen enger als in der Staatspraxis zu fassen sei, ließ der Senat ausdrücklich offen, da die seinerzeit gegebene Überschreitung der Regelgrenze dann nur höher ausgefallen wäre und die Frage daher nicht entscheidungserheblich war.
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(2) Zu dem entscheidungserheblichen Ausnahmetatbestand des 2. Halbsatzes des Art. 115 Abs. 1 Satz 2 GG hat sich der Senat grundsätzlich für einen weiten Begriff des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts ausgesprochen. Auf die konkreteren Teilziele des § 1 Satz 2 StWG (Stabilität des Preisniveaus, hoher Beschäftigungsstand, außenwirtschaftliches Gleichgewicht bei stetigem und angemessenem Wirtschaftswachstum) kann danach zur Konkretisierung des verfassungsrechtlichen Begriffs zwar zurückgegriffen werden. Der verfassungsändernde Gesetzgeber hat diese Teilziele jedoch ausweislich der Entstehungsgeschichte bewusst nicht verfassungsrechtlich festschreiben wollen. Demnach stellt "der Begriff des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts einen unbestimmten Verfassungsbegriff dar, der einen in die Zeit hinein offenen Vorbehalt für die Aufnahme neuer, gesicherter Erkenntnisse der Wirtschaftswissenschaften als zuständiger Fachdisziplin enthält" (a.a.O., S. 338).
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Die konkreten Anwendungsvoraussetzungen des 2. Halbsatzes des Art. 115 Abs. 1 Satz 2 GG sind nach dieser Entscheidung einerseits streng zu fassen, führen aber andererseits zu einer verfassungsgerichtlich nur begrenzt kontrollierbaren Abwägung. Nur wenn das gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht ernsthaft und nachhaltig gestört ist oder eine solche Störung unmittelbar droht, darf von der Ausnahmevorschrift Gebrauch gemacht werden. Zudem muss die erhöhte Kreditaufnahme nach Umfang und Verwendung geeignet sein, die Störung abzuwenden, und sie muss auch final auf die Störungsabwehr bezogen sein. Dagegen steht dem Haushaltsgesetzgeber bei der Beurteilung, ob eine Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts vorliegt oder unmittelbar droht, und bei der Einschätzung, ob eine erhöhte Kreditaufnahme zu ihrer Abwehr geeignet ist, ein Einschätzungs- und Beurteilungsspielraum zu. Diesem Einschätzungs- und Beurteilungsspielraum korrespondiert eine Darlegungslast im Gesetzgebungsverfahren. Dem Bundesverfassungsgericht obliegt im Streitfall die Prüfung, ob die im Gesetzgebungsverfahren dargelegte Beurteilung und Einschätzung des Gesetzgebers nachvollziehbar und vertretbar ist.
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b) Der Senat sieht keinen Anlass, bei der Auslegung und Anwendung des Art. 115 Abs. 1 Satz 2 GG von diesen Maßstäben grundsätzlich abzurücken. Auch heute bleiben grundlegende Revisionen des Regelungskonzepts der Art. 115 Abs. 1 Satz 2 und Art. 109 Abs. 2 GG dem verfassungsändernden Gesetzgeber vorbehalten (aa). Im Hinblick auf den in der Normallage entscheidenden Begriff der Investitionen weist der Regelungsauftrag des Art. 115 Abs. 1 Satz 3 GG die Konkretisierung des verfassungsrechtlichen Tatbestands in erster Linie dem Verantwortungsbereich des einfachen Gesetzgebers, nicht dem des Bundesverfassungsgerichts zu. Welche verfassungsrechtlichen Vorgaben bei der Konkretisierung zu berücksichtigen sind, kann jedoch mangels Entscheidungserheblichkeit im vorliegenden Verfahren offen bleiben (bb). Schließlich bleibt auch zum Tatbestand einer Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts der Einschätzungs- und Beurteilungsspielraum des parlamentarischen Gesetzgebers zu respektieren (cc).
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aa) Vor dem Hintergrund der Fortentwicklung der wirtschaftswissenschaftlichen Diskussionen zur Rolle des Staates gegenüber der Wirtschaft sowie der bereits damals besorgniserregenden Praxis staatlicher Verschuldungspolitik bestand schon im Jahr 1989 Anlass, ausdrücklich darauf hinzuweisen, dass die Kompetenz für eine mögliche Revision des Regelungskonzepts der Art. 115 Abs. 1 Satz 2 und Art. 109 Abs. 2 GG beim verfassungsändernden Gesetzgeber, nicht beim Bundesverfassungsgericht liegt. An diesem Grundsatz ist festzuhalten. Freilich ist an der Revisionsbedürftigkeit der geltenden verfassungsrechtlichen Regelungen gegenwärtig kaum noch zu zweifeln: Unabhängig von der Frage, wie das Grundkonzept einer nachfrageorientierten diskretionären Fiskalpolitik nach keynesianischem Vorbild inhaltlich zu beurteilen ist (vgl. einerseits Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, Jahresgutachten 2005/06, Tz. 478 ff., S. 321 ff.; andererseits Bofinger, in: Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, Jahresgutachten 2004/05, Tz. 815 ff., S. 546 ff.; Jahresgutachten 2005/06, Tz. 322 ff., S. 209 ff.), ergibt sich dies aus der Erfahrung, dass die staatliche Verschuldungspolitik in der Bundesrepublik in den seit der Finanz- und Haushaltsreform 1967/69 vergangenen nahezu vier Jahrzehnten nicht antizyklisch agiert, sondern praktisch durchgehend einseitig zur Vermehrung der Schulden beigetragen hat (vgl. die Darstellung des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, Staatsverschuldung wirksam begrenzen, Expertise im Auftrag des Bundesministers für Wirtschaft und Technologie, 2007, Tz. 16 ff., S. 9 ff.). Die dynamisch angewachsene Verschuldung in Bund und Ländern (vgl. dazu auch BVerfGE 116, 327 ff.) hat gegenwärtig bereits einen verbreitet als bedrohlich bewerteten Stand erreicht (vgl. für die Gegenansicht Bofinger, in: Staatsverschuldung wirksam begrenzen, a.a.O., Tz. 256 ff., S. 157 ff.). Das Regelungskonzept des Art. 115 Abs. 1 Satz 2 GG hat sich als verfassungsrechtliches Instrument rationaler Steuerung und Begrenzung staatlicher Schuldenpolitik in der Realität nicht als wirksam erwiesen.
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Eine übermäßige Staatsverschuldung und die damit verbundene wachsende Zinslast hemmen das langfristige Wachstum der Wirtschaft, verengen die aktuellen Handlungsspielräume des Staates und verlagern Finanzierungslasten in die Zukunft auf künftige Generationen. Vieles spricht deshalb dafür, die gegenwärtige Fassung des Art. 115 GG in ihrer Funktion als Konkretisierung der allgemeinen Verfassungsprinzipien des demokratischen Rechtsstaats für den speziellen Bereich der Kreditfinanzierung staatlicher Ausgaben (vgl. BVerfGE 79, 311 [343]) nicht mehr als angemessen zu werten und verbesserte Grundlagen für wirksame Instrumente zum Schutz gegen eine Erosion gegenwärtiger und künftiger Leistungsfähigkeit des demokratischen Rechts- und Sozialstaats zu schaffen.
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Die auf den ersten Blick naheliegende Schlussfolgerung, dass hier die Dichte der -- in der Vergangenheit offenbar nicht hinreichend wirksamen -- verfassungsgerichtlichen Kontrolle erhöht werden müsse, führt in die Irre. Verfassungsgerichtliche Beurteilungen des Vorliegens einer Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts und der angemessenen haushaltspolitischen Reaktionen darauf an die Stelle derjenigen des Gesetzgebers zu setzen, erhöht nicht die Chance auf sachgerechte, den Zielen der Finanzverfassung bestmöglich entsprechende Entscheidungen. Notwendig ist vielmehr die Entwicklung von Mechanismen, die für gegebene Verschuldungsspielräume den erforderlichen Ausgleich über mehrere Haushaltsjahre sicherstellen. Die Auswahl und Institutionalisierung von Regeln, die dies leisten und dabei in geeigneter Weise dem Anreiz zur Verschiebung von Ausgleichslasten auf nachfolgende Legislaturen entgegenwirken, ist eine komplexe Aufgabe, für deren Lösung das geltende Verfassungsrecht keine ausreichend konkreten Direktiven liefert. Sie ist dem verfassungsändernden Gesetzgeber vorbehalten und aufgegeben.
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bb) Im Hinblick auf die für den Regelfall maßgebliche Grenze der Kreditaufnahme, die "Summe der im Haushaltsplan veranschlagten Ausgaben für Investitionen", hat sich die Rechtslage gegenüber der früheren Leitentscheidung insoweit geändert, als der Gesetzgeber den Regelungsauftrag des Art. 115 Abs. 1 Satz 3 GG mit § 13 Abs. 3 Nr. 2 BHO formell erfüllt hat. Diese Vorschrift bietet einen Katalog der Ausgabenarten, die im Haushaltsplan unter "Ausgaben für Investitionen" zu veranschlagen sind, enthält also nach Inhalt und Zweck eine einfachgesetzliche Definition des verfassungsrechtlichen Investitionsbegriffs. Als nur formelle Erfüllung des verfassungsrechtlichen Regelungsauftrags muss diese Bestimmung jedoch insofern gewertet werden, als sie die schlichte Rezeption der wesentlichen Inhalte dessen ist, was zuvor lediglich in Verwaltungsvorschriften, nämlich im Gruppierungsplan (vgl. § 13 Abs. 2 Satz 3 BHO) bestimmt war.
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Gegen die Vereinbarkeit dieses die Haushaltspraxis beherrschenden Investitionsbegriffs mit dem verfassungsrechtlichen Tatbestand des Art. 115 Abs. 1 Satz 2 GG werden in der Literatur seit langem schwerwiegende Bedenken geltend gemacht (vgl. mit zahlreichen Nachweisen Höfling, Staatsschuldenrecht, 1993, S. 202 ff.). Insbesondere wird eine Beschränkung des verfassungsgesetzlichen Tatbestands auf sogenannte Nettoinvestitionen im Gegensatz zu den nach einfachgesetzlicher Definition erfassten Bruttoinvestitionen gefordert (Höfling a.a.O., S. 192 ff.; aus ökonomischer Sicht Sachverständigenrat, Expertise 2007 a.a.O., Tz. 70 ff., S. 50 ff., Tz. 93 f., S. 62). "Zukunftsbegünstigend" sei nur der Teil der veranschlagten Ausgaben, der über die Haushaltsperiode hinaus einen werthaltigen Nutzen erbringe. Deshalb seien jeweils nur durch (geschätzte) Abschreibungen zu mindernde Wertansätze für die Regelgrenze zulässiger Neuverschuldung zu berücksichtigen.
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Für ein am Zweck der Regelgrenze orientiertes Verständnis ist dieser Kerngedanke der Kritik an dem die bisherige Praxis leitenden haushaltssystematischen Investitionsbegriff überzeugend. Kreditfinanzierung und Ausgaben für Investitionen sind verbunden durch ihre Zukunftswirksamkeit. In dieser Verbindung dient die Verschuldungsgrenze im Normalfall dem intertemporalen Ausgleich wie der generationsübergreifenden Verteilungsgerechtigkeit und erhält so einen plausiblen Sinn, dem der schematische Ansatz von Bruttoinvestitionen widerspricht. Ebenso leuchtet in der Sache ein, dass nach dem Zweck der Norm folgerichtig bloße Ersatzinvestitionen nicht berücksichtigt werden sollten und auch vermögensneutrale Vorgänge wie die Veräußerung staatlicher Vermögensgegenstände, etwa Forderungs- oder Unternehmensverkäufe, nicht als Einnahmen zum Ausgleich mit laufenden Ausgaben herangezogen werden dürften (vgl. nur Sachverständigenrat a.a.O., Tz. 119 ff., S. 74 ff.). Schließlich ist auch die vom Bundesrechnungshof in seiner Stellungnahme (vgl. Bundesrechnungshof, Bemerkungen 2005 zur Haushalts- und Wirtschaftsführung des Bundes, BTDrucks 16/160, S. 11, Nr. 1.4) gerügte Praxis der zeitlichen Verschiebung von Kreditermächtigungen nach der sogenannten First-in-First-out-Methode schwerlich mit dem Grundgedanken der Begrenzung der Verschuldung vereinbar.
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Wieweit derartigen Bedenken bereits nach geltendem Verfassungsrecht Rechnung getragen werden kann, ist fraglich. Der Wortlaut des Art. 115 Abs. 1 Satz 2 GG verweist, indem er die Summe der "im Haushaltsplan veranschlagten Ausgaben für Investitionen" zur Regel-Kreditobergrenze bestimmt, durchaus deutlich auf Brutto-, nicht auf Nettoausgaben, was unter anderem aus der Perspektive der Finanzverfassungs- und Haushaltsreform Ende der sechziger Jahre erklärbar sein mag: Damals glaubte man offenbar angesichts bisher bekannter und auch geplanter Relationen zwischen tatsächlich im Haushaltsplan als Ausgaben für Investitionen ausgewiesenen Beträgen und den Beträgen der jährlichen Neuverschuldung, dass die Einhaltung der Regelgrenze wegen ihrer Höhe praktisch kein Hinderungsgrund für eine jeweils politisch als angemessen bewertete Schuldenpolitik sein werde (vgl. dazu W. Dreißig, Probleme des Haushaltsausgleichs, in: H. Haller [Hrsg.], Probleme der Haushalts- und Finanzplanung, 1969, S. 9 [37 f.]; dies., Zur Neuregelung der Kreditfinanzierung im Haushaltsrecht der BRD, Finanzarchiv n. F. Bd. 29, 1970, S. 499 [502 f.]; K.-H. Hansmeyer, Der öffentliche Kredit, 2. Aufl., 1969, S. 70). Das programmatische Bekenntnis zum Grundgedanken einer angemessenen Regelgrenze für kreditfinanzierte Ausgaben wurde bei der Abkehr von der früheren Bindung der Neuverschuldung an einen außerordentlichen Bedarf und an werbende Zwecke erkennbar nicht begleitet von Überlegungen zu konkreteren Maßstäben für die Lösung in Konfliktsituationen.
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Die Frage, ob insoweit bereits nach geltendem Verfassungsrecht eine korrigierende Auslegung von Art. 115 Abs. 1 Satz 2 GG in Betracht zu ziehen ist -- etwa im Sinne einer Ergänzung wie nach dem Vorschlag des Sachverständigenrates (vgl. Expertise 2007 a.a.O., Tz. 7, Tabelle 1, S. 4: "die Summe der im Haushaltsplan veranschlagten bereinigten Ausgaben für Investitionen") -- kann der Senat mangels Entscheidungserheblichkeit offen lassen. Eine Verschärfung der bisher praktizierten Regelgrenze der Kreditaufnahme, deren präzise Konturierung im Übrigen verfassungsrechtlich kaum begründbar wäre, würde auch im vorliegenden Verfahren lediglich deren Überschreitung vergrößern (vgl. BVerfGE 79, 311 [337 f.]).
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cc) Auch zum Tatbestand der "Abwehr einer Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts" hat der Gesetzgeber das einfache Recht im Anschluss an die verfassungsgerichtliche Entscheidung von 1989 ergänzt (vgl. § 18 Abs. 1 Satz 2 BHO) und sich dabei auf die Rezeption der vom Zweiten Senat formulierten Grundsätze beschränkt. Weiterhin hat sich zwar die gemeinschaftsrechtliche Rechtslage mit den speziellen Anforderungen an das Verhältnis zwischen Defizit und Bruttoinlandsprodukt (Defizitquote) sowie zwischen Schuldenstand und Bruttoinlandsprodukt (Schuldenquote) der Mitgliedstaaten wesentlich geändert (vgl. jetzt insb. Art. 104 EGV). Dies lässt jedoch die eigenständigen und andersartigen Maßstäbe des Art. 115 GG unberührt (vgl. näher etwa Heun, in: Dreier, Grundgesetz, Band 3, 2000, Art. 115 Rn. 5; Siekmann, in: Sachs, Grundgesetz, 4. Aufl., 2007, Art. 115 Rn. 16 f.).
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Ins Gewicht fallen dagegen die tatsächliche Entwicklung und der Stand der seit 1989 insbesondere auch in der Folge der deutschen Vereinigung weiter in bemerkenswertem Umfang gewachsenen Verschuldung des Bundes. Gleichwohl ist festzuhalten an den vom Zweiten Senat entwickelten Grundsätzen zur Anerkennung der Einschätzungs- und Beurteilungsspielräume des parlamentarischen Gesetzgebers bei der Beurteilung, ob eine ernste und nachhaltige Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts vorliegt oder unmittelbar droht und ob eine erhöhte Kreditaufnahme zu ihrer Abwehr geeignet ist.
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Ob die Beurteilung und Einschätzung des Gesetzgebers nach Maßgabe der ihm obliegenden Darlegungen im Gesetzgebungsverfahren nachvollziehbar und vertretbar ist, hat das Bundesverfassungsgericht im Streitfall zu prüfen und zu entscheiden. Diese Aufgabenverteilung zwischen parlamentarischer Gesetzgebung und verfassungsgerichtlicher Kontrolle ist bei der Wahrnehmung der verfassungsrechtlichen Ermächtigung und Verpflichtung zu einer situationsgebundenen, an dynamischen gesamtwirtschaftlichen Variablen orientierten Wirtschafts- und Finanzpolitik gemäß Art. 115 Abs. 1 Satz 2 in Verbindung mit Art. 109 Abs. 2 GG von der Sache her geboten. Aus den bereits angegebenen Gründen ändert daran auch der Umstand, dass diese verfassungsrechtlichen Vorgaben sich in der Vergangenheit als nicht hinreichend steuerungskräftig erwiesen haben, nichts. Regierung und Parlament haben auf der Basis sachverständiger Beratung zur Diagnose und Prognose der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung sowie zur Wahl geeigneter Steuerungsmittel zukunftswirksame, risikobehaftete Entscheidungen zu treffen und deren Folgen politisch zu verantworten.
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Auch eine langfristig besorgniserregende Entwicklung des Schuldenstandes beeinträchtigt nicht die verfassungsrechtliche Kompetenz des Gesetzgebers zu einer situationsabhängigen diskretionären Fiskalpolitik. Da Abwägung und Prioritätensetzung stets mit Blick auf die gegebene Situation und auf die abschätzbare zukünftige Entwicklung vorzunehmen sind, können sich die Entscheidungsspielräume von Parlament und Regierung bei der Auswahl geeigneter Mittel zwar als Folge vorangegangener Fehlentscheidungen faktisch verengen; rechtlich beseitigt oder verkürzt werden sie jedoch nicht (vgl. bereits BVerfGE 79, 311 [340]). Auch die ausdrückliche verfassungsgesetzliche Kennzeichnung zulässiger Überschreitung der Regelgrenze als Ausnahme führt zu keinem abweichenden Ergebnis, denn dies kennzeichnet die Überschreitung lediglich als einen speziell (auch) im Hinblick auf Art. 109 Abs. 2 GG rechtfertigungsbedürftigen Fall der Abweichung von einer "stabilen" Normallage. Dagegen darf dem Tatbestand der Ausnahme kein quantitativer, den Gesetzgeber an vergangene Fehler rechtlich bindender Sinn derart zugeschrieben werden, dass es nicht auf die für die Zukunft geeigneten und notwendigen Maßnahmen ankommen dürfe, weil es sich schon angesichts früherer Überschreitungen nicht mehr um eine Ausnahme handeln könne.
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2. Nach diesen Maßstäben war § 2 Abs. 1 des Bundeshaushaltsgesetzes 2004 n. F. mit Art. 115 Abs. 1 Satz 2 GG noch vereinbar.
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Nach den in den Gesetzgebungsverfahren sowohl zum ursprünglichen Haushalt 2004 als auch zum Nachtragshaushalt dargelegten Gründen waren die Diagnose, dass das gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht ernsthaft und nachhaltig gestört sei, die Absicht, durch die erhöhte Kreditaufnahme diese Störung abzuwehren, und die begründete Prognose, dass und wie durch die erhöhte Kreditaufnahme dieses Ziel erreicht werden könne (vgl. BVerfGE 79, 311 [345]), nachvollziehbar und vertretbar, und zwar auch vor dem Hintergrund der Aussagen der gesetzlich verankerten Organe der finanz- und wirtschaftspolitischen Beratung und Willensbildung und der Auffassungen in Volkswirtschaftslehre und Finanzwissenschaft.
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a) Die am 15. August 2003 dem Bundestag vorgelegte Regierungsbegründung (vgl. BTDrucks 15/1500, S. 13 f.) und der Bericht des Haushaltsausschusses (vgl. BTDrucks 15/1923 vom 21. November 2003, S. 25 f.) zu § 2 Abs. 1 der ursprünglichen Fassung des Bundeshaushaltsgesetzes bilden zugleich die Basis auch für die später erhöhte Ermächtigung zur Kreditaufnahme gemäß Art. 1 Nr. 2 des Nachtragshaushaltsgesetzes 2004.
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aa) Die Ausführungen zu § 2 Abs. 1 Bundeshaushaltsgesetz a. F. stützen sich im Wesentlichen auf die folgenden Gesichtspunkte, wenn sie die Überschreitung der Summe der im Haushaltsplan veranschlagten Investitionen (um rund 6 Mrd. € im Regierungsentwurf, um rund 4,7 Mrd. € nach den -- endgültigen -- Ergebnissen der Beratung im Haushaltsausschuss) begründen: Neben den schwierigen allgemeinen volkswirtschaftlichen Ausgangsbedingungen -- konjunkturelle Stagnation der deutschen Wirtschaft seit fast drei Jahren einschließlich des ersten Halbjahres 2003, nicht überwundene Verunsicherung von Investoren und Konsumenten durch den Irakkrieg, andauernde Zurückhaltung von Konsumenten und Investoren in der Binnenwirtschaft, außenwirtschaftliche Risiken im Zusammenhang mit dem hohen Leistungsbilanz- und Haushaltsdefizit der USA sowie der anhaltenden Schwäche des Dollar -- stehen im Mittelpunkt der Begründungen die Verfehlung der Teilziele eines hohen Beschäftigungsstandes und eines angemessenen Wirtschaftswachstums.
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Die dem Parlament vorgetragenen Darlegungen zur Verfehlung des Ziels eines hohen Beschäftigungsstandes (vgl. BTDrucks 15/1500, S. 13, BTDrucks 15/1501 vom 15. August 2003, S. 5; BTDrucks 15/1923 vom 21. November 2003, S. 25) sind -- ausgehend von einer im Herbst 2003 prognostizierten durchschnittlichen Zahl der Arbeitslosen im Jahr 2003 in Höhe von 4,39 Mio. (Frühjahrsprojektion 2003: 4,46 Mio.) und im Jahr 2004 in Höhe von 4,36 Mio. (zunächst erwartet: 4,44 Mio.) -- nachvollziehbar und werden auch von keiner Seite als nicht vertretbar angegriffen.
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Fragwürdig erscheint eher, ob angesichts der eigenen Prognosen der Regierung auch von einer Verfehlung des Ziels eines angemessenen Wirtschaftswachstums ausgegangen werden konnte. Nach der Frühjahrsprojektion 2003 der Bundesregierung war für das Jahr 2004 noch ein realer Anstieg des Bruttoinlandsprodukts von 2% erwartet worden (vgl. Monatsbericht 05.2003 des Bundesministeriums der Finanzen, S. 22). Diese Zahl ist auch in den Finanzplan des Bundes 2003 bis 2007 übernommen worden, der dem Parlament zeitgleich mit dem Entwurf des Bundeshaushalts 2004 vorgelegt wurde (BTDrucks 15/1501 vom 15. August 2003, S. 5). In der Begründung zum Entwurf des Haushaltsplans heißt es dagegen, diese Wachstumsrate sei gefährdet. Die Wachstumserwartungen anderer nationaler und internationaler Institutionen jüngeren Datums seien inzwischen signifikant zurückgenommen worden und lägen unterhalb der im Frühjahr prognostizierten Werte. Ob in dieser Situation -- entgegen der Ansicht des Sachverständigenrates (vgl. Jahresgutachten 2003/04, Tz. 399, S. 251: von einer Rezession könne bei einer Wachstumsrate von 1,5% oder 1,7% nicht die Rede sein; vgl. auch Jahresgutachten 2004/05, Tz. 744, S. 521; Jahresgutachten 2005/06, Tz. 481, S. 324) -- bereits eine Verfehlung eines Teilziels im Sinne des Art. 115 Abs. 1 Satz 2, 2. Halbsatz GG angenommen werden konnte, kann dahinstehen. Jedenfalls die Feststellung, "dass auch im Jahr 2004 kein Wachstum erreicht wird, das ausreicht, Beschäftigung aufzubauen" (BTDrucks 15/1500, S. 13), traf unbestritten zu. Nach dieser Feststellung in Verbindung mit den begründeten Prognosen zur hohen Zahl der Arbeitslosen war es vertretbar, eine ernste Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts (auch) im Jahr 2004 zu erwarten.
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bb) Die insoweit skeptische Haltung des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung steht zu dieser Feststellung nicht in Widerspruch, sondern bestätigt letztlich die Vertretbarkeit der Einschätzung des Haushaltsgesetzgebers.
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(1) Allerdings vertritt die Mehrheit dieses Gremiums ein Konzept, dass nicht erst zur Frage der Eignung von Abwehrmaßnahmen, sondern bereits zum Tatbestand einer Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts ein enges, nur konjunkturbedingte Störungen erfassendes Verständnis zugrunde zu legen sei (vgl. explizit Jahresgutachten 2005/06, Tz. 478, S. 321 f., Tz. 482, S. 325 f., dort auch zum Folgenden; weniger deutlich in den vorangegangenen Jahresgutachten 2003/04, Tz. 399, S. 251 und 2004/05, Tz. 745, S. 521). Danach ist zur Feststellung einer Störung von der Gesamtheit der Arbeitslosigkeit lediglich ein konjunkturell bedingter Anteil zu berücksichtigen, der sich -- vereinfacht formuliert -- aus der Unterscheidung zwischen langfristiger, strukturell bedingter Arbeitslosigkeit und kurzfristigen Schwankungen ergibt (kritisch dazu Bofinger, in: Jahresgutachten 2005/06, Tz. 336, Kasten 9, S. 219 ff.). Dieser Ansatz lässt bereits Elemente der Eignung nachfragepolitischer Instrumente in den Begriff des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts einfließen und präjudiziert damit zugleich die Frage der grundsätzlichen Eignung staatlicher kreditfinanzierter Ausgaben als Instrument zur Abwehr einer Störung. Ob diesem Konzept der Zusammenschau von Störungstatbestand und Eignung des Instrumenteneinsatzes angesichts des engen Sinnzusammenhangs des Art. 115 Abs. 1 Satz 2 GG mit der allgemeineren Bestimmung des Art. 109 Abs. 2 GG zu folgen ist, ist nicht frei von Zweifeln, kann aber als nicht ergebnisbestimmend dahinstehen. Sowohl die Annahme einer drohenden Störung als auch die Entscheidung für eine erhöhte Kreditaufnahme zu ihrer Abwehr bewegen sich in der Perspektive auch dieses Konzepts noch im Rahmen des Einschätzungs- und Beurteilungsspielraums des Gesetzgebers:
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(2) In seinen Stellungnahmen in den Jahren 2003 bis 2005 zum Bundeshaushalt 2004 hat der Sachverständigenrat allerdings von Beginn an Skepsis und Zweifel angemeldet und diese mit fortschreitendem Zeitablauf mehrheitlich wiederholt. Zum maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung im Bundestag gaben die Stellungnahmen jedoch keinen Anlass, die Vertretbarkeit der abweichenden Einschätzung des Haushaltsgesetzgebers ernsthaft in Frage zu stellen. In dem am 7. November 2003, noch kurz vor der Annahme des Haushaltsgesetzes im Deutschen Bundestag am 28. November 2003, veröffentlichten Jahresgutachten 2003/04 (vgl. Tz. 397 ff., S. 251) wird eingeräumt, dass, wenn ein konjunktureller Impuls über eine Nachfragestimulierung erreicht werden solle, es in der Tat angebracht sei, die mit dem Vorziehen der Steuerreform gegenüber der ursprünglichen Finanzplanung einhergehenden Steuerausfälle über eine höhere staatliche Neuverschuldung auszugleichen. Der konjunkturelle Impuls der Steuersenkung werde jedoch gering sein. Der leicht konjunkturstimulierende Effekt sei gegen "mögliche langfristige negative Effekte abzuwägen". Da sich "die Fehlentwicklungen in Deutschland in erster Linie aus einer zu hohen strukturellen Arbeitslosigkeit sowie aus einem zu geringen Potentialwachstum" ergäben, stehe angesichts einer für das Jahr 2004 zu erwartenden Veränderungsrate des Bruttosozialprodukts von 1,5% oder 1,7% der Bezug auf die Ausnahmeklausel des Art. 115 GG "auf sehr wackligen Füßen". Ergänzend legt der Sachverständigenrat sodann (Tz. 401 ff., S. 252 f.) ausführlich die Gründe dafür dar, weshalb auf eine diskretionäre antizyklische Fiskalpolitik wegen ihrer typischerweise negativ einzuschätzenden langfristigen Effekte grundsätzlich verzichtet werden sollte.
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(3) Gerade auch nach dieser Kennzeichnung der zentralen Entscheidung für ein weitgehend kreditfinanziertes Vorziehen der dritten Stufe der Steuerreform als eine Frage der Abwägung sowie der offen dargelegten grundsätzlichen Skepsis des Sachverständigenrates gegenüber diskretionärer Nachfragepolitik ist die Abwägung des Haushaltsgesetzgebers trotz ihres abweichenden Ergebnisses als vertretbar zu akzeptieren. Der Gesetzgeber durfte in Wahrnehmung seiner Verantwortung für die Stabilität von Staat, Wirtschaft und Gesellschaft mit Blick auf die hohe Arbeitslosenzahl bei seiner Abwägung die Vor- und Nachteile kurz- und langfristiger Folgen einer aktiven Nachfragestimulierung insbesondere durch (zunächst) kreditfinanzierte Steuersenkungen anders gewichten als der vor allem an Kriterien der ökonomischen Theorie orientierte Sachverständigenrat.
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(4) Zeitlich nachfolgende Äußerungen des Sachverständigenrates sind als Indizien für oder gegen die Vertretbarkeit der Entscheidung des Haushaltsgesetzgebers zum ursprünglichen Haushaltsgesetz 2004 insoweit nicht mehr von unmittelbarer Bedeutung, als solche späteren Äußerungen dem Haushaltsgesetzgeber naturgemäß Orientierungshilfe, die dieser ohne vertretbare Gründe unbeachtet gelassen hätte, nicht mehr liefern konnten. Als -- nachträgliche -- sachverständige Äußerungen zur Eignung der kreditfinanzierten Ausgaben in der zeitlichen Perspektive des Haushaltsgesetzgebers behalten die Stellungnahmen freilich Gewicht; auch insoweit sind sie jedoch nicht eindeutig.
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Im Jahresgutachten 2004/05 äußert die Mehrheit (schon mit Blick auch auf den Nachtragshaushalt 2004) zunächst "Zweifel" an der Vereinbarkeit der Neuverschuldung mit Art. 115 GG (Tz. 737, S. 518), bewertet eine drastische Zurückführung der Nettokreditaufnahme als Gefahr für die Erholung der inländischen Nachfrage und damit für die wirtschaftliche Erholung (Tz. 738, S. 518), verneint aber schließlich die Eignung einer die Ausgaben für Investitionen übersteigenden Nettokreditaufnahme für das Jahr 2004, da der überwiegende Teil der Unterbeschäftigung nicht konjunkturell bedingt und weil das Jahr 2004 nicht durch eine Rezession gekennzeichnet gewesen sei (Tz. 747, S. 522). Die Gegenansicht vertritt das Mitglied des Sachverständigenrates Bofinger (Tz. 819, S. 548).
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Im Jahresgutachten 2005/06, in dem der Sachverständige Bofinger die angebotsorientierte Grundposition der Mehrheit scharf kritisiert (Tz. 322 ff., S. 209 ff., insb. Tz. 336 mit Kasten 9, S. 220 f.), nimmt der Sachverständigenrat vor dem Hintergrund des anhängigen Normenkontrollverfahrens erneut ausführlicher Stellung zum Bundeshaushalt 2004 (Tz. 475 ff., S. 320 ff.). Nach Ansicht der Mehrheit war nach der Informationslage im Herbst 2003 eine bevorstehende Verletzung des Teilziels eines hohen Beschäftigungsstandes nicht evident, aber auch nicht auszuschließen (Tz. 484, S. 327), eine im Jahr 2004 drohende Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts sei "zu bezweifeln". Es habe "wenig überzeugende Gründe für ein Überschreiten der Investitionsausgaben durch Nettokreditaufnahme" gegeben (Tz. 487, S. 328). Ein klares Verdikt auch nur der Mehrheit des Sachverständigenrates zur Neuverschuldung, wie es später zum Bundeshaushalt 2006 ausgesprochen wurde (Jahresgutachten 2006/07, Tz. 402, S. 307 f.), fehlt für den Bundeshaushalt 2004. Damit ist zugleich seine Eignung zur Störungsabwehr im verfassungsrechtlichen Sinn nicht durchgreifend in Frage gestellt worden (zu den geringeren Anforderungen bei komplexen wirtschaftspolitischen Entscheidungen stRspr, vgl. z. B. BVerfGE 103, 293 [307]).
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b) Die Begründungen zum Nachtragshaushalt 2004 (vgl. Gesetzentwurf der Bundesregierung, BTDrucks 15/4020, S. 4 f.; Bericht des Haushaltsausschusses, BTDrucks 15/4139, S. 1 f.) schließen unmittelbar an die Begründungen zum Haushaltsgesetz 2004 a. F. an und bestätigen diese. Trotz leichter Konjunkturerholung infolge dynamischer Auslandsnachfrage hätten sich die Inlandsnachfrage, die Investitionstätigkeit und der Arbeitsmarkt sogar schlechter als erwartet entwickelt. In der gegenwärtigen Situation dürfe die öffentliche Hand nicht durch zusätzliche Sparmaßnahmen dazu beitragen, die Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts noch zu verstärken. Die Erhöhung der Ermächtigung zur Kreditaufnahme auf 43,7 Mrd. € im Regierungsentwurf bzw. auf endgültig 43,5 Mrd. € nach der Beschlussempfehlung des Haushaltsausschusses (BTDrucks 15/4138) war somit die notwendige Folge der Aufrechterhaltung des ursprünglichen nachfragepolitischen Konzepts trotz erheblicher Ausfälle der ursprünglich veranschlagten Einnahmen (insbesondere Bundesbankgewinn, im Bundesrat gescheiterte Streichung wesentlicher Steuervergünstigungen sowie sonstige Steuermindereinnahmen) sowie Erhöhung von Ausgaben (insbesondere auf dem Arbeitsmarkt) und teilt deshalb dessen Qualität als eine nachvollziehbare und vertretbare Entscheidung des Haushaltsgesetzgebers.
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Dem kann nicht entgegengehalten werden, die erst am Ende des Haushaltsjahres (rückwirkend) erweiterten Ermächtigungen zur Kreditaufnahme hätten nicht der Abwehr einer Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts dienen können, sondern -- nach dem Ausnutzen der vorjährigen Ermächtigungen im laufenden Haushaltsjahr -- lediglich dem "Ansparen" von Kreditermächtigungen für die Zukunft. Trotz der fundierten Kritik des Bundesrechnungshofs an der langjährigen Haushaltspraxis der sogenannten First-in-First-out-Methode, nach der jeweils zuerst von den ältesten Kreditermächtigungen, also denen des Vorjahres, Gebrauch gemacht wird, muss deutlich zwischen der Aufstellung und dem Vollzug des Haushalts unterschieden werden. Die Aufstellung des Nachtragshaushalts ist an das Gebot des Haushaltsausgleichs gebunden und dient der notwendigen parlamentarischen Kontrolle und Legitimation aller Einnahmen und Ausgaben eines Haushaltsjahres. Der legitime Zweck der zweijährigen Wirksamkeit einmal erteilter Ermächtigungen zur Kreditaufnahme gemäß § 18 Abs. 3 BHO ergibt sich primär aus der möglichen Gefahr für die Handlungsfähigkeit einer Regierung im laufenden Haushaltsjahr infolge unvorhergesehener Finanzierungsbedarfe noch vor der möglichen Verabschiedung eines Nachtragshaushalts. Diesem Zweck entspräche es, jeweils zuerst die für das laufende Haushaltsjahr erteilten Kreditermächtigungen auszuschöpfen und erst im unvorhergesehenen Bedarfsfall von den vorjährigen Ermächtigungen Gebrauch zu machen.
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Mit der entgegengesetzten herkömmlichen Praxis des Haushaltsvollzugs wird sich der Gesetzgeber im Zusammenhang der Überlegungen zu wirksamen Instrumenten der Steuerung und Begrenzung staatlicher Verschuldungspolitik zu befassen haben. Jedenfalls berechtigt oder verpflichtet eine etwa rechtswidrige Vollzugspraxis nicht zum Verzicht auf einen ausgeglichenen (Nachtrags-)Haushalt. Nur ergänzend ist zu berücksichtigen, dass auch die Erkenntnis möglicher Fehlerhaftigkeit einer über Jahrzehnte von den Regierungen im Zusammenwirken mit dem Parlament geübten Praxis des Haushaltsvollzugs nicht ohne Weiteres zur Feststellung der Verfassungswidrigkeit eines bestimmten Haushaltsgesetzes führen könnte (vgl. BVerfGE 91, 148 [175]; 113, 348 [367]).
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(gez.) Hassemer Broß Osterloh Di Fabio Mellinghoff Lübbe-Wolff Gerhardt Landau |
Abweichende Meinung der Richter Di Fabio und Mellinghoff zum Urteil des Zweiten Senats vom 9. Juli 2007 -- 2 BvF 1/04 -- |
I. |
Der Senat legt die einschlägige Vorschrift des Grundgesetzes zur Schuldenbegrenzung des Bundes so aus, dass sie keine Wirkung zu entfalten vermag. Dies entspricht weder dem Wortlaut und dem Zweck der Norm noch der Systematik des Grundgesetzes.
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Der Senat schließt sich einer gängigen Meinung an, Art. 115 GG sei in der Fassung der Haushaltsreform von 1969 eine gesetzgeberische Fehlleistung, weil die Norm die Verschuldung des Bundes schon mit dem ungeeigneten Investitionsbegriff zu begrenzen versuche und zudem einer überholten, der keynesianischen, Wirtschaftstheorie verhaftet sei, die ohnehin für den Bund auch ihre praktischen Voraussetzungen verloren habe. Eine solch pointierte Normkritik ist der Verfassungsrechtsprechung zwar nicht verwehrt, sie entbindet aber nicht von dem richterlichen Auftrag, den Sinn und Zweck einer Vorschrift des Grundgesetzes durch Anwendung auf den Fall zu ermitteln und zu konkretisieren, vorgebliche Unzulänglichkeiten der Norm nicht zu beklagen, sondern in den Grenzen methodischer Auslegung zu überwinden. Eine unkontrollierte Talfahrt öffentlicher Finanz- und Haushaltswirtschaft kann nicht so sehr durch rechtspolitische Forderungen nach besseren Bremsen verlangsamt werden, sondern zuallererst durch die Betätigung der bereits vorhandenen Bremsen.
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Der Senat nimmt die richterliche Kontrolldichte im Hinblick auf die Frage, ob im Jahr 2004 eine Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts vorlag oder nicht, noch weiter zurück, als dies der Senat mit seiner Entscheidung vom 18. April 1989 vorgegeben hat. Diese dem Gesetzgeber eine ungewöhnlich weite Freiheit lassende Vertretbarkeitskontrolle scheint notwendig, weil andernfalls künftig in vergleichbaren Fällen ein Sparen zur konjunkturellen Unzeit erzwungen würde. Dabei wird der wirkliche Grund für das haushaltspolitische Dilemma des Jahres 2004 verfassungsrechtlich ignoriert: Es ist der exorbitante Schuldensockel des Bundes, der wie ein Klotz am Bein der Konjunktur und der politischen Handlungsmöglichkeiten hängt, und der nur dadurch zustande gekommen ist, dass Art. 115 GG in seinem Sinn und Zweck über Jahrzehnte missachtet worden ist.
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Darüber hinaus werden wichtige Auslegungsansätze der Senatsentscheidung vom 18. April 1989 (BVerfGE 79, 311) verdrängt. Die notorische Missachtung des mit dieser Entscheidung klar und deutlich erteilten Gesetzgebungsauftrags wird nicht etwa sanktioniert, sondern im Ergebnis entschuldigt und durch einen weit weniger konkreten Appell zur Verfassungsänderung ersetzt. In einer Lage, in der der Schuldensockel des Bundes inzwischen weit über 900 Mrd. € erreicht hat und der Schuldendienst mit rund 40 Mrd. € pro Jahr den Bundeshaushalt als zweitgrößter einzelner Ausgabeposten belastet, zieht sich die Verfassungsrechtsprechung von ihrer Aufgabe zurück, einer zentralen finanzverfassungsrechtlichen Norm Geltung zu verschaffen, einer Vorschrift, die unentbehrlich ist, um eine solide Haushaltswirtschaft des Bundes zu gewährleisten. Dies ist umso schwerer einsichtig, als der Bund inzwischen bei guter konjunktureller Lage durch Verbreiterung der Bemessungsgrundlage für die Einkommensteuer und die Erhöhung der Verbrauchsteuern sein Finanzaufkommen erheblich steigert, ohne dass bislang die aufgelaufenen Bundesschulden getilgt werden.
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Dem Bundesgesetzgeber hätte von Verfassungs wegen stattdessen gemäß § 35 BVerfGG aufgegeben werden müssen, unter Einhaltung einer vom Senat gesetzten Frist nunmehr endlich den Investitionsbegriff nach allgemeinen Vorgaben zu konkretisieren und ein Konzept zum Abbau des Schuldensockels und zur Vorsorge für absehbare Tragfähigkeitslücken im Bundeshaushalt vorzulegen. Der Senat hat es weiter versäumt, die Pflicht des Haushaltsgesetzgebers zu konkretisieren, in konjunkturell günstigen Phasen den Schuldensockel zu verringern und -- jedenfalls für die Zukunft -- seine Rückkehr zu einer dem Zweck einer Begrenzungs- und Ausnahmevorschrift entsprechenden Kontrolldichte anzukündigen.
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II. |
1. Es ist unzutreffend, die 1967 erfolgte Einfügung des Art. 109 Abs. 2 in das Grundgesetz und die Neufassung des Art. 115 GG durch die Finanzreform 1969 als eine Aufweichung der bis dahin bestehenden Kreditfinanzierungsgrenzen des Grundgesetzes zu verstehen. Mit der Einführung von Art. 109 Abs. 2 GG sollte eine grundsätzlich auf Solidität und Nachhaltigkeit verpflichtete staatliche Haushalts- und Finanzwirtschaft auch auf eine antizyklische Steuerung des Konjunkturverlaufs ausgerichtet werden (vgl. BVerfGE 79, 311 [331 f.]; Siekmann, in: Sachs [Hrsg.], Grundgesetz Kommentar, 3. Aufl. 2003, Art. 109 Rn. 12). Diesem Ziel dienend, wurde das Kreditbegrenzungsgebot des Art. 115 GG sodann angepasst. Von entscheidender Bedeutung war es dabei, die Haushalts- und Finanzwirtschaft des Bundes aus dem engen Korsett der Annuität und der Objektorientierung herauszuführen und es zu ermöglichen, über mehrjährige Zeiträume hinweg unter Beachtung der konjunkturellen Entwicklung mittelfristig angelegte Wirtschafts- und Fiskalpolitik zu betreiben (vgl. BVerfGE 79, 311 [331]).
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a) Dabei sollte nicht eine Schuldenbremse gelockert oder eine unsolide, nicht länger nachhaltige Haushaltswirtschaft verfassungsrechtlich erlaubt werden, sondern eine Vorgabe für Inhalt und Richtung der Budgetentscheidungen des Bundes vorgegeben werden, die auch die Wirkungen der finanzpolitischen Entscheidungen des Staates auf die Volkswirtschaft in Rechnung stellt, und zwar ohne deshalb auf eine solide Haushaltswirtschaft zu verzichten. Kreditaufnahme und Kreditrückführung sollten stärker situationsbezogen sein, die Auswirkungen haushaltspolitischer Entscheidungen auf das gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht (Art. 109 Abs. 2 GG) in Rechnung gestellt werden.
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Während wirtschaftlicher Normallagen ist danach die Kreditaufnahme des Bundes nach finanzwirtschaftlichen Erwägungen bis höchstens der Summe der Ausgaben für Investitionen begrenzt (Regelgrenze). Diese bedeutsame Regelgrenze wird noch ohne den Blick auf das gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht gezogen, denn dieses ist bei aller politischen Bedeutung der Auswirkungen zunächst nur ein Sekundärzweck im Bestreben der Verfassung, eine solide Haushaltswirtschaft zu gewährleisten, die grundsätzlich die Ausgaben aus den laufenden regulären Einnahmen deckt. Es ist zumindest irreführend, wenn die Vorschrift des Art. 110 Abs. 1 Satz 2 GG, wonach der Haushaltsplan in Einnahme und Ausgabe auszugleichen ist, so interpretiert wird, als sei dies rein formal buchungstechnisch und keineswegs als materielles Leitbild des finanz- und haushaltswirtschaftlichen Abschnitts des Grundgesetzes zu verstehen. Richtig ist, dass Art. 110 Abs. 1 Satz 2 GG nicht isoliert so verstanden werden darf, als schreibe er strikt vor, dass Ausgaben nur aus regulären, nichtkreditfinanzierten Einnahmen gedeckt werden müssten; denn sonst wäre Art. 115 GG nicht verständlich. Sieht man aber beide Vorschriften im systematischen Zusammenhang, so wird deutlich, dass das Grundgesetz vom herrschenden Leitbild eines auch materiell ausgeglichenen, das heißt von einem soliden Bundeshaushalt ausgeht und nur stufenweise und kontrolliert Ausnahmen davon zulässt. Der durch Haushaltsgesetz festgestellte Haushaltsplan wird als Gesamtprogramm für die staatliche Wirtschaftsführung während der Etatperiode bezeichnet (vgl. BVerfGE 79, 311 [329]).
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Bund und Länder sind zwar keine Wirtschaftsunternehmen, aber sie stehen als politische Gemeinschaften nicht außerhalb wirtschaftlicher Rationalitätserwägungen. Der Staat ist zwar aus Rechtsgründen von der übrigen Gesellschaft gesondert, nicht zuletzt um der Freiheit der Bürger willen, aber der demokratische Staat steht zugleich in der Gesellschaft, kann sich deshalb auch den wirtschaftlichen Gesetzmäßigkeiten nicht entziehen. Die deutsche Verfassungstradition geht bereits seit der Paulskirchenverfassung von 1849 davon aus, dass der staatliche Haushalt solide in seinem Gleichgewicht von regulären Einnahmen und Ausgaben sein muss und nur in außerordentlichen Fällen aus Krediten finanziert werden darf (§ 51 Paulskirchenverfassung; Art. 73 Reichsverfassung 1871; Art. 87 Weimarer Reichsverfassung 1919). Es lässt sich weder für die Ursprungsfassung des Art. 115 GG von 1949 noch für die der geltenden Fassung zugrunde liegende Änderung von 1969 feststellen, dass mit dem Grundsatz eines soliden, materiell ausgeglichenen Haushalts gebrochen werden sollte. Wenn dieser Grundsatz aber verfassungskräftig gilt, müssen die vom Grundgesetz zugelassenen Ausnahmen davon so ausgelegt werden, dass der Grundsatz solider Haushaltswirtschaft nicht verletzt oder gar seinerseits zur Ausnahme oder zu einem nicht mehr erreichbaren politischen Fernziel wird.
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b) Die erste durch Art. 115 Abs. 1 Satz 2, 1. Halbsatz GG vorgesehene "Ausnahme" vom Grundsatz eines in seinen Ausgaben durch reguläre, nichtkreditfinanzierte Einnahmen ausgeglichenen Haushalts folgt in seinem Regelungszweck der wirtschaftlichen Einsicht, dass nicht jeder Kredit für eine solide und nachhaltige Haushaltswirtschaft schädlich ist. Im Grunde ist die Kreditfinanzierung von entsprechenden Investitionen keine Ausnahme, sondern ein besonderer Fall der Einhaltung des Verfassungsgebots, nur einen soliden, ausgeglichenen Haushalt zu verabschieden. Damit diese Erwartung nicht unterlaufen wird, ist allerdings ein enger Investitionsbegriff vom Sinn und Zweck der Vorschrift verlangt. Wenn mit Krediten die Ertragskraft zumindest mittel- oder langfristig gesteigert werden kann, handelt es sich um eine nach wirtschaftlichen Maßstäben vernünftige, Handlungsmöglichkeiten erweiternde Kreditaufnahme. Wenn dagegen der Kredit für den nichtinvestiven Konsum ausgegeben wird, tritt der gegenteilige Effekt ein: auf mittlere und längere Sicht schrumpfen die Handlungsmöglichkeiten. Mit der Bindung der Kreditobergrenze an die Investitionen wird eine sinnvolle Begrenzung vorgenommen, wenn der Investitionsbegriff nicht seiner wirtschaftlichen Rationalität entkleidet und als politischer Investitionsbegriff uminterpretiert wird.
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Politisch gesehen erscheint alles als eine Investition, was der Stabilität und Ordnung des politischen Systems dient, das Gehalt von Polizeibeamten oder Lehrern zählt dazu ebenso wie die Flankierung des Arbeitsmarktes, im Grunde jede politisch sinnvoll erscheinende Ausgabe. Es liegt auf der Hand, dass ein solch uferloser Investitionsbegriff von einer Begrenzungsnorm wie Art. 115 GG nicht gemeint sein kann. Weil die Investitionsgrenze des Art. 115 Abs. 1 Satz 2, 1. Halbsatz GG noch eine gleichsam staatsinterne Wirtschaftlichkeitsbetrachtung ohne maßgeblichen Blick auf das gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht verlangt, wäre es allerdings auch zu weit gefasst, wenn man den Investitionsbegriff auf den Gesamtzusammenhang der deutschen Volkswirtschaft bezöge. Vielmehr liegt es nahe, als Investitionen wertsteigernde Maßnahmen im Vermögen des Bundes zu verstehen (z. B. Erwerb von Grundstücken, Baumaßnahmen mit werterhaltender oder wertsteigernder Wirkung, Unternehmensbeteiligungen, Kapitalanlagen) und demgemäß auch den Wertverzehr (Abschreibungen) und die Vermögensveräußerungen im Haushalt entsprechend als negative Investitionen zu berücksichtigen.
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Das Bundesverfassungsgericht ist an dieser Stelle schon in der Entscheidung vom 18. April 1989 eine verbindliche Auslegung schuldig geblieben, weil es im Vertrauen auf den gegenseitigen Respekt unter Verfassungsorganen und im Hinblick auf den hohen Stellenwert des Budgetrechts des Parlaments dem Bundesgesetzgeber überlassen hat, den Investitionsbegriff selbst zu konkretisieren, aber so, dass der verfassungsrechtliche Zweck der Schuldenbegrenzung unter dem Grundsatz einer soliden Haushaltswirtschaft auch tatsächlich erreicht wird (vgl. BVerfGE 79, 311 [352 ff.]). Dieses Vertrauen wurde allerdings enttäuscht, weil der Bundesgesetzgeber nur den bis dahin geltenden Investitionsbegriff nach dem Gruppierungsplan in § 10 Abs. 3 Nr. 2 Satz 2 HGrG und § 13 Abs. 3 Nr. 2 Satz 2 BHO für die Haushalte des Bundes und der Länder festgeschrieben und damit lediglich pro forma den vom Gericht als "dringlich" bezeichneten Konkretisierungsauftrag erfüllt, und ergo ihn maßstäblich missachtet hat (vgl. Wendt, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Bonner Grundgesetz, 4. Aufl. 2001, Art. 115 Rn. 39). Es ist demnach überfällig, dass das Bundesverfassungsgericht nunmehr selbst den Investitionsbegriff auslegt, weil ansonsten Art. 115 GG schon an dieser Stelle um seinen Begrenzungssinn gebracht wird -- und zwar nicht durch eine Fehlleistung des Verfassungstextes von 1969, sondern durch die verweigerte Konkretisierungsleistung des Gesetzgebers.
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c) Die eigentliche Ausnahme vom Gebot eines ausgeglichenen Haushalts ohne Kreditfinanzierung sieht der 2. Halbsatz von Art. 115 Abs. 1 Satz 2 GG vor. Nach dem Wortlaut sowie ihrem Sinn und Zweck lässt diese Regelung keinen Zweifel daran, dass sie nur für eng begrenzte Ausnahmesituationen gilt. Ausnahmeweise können danach die Einnahmen aus Krediten die Summe der im Haushaltsplan veranschlagten Investitionen "zur Abwehr einer Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts" überschreiten. Schon das Wort "Abwehr" macht die situative Singularität deutlich, weil Parallelen zur "Gefahrenabwehr" dem verfassungsändernden Gesetzgeber bewusst sein mussten. Die strikte Formulierung "Ausnahmen sind nur zulässig" ist für das Grundgesetz nicht anders als sonst in der Sprache des Gesetzes ein unübersehbares Signal dafür, dass strenge Maßstäbe gelten sollen.
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Das bedeutet auch, dass die Prüfung des Bundesverfassungsgerichts im Rahmen der Normenkontrolle dem entsprechen muss, und allenfalls bei der konkreten Beurteilung der gesamtwirtschaftlichen Lage und bei der Kontrolle der Eignung der Kreditaufnahme zur Abwehr einer Störung dem Gesetzgeber einen Spielraum einräumen darf, was aber zumindest eine dokumentierte Informationsgrundlage, nachvollziehbares Einschätzen und Abwägen, und dann auch einen kritischen Nachvollzug durch das Gericht unter Berücksichtigung der bisherigen Staatspraxis erfordert.
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Der Sinn und Zweck des Art. 115 Abs. 1 Satz 2, 2. Halbsatz GG erlaubt es somit nicht, dem Bundesgesetzgeber hinter einer nahezu völlig ausgedünnten Kontrollfassade im Ergebnis plein pouvoir zu geben. Man darf zudem nicht unberücksichtigt lassen, in welchem politischen Zusammenhang die Grundgesetzänderungen des Art. 109 Abs. 2 im Jahr 1967 und die des Art. 115 im Jahr 1969 standen. Die Regierung Erhard war nach der für sie erfolgreichen Bundestagswahl vom 19. September 1965 auch deshalb gescheitert, weil sie auf konjunkturelle und strukturelle Krisensymptome wie etwa die Krise im Ruhrbergbau mit einem deutlichen Sparprogramm und Forderungen nach Erhöhung der Wochenarbeitszeit reagierte und ein unpopuläres Haushaltssicherungsgesetz mit Steuererhöhungen beschlossen hatte, das im Oktober 1966 von dem Koalitionspartner FDP nicht mehr mitgetragen wurde. Die darauf folgende Große Koalition unter Bundeskanzler Kiesinger, die die hier maßgeblichen Verfassungsänderungen durchgesetzt hat, wollte ausweislich der Regierungserklärung den Bundeshaushalt -- der zuvor als Anlass für die Regierungskrise eine Deckungslücke von 4 Mrd. DM aufgewiesen hatte -- sanieren und dabei aber zugleich (und anders als die abgelöste Regierung) im Hinblick auf die sich deutlicher abzeichnende Rezession der Jahre 1966/1967 eine antizyklische Politik verfolgen (zu diesem Regierungs- und Positionswechsel: Heinrich August Winkler, Der lange Weg nach Westen, Bd. II, S. 233, 237, 242 f.).
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In einer aus heutiger Sicht wohl damals gegebenen Überzeichnung der konjunkturellen Krise wollte man jeder Parallele zur Weimarer Entwicklung vorbeugen, für deren Endphase der Brüningschen prozyklischen Sparpolitik eine Mitverantwortung für den Weg in die Diktatur zugesprochen wurde. Dies macht aber auch deutlich, wie sehr man für die Rechtfertigung einer stärkeren Bundesverschuldung in exzeptionellen historischen Kategorien dachte und keineswegs dem Grunde nach geneigt war, den Pfad einer soliden Haushaltspolitik zu verlassen. Denn neben der Sorge um eine womöglich fatale prozyklische Wirtschafts- und Fiskalpolitik stand mit gleichem Gewicht die Sorge um Risiken für die Währungsstabilität, die durch eine unsolide und nicht nachhaltige staatliche Haushaltswirtschaft hervorgerufen werden, eine Sorge, die ebenfalls ihre Ursachen in der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts findet.
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2. Der strikte Wortlaut des Art. 115 Abs. 1 Satz 2, 2. Halbsatz GG war danach kein Zufall und keine bloße Symbolik, er war ernst gemeint: Ausnahme von der Kreditbegrenzung durch echte Investitionen nur in den seltenen Fällen einer tatsächlichen Rezession, die antizyklisches Verhalten des Staates geradezu erzwingt und sodann diesem Konzept getreu, die Rückführung des Schuldensockels in der Phase der konjunkturellen Erholung. Die Begrenzung, die zuvor über die traditionelle Tatbestandsfassung des "außerordentlichen Bedarfs" erfolgte, wird damit nicht aufgegeben, sondern zeitlich gedehnt und sachlich an konjunkturelle Ziele gebunden (BVerfGE 79, 311 [333]).
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Dieses einleuchtende Regelungskonzept wurde zunächst auch in der Bewältigung der Rezession der Jahre 1966/1967 beinah exakt eingehalten (Wissenschaftlicher Beirat beim Bundesministerium der Finanzen, Gutachten zu den Problemen einer Verringerung der öffentlichen Netto-Neuverschuldung, 1984, S. 4). In der Aufschwungperiode von 1968 bis 1970 wurde tatsächlich die Kreditmenge konzeptionsgerecht und verfassungsgemäß zurückgeführt.
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Danach allerdings schwand -- und zwar bis zum heutigen Tage -- die Bereitschaft, konzeptionsgerecht mit der neuen Verschuldensregel umzugehen. Seit der Planungs- und Steuerungseuphorie der siebziger Jahre wurden die Staatsaktivitäten ohne zwingende gesamtwirtschaftliche Gründe immer weiter ausgedehnt und immer deutlicher neue Sozialleistungen über eine stärkere Staatsverschuldung finanziert (Karl-Heinrich Hansmeyer, Ursachen des Wandels in der Budgetpolitik, in: Karl Häuser [Hrsg.], Budgetpolitik im Wandel, 1986, S. 11 ff.). Diese Praxis war und ist gemessen an Art. 115, Art. 110 Abs. 1 Satz 2, Art. 109 Abs. 2 und Abs. 4 GG verfassungswidrig. Der Gesetzgeber ist seiner Aufgabe, mit einer situations- und konjunkturadäquaten Verschuldensgrenze verantwortlich und verfassungsgemäß umzugehen, nicht gerecht geworden. Wird in dieser Lage das Bundesverfassungsgericht angerufen, hat es die Verletzung der in der Verfassung normierten Grenzen der Staatsverschuldung festzustellen und die Einhaltung der geltenden zentralen Verfassungsvorschriften für eine solide und nachhaltige Haushaltswirtschaft des Bundes sicherzustellen, auch mit Maßgaben, Übergangsregelungen und Fristsetzungen im Sinne des § 35 BVerfGG.
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Nicht eine weitere Reduzierung der Verfassungskontrolle entspricht dem Wortlaut, Sinn und Zweck sowie dem Willen des historischen verfassungsändernden Gesetzgebers, sondern die Überprüfung der Tatbestandsvoraussetzungen einer Ausnahmevorschrift. In diesem Zusammenhang hätte der Senat auch zu prüfen gehabt, mit welchen vom Gericht verbindlich gemachten Maßgaben die Rückkehr zu einer ausgeglichenen Haushaltswirtschaft und die allmähliche Rückführung des Schuldensockels bei guter konjunktureller Lage sichergestellt werden kann, damit die Haushaltswirtschaft des Bundes wieder verfassungsgemäß wird.
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Das damals neu tarierte Normensystem aus Art. 115 und Art. 109 GG verpflichtet den Haushaltsgesetzgeber und das zur Kontrolle berufene Bundesverfassungsgericht, sich der gewollten zeitlichen (über die jeweilige Jährlichkeit hinausreichende) und sachlichen (unter Beachtung der konjunkturellen Entwicklung) Dehnung des Beurteilungszeitraums anzupassen. Weder Gesetzgeber noch Verfassungsgericht dürfen den Maßstab der Jährlichkeit isoliert anlegen und die Augen verschließen vor der Entwicklung des Schuldenstandes und der Tragfähigkeitslücken, die durch die Verschuldungspolitik entstehen oder vergrößert werden. Daraus folgt, dass bei guter konjunktureller Entwicklung der Haushaltsgesetzgeber, der einen Schuldensockel aus konjunkturschwächeren Zeiträumen angesammelt hat, diesen von Verfassungs wegen abbauen oder dafür Rücklagen bilden muss, nicht nur weil er andernfalls sich das Instrument zur Erhaltung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts für die Zukunft verbaut, sondern auch weil alles andere dem Sinn des Vorschriftenkomplexes zuwiderlaufen würde.
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Das Bundesverfassungsgericht hat bereits in seiner Entscheidung vom 18. April 1989 auf den zur Kreditermächtigung gegenläufigen Gehalt des Art. 115 GG im Fall wirtschaftlicher Normallagen ohne Störungshintergrund hingewiesen. Danach kann es von Verfassungs wegen nicht nur notwendig sein, die Kreditaufnahme geringer zu halten als die Summe der Investitionen es erlaubt, sondern es kann darüber hinaus geboten sein, "eine im gesamtwirtschaftlichen Interesse eingegangene erhebliche Verschuldung" zurückzuführen (BVerfGE 79, 311 [334]), also teilweise oder ganz aus den laufenden, nichtkreditfinanzierten Einnahmen zu tilgen.
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III. |
Zur Konkretisierung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts wird üblicherweise auf die Teilziele des § 1 Satz 2 des Gesetzes zur Förderung der Stabilität und des Wachstums der Wirtschaft vom 8. Juni 1967 (BGBl I S. 582 -- Stabilitätsgesetz) zurückgegriffen (vgl. BVerfGE 79, 311 [338 f.]). Die Senatsmehrheit stützt sich entscheidend auf die beiden Teilziele hoher Beschäftigungsstand sowie stetiges und angemessenes Wirtschaftswachstum; die Teilziele außenwirtschaftliches Gleichgewicht und Stabilität des Preisniveaus waren unstreitig erfüllt (Jahresgutachten des Sachverständigenrats 2005/2006, Tz. 480).
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Die Senatsmehrheit hält insbesondere die prospektive Feststellung der Bundesregierung (BTDrucks 15/1500, S. 13) für vertretbar, es werde jedenfalls auch im Jahr 2004 kein Wachstum erreicht, das ausreiche, Beschäftigung aufzubauen. Damit beschränkt sich die Senatsmehrheit auf eine selektive Ergebniskontrolle. Die Grundlagen dieser Einschätzung greift der Sachverständigenrat in seinem Jahresgutachten 2005/2006 aus der Perspektive ex ante detailliert an (Tz. 475--487).
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Wer das Kriterium des Beschäftigungsstands undifferenziert zum maßgeblichen Kriterium für die Feststellung einer gesamtwirtschaftlichen Störungslage macht, bringt Art. 115 GG um seine maßgebliche Wirkung, die Kreditaufnahme des Bundes zu begrenzen. Der Sachverständigenrat weist darauf hin, dass die Arbeitslosigkeit seit mehreren Jahrzehnten hoch sei. Auch werde nicht beachtet, dass dieses stabile Beschäftigungsproblem ein Gleichgewichtsphänomen darstelle, das nur durch Veränderungen des institutionellen Rahmens beeinflusst werden könne (Tz. 478). Auf Grundlage der damaligen Prognose des Sachverständigenrats sei dagegen für 2004 zu erwarten gewesen, dass die konjunkturell verursachte Arbeitslosigkeit eher zurückgehe (Tz. 482). Im Hinblick auf das Teilziel des angemessenen und stetigen Wirtschaftswachstums weist der Sachverständigenrat darauf hin, dass dies anhand der prognostizierten relativen Output-Lücke zu beurteilen sei. Nach der damaligen Ratsprognose sei auf dieser Grundlage keine bevorstehende Störung zu erkennen gewesen (Tz. 481).
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Die Senatsmehrheit prüft nicht, ob der Haushaltsgesetzgeber dargelegt hat, dass seine Einschätzung überhaupt auf sachverständiger ökonomischer Beratung fußt. Der Haushaltsausschuss nahm kaum Bezug auf das zwischenzeitlich veröffentlichte Jahresgutachten des Sachverständigenrats. Er erwähnte den Sachverständigenrat nur einseitig, um seine Einschätzung zu untermauern, der Anstieg des Bruttoinlandsprodukts (BIP) genüge nicht, um in nennenswertem Umfang Beschäftigung aufzubauen (BTDrucks 15/1923, S. 25).
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Die Sachverständigen Rürup und Blankart haben in der mündlichen Verhandlung übereinstimmend ausgeführt, dass Schwächen im Beschäftigungsniveau vor allem struktureller und nur zu 1,6% der insgesamt 9,3% betragenden Arbeitslosigkeit konjunktureller Art waren (Blankart, Gutachterliche Stellungnahme vom 8. Februar 2007, S. 3). Auch die im Jahr 2003 für 2004 prognostizierte Wachstumsschwäche war nicht derart konjunkturell ausgeprägt, dass eine Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts ohne weiteres daraus begründet werden könnte, weshalb der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung für den Bundeshaushalt 2004 zu dem Ergebnis gekommen ist, "dass zum damaligen Zeitpunkt das Vorliegen einer Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts in hohem Maße zweifelhaft war" (Stellungnahme des Sachverständigen Rürup vom 11. Februar 2007, S. 7). Auch die Eignung des Mittels der vorgezogenen Steuerreform, die beim Erlass des Stammgesetzes zum Bundeshaushalt 2004 und der Höhe seiner Kreditermächtigungen im Vordergrund stand, um einen konjunkturbelebenden Effekt zu erzeugen, wird vom Sachverständigen Rürup schon aus grundsätzlichen Erwägungen heraus bezweifelt.
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Offen gelassen wird von der Mehrheit des Senats, wie der Investitionsbegriff zu verstehen ist, da gesichert sei, dass die Investitionsgrenze des Art. 115 Abs. 1 Satz 2, 1. Halbsatz GG überschritten ist. Dies zeigt nicht nur, wie grobmaschig geprüft wird, ob die Kredite überhaupt die Störung beseitigen konnten. Es fehlt auch die Bereitschaft, die geltende Begrenzung verfassungsrechtlich so auszulegen, dass sie ihrem Sinn und Zweck als rationale Begrenzung der Bundesverschuldung künftig zu entsprechen vermag. Die vom Gesetzgeber trotz entsprechender Aufforderung des Gerichts seit mehr als 15 Jahren versäumte Konkretisierung des Investitionsbegriffs hätte schon deshalb nicht offen bleiben dürfen, weil auch für den Bundeshaushalt 2004 je nach Investitionsbegriff ein geringerer oder höherer Kreditwert auf seine Geeignetheit zur Störungsabwehr hin zu überprüfen ist. Nur wenn auch jede Investition definitorisch jede Störungslage beseitigen könnte, wäre die genaue Definition des Investitionsbegriffs unerheblich. Dies behauptet jedoch auch die Senatsmehrheit nicht. Dadurch ist es von vorneherein unmöglich, verlässlich zu prüfen, ob plausibel dargelegt ist, dass die Kredite nach Art. 115 Abs. 1 Satz 2, 2. Halbsatz GG die Störung beseitigen können.
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Zur Frage, ob diese Kredite zur Störungsabwehr geeignet sind, lässt die Senatsmehrheit genügen, dass der Sachverständigenrat in seinem Jahresgutachten 2003/2004 ausführt, die Steuersenkung werde einen konjunkturellen Impuls auslösen, aber dieser Impuls werde gering sein. Der Sachverständigenrat bewertet jedoch die Nachteile dieser Maßnahme höher als deren Vorteile (Tz. 397 f.). Angesichts der massiven Zweifel, die der Sachverständigenrat zusätzlich anführt, kann es nicht angehen, derart geringe Anforderungen an die Darlegungen der Geeignetheit zu stellen. Würde die Geeignetheit einer Gesamtmaßnahme im Einzelnen an streng ökonomischen Kriterien gemessen, so kann der Anteil der gerechtfertigten Kreditsumme gering ausfallen (vgl. als Beispiel die strenge Prüfung der stabilisierungspolitischen Vorhaben im Haushalt 2006 im Jahresgutachten des Sachverständigenrats 2006/2007, Tz. 4 01).
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Ihre geringen Anforderungen rechtfertigt die Senatsmehrheit damit, dem Haushaltsgesetzgeber stehe es zu, die Vor- und Nachteile kurz- und langfristiger Folgen anders abzuwägen als der Sachverständigenrat. Sie prüft aber nicht -- entgegen ihrem eigenen Maßstab --, ob der Haushaltsgesetzgeber auf Grundlage der wirtschaftswissenschaftlichen Erkenntnisse die Vor- und Nachteile kurz- und langfristiger Folgen auch tatsächlich abgewogen hat. Schon aus politischen Gründen sind der Gesetzentwurf der Bundesregierung und der Finanzplan des Bundes so gefasst, dass nur positiv herausgestellt wird, welche eigenen Anstrengungen zum Abbau der Nettokreditaufnahme unternommen werden, verbunden mit einem langfristigen Ausblick auf einen Abbau des Defizits (BTDrucks 15/1500, S. 14 und BTDrucks 15/1501, S. 5-- 10). Die Nachteile der Schuldenpolitik werden als Meinung der oppositionellen Fraktionen im Bericht des Haushaltsausschusses lediglich wiedergegeben (BTDrucks 15/1923, S. 26), ohne weiter diskutiert zu werden. Auch die kritische Einschätzung der Sachverständigen wird nicht in eine Abwägung eingestellt. Insgesamt sind in den Materialien keine Elemente des Abwägens, keine Darstellung von Für und Wider, zu finden. Auch hier beschränkt sich die Senatsmehrheit -- entgegen ihrem eigenen Anspruch -- auf eine reine Ergebniskontrolle.
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Noch deutlicher wird diese Selbstbeschränkung bei der Prüfung des Nachtragshaushaltsgesetzes. Die Senatsmehrheit vollzieht hier gar nicht mehr nach, ob die erhöhte Kreditaufnahme im Nachtragshaushalt zur Beseitigung der Störung bestimmt und geeignet ist. Dass die Kredite die Investitionen nach dem Nachtragshaushalt um 18,9 Mrd. € überstiegen (vgl. auch Jahresgutachten des Sachverständigenrats 2005/2006, Tz. 475), nimmt die Senatsmehrheit nicht zum Ausgangspunkt (dies wird nur im wiedergegebenen Vortrag der Antragsteller erwähnt). Wenn man angesichts des ursprünglichen Willens des Haushaltsgesetzgebers davon ausgeht, dass mit den Krediten das Vorziehen der Steuerreform abgefedert werden sollte, so wäre zu prüfen gewesen, ob dies wenigstens nachvollziehbar bleibt. Da aber zum Zeitpunkt des Nachtragshaushalts nach den Feststellungen des Urteils mit Steuerausfällen in Höhe von 11,1 Mrd. € gerechnet wurde, übersteigen die veranschlagten Kredite diesen Zweck. Außerdem bleibt ungeklärt, inwiefern der Ausgleich aller Steuerausfälle geeignet sein konnte, um eine gesamtwirtschaftliche Störung zu beseitigen. An diesem Punkt verliert die verfassungsrechtliche Prüfung den Begrenzungsauftrag von Art. 115 GG vollends aus den Augen: Die Senatsmehrheit kapituliert vor den politisch herbeigeführten Gegebenheiten. Sie fragt nicht mehr ausgehend von der Höhe der Investitionen, ob eine höhere Kreditaufnahme gerechtfertigt werden kann. Sondern sie lässt es genügen, wenn bei einer Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts die Kreditaufnahme durch den Nachtragshaushalt dazu geeignet ist, den Haushalt gemäß Art. 110 Abs. 1 Satz 2 GG auszugleichen. Das wird sie bei Krediten in jeder beliebigen Höhe bejahen können, soweit der Haushaltsgesetzgeber mehr ausgibt als er eingenommen hat.
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Unausgesprochen liegt dem die Furcht zugrunde, das gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht zusätzlich dadurch zu stören, dass die Fehlbeträge nicht oder nur verbunden mit erheblichen Einschnitten bei den Ausgaben ausgeglichen werden können. Dabei wird nicht gefragt, wo und zu welchem Zeitpunkt der Haushaltsgesetzgeber noch hätte sparen können und müssen, ohne das gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht noch weiter zu gefährden. Es wird auch nicht nach den ursprünglichen -- und künftig vermeidbaren -- Fehlern gesucht: So wäre zu fordern gewesen, dass von Anfang an eine vorsichtigere Schätzung bzw. grundsätzlich ein Abschlag zu berücksichtigen sind, um Fehlprognosen zu vermeiden, oder dass zu Beginn des Haushaltsjahres Vorsorge getroffen wird, um nicht zu rechtfertigende Kredite zu verhindern. Denn dieser Nachtragshaushalt mit einer Neuverschuldung von über 40 Mrd. € war bereits bei Aufstellung des ursprünglichen Haushalts absehbar (vgl. Auffassung der FDP-Fraktion im Bericht des Haushaltsausschusses BTDrucks 15/1923, S. 26).
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Ein Nachtragshaushalt als offene Schleuse für jedwede Kredithöhe schlägt auch auf das Haushaltsgesetz zu Beginn des Haushaltsjahres zurück: Wenn durch den Nachtragshaushalt unkontrolliert weitere Kredite aufgenommen werden können, dann ist es weitgehend unnötig, das Haushaltsgesetz in seiner ursprünglichen Fassung zu Beginn des Haushaltsjahres genau zu prüfen. So wird auch von den wirtschaftswissenschaftlichen Experten bemängelt, die Ausnahmeregel des Art. 115 GG böte -- in ihrer gegenwärtigen Auslegung -- weder rechtlich noch faktisch eine Obergrenze (Stellungnahme des Bundesrechnungshofs, S. 13 f.; Jahresgutachten des Sachverständigenrats 2006/2007, Tz. 403). Es spiele in der Haushaltspraxis keine Rolle, in welchem Umfang die Regelkreditgrenze überschritten werde. Dementsprechend fehlten dazu auch Ausführungen in den Begründungen der Haushaltsgesetze (Stellungnahme des Bundesrechnungshofs, S. 14).
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Der Haushaltsgesetzgeber legt auch nicht dar, ob die erhöhte Kreditermächtigung im Nachtragshaushalt tatsächlich für diesen Haushalt genutzt oder für den folgenden Haushalt nach der First-in-First-out-Methode angespart werden sollte. Durch diese Restkreditermächtigungen wird nicht nur die Kontrolle des Einsatzes und der Geeignetheit der Kredite oberhalb der Investitionsgrenze unterlaufen, sondern auch die Notwendigkeit, einen Nachtragshaushalt vorzulegen (vgl. Jahresgutachten des Sachverständigenrats 2006/2007, Tz. 403).
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IV. |
Würde man danach eine die Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts für das Jahr 2004 sowohl beim Erlass des Haushaltsgesetzes 2004 wie beim Erlass des Nachtragshaushaltsgesetzes 2004 bzw. die Geeignetheit der Kredite zur Abwehr einer Störungslage verneinen, so hätte dies zur Folge, dass sich die angegriffenen Haushaltsgesetze als verfassungswidrig erwiesen, weil sie unter Berücksichtigung des Nachtragshaushalts die Summe der Investitionen um rund 100% übersteigen. Im Haushaltsvollzug betrug die Nettokreditaufnahme des Bundes für das Jahr 2004 letztlich 39,5 Mrd. €, während die Kreditgrenze der veranschlagten Investitionsausgaben bei 22,4 Mrd. € lag (Stellungnahme des Bundesrechnungshofs vom 5. Februar 2007, S. 7). Legt man aus dieser Sicht ein rechtmäßiges Alternativverhalten zugrunde, so hätte allerdings der Bund im Jahr 2004 ein Defizit von 17,1 Mrd. € entweder durch Minderausgaben oder durch Mehreinnahmen ausgleichen müssen.
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Dazu hat jedoch der Sachverständige Rürup in der mündlichen Verhandlung ausgeführt, dass der Entzug einer derartig hohen Summe durch Leistungskürzungen oder Steuererhöhungen die Nachfrage in Deutschland zu stark getroffen und damit die Kräfte geschwächt hätte, die bereits auf einen konjunkturellen Aufschwung hindeuteten. Zugleich hat er aber auch eingeräumt, dass die hohe Nettokreditaufnahme und der damit wiederum deutlich erhöhte hohe Schuldensockel seinerseits mittelfristig eine Wachstumsbremse seien.
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Ein solches Argument ist aber für die Verfassungskontrolle nur dann maßgeblich, wenn die Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts bereits feststeht, es kann diese Lage nicht erst begründen. Außerhalb von Störungslagen genießt der Grundsatz einer soliden ausgeglichenen Haushaltswirtschaft Vorrang, weil Bund und Länder den Erfordernissen des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts (Art. 109 Abs. 2 GG) außerhalb der besonderen Ermächtigung des Art. 115 Abs. 1 Satz 2, 2. Halbsatz GG von vornherein nur im Rahmen einer ausgeglichenen und nachhaltigen Haushaltspolitik Rechnung tragen dürfen. Wem dies zu hart und wirtschaftlich unvernünftig erscheint, der sollte jedenfalls nicht nach neuen wirksameren verfassungsrechtlichen Regeln rufen, denn rechtliche Schuldenbegrenzungen haben dann, wenn sie tatsächlich greifen, immer derartige nachteilige Effekte.
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Wenn weiterhin bei praktisch jeder Wachstums- und Beschäftigungsschwäche auch ohne konjunkturellen Rezessionscharakter eine in der Höhe unbegrenzte Kreditaufnahme des Bundes erlaubt wäre, würde damit die Wahrscheinlichkeit eines Abbaus des Schuldensockels immer wieder sinken. Der inzwischen für den Bund aufgelaufene Schuldensockel der expliziten, im Bundeshaushalt ausgewiesenen Bundesschuld betrug zum Jahresende 2006 bereits rd. 917 Mrd. € und erfordert für das laufende Haushaltsjahr 2007 einen Zinsaufwand von 39,3 Mrd. €, das heißt 18% aller Steuereinnahmen müssen heute für Zinszahlungen eingesetzt werden (Stellungnahme des Bundesrechnungshofs vom 5. Februar 2007, S. 5 und S. 8). Die laufende Tilgung fälliger Kredite erfolgt wiederum über Kreditaufnahme mit dem Risiko, nach einer Niedrigzinsphase in Zukunft noch höher mit Zinszahlungen belastet zu werden (Stellungnahme des Bundesrechnungshofs vom 5. Februar 2007, S. 9). Der Bund hat -- mit Ausnahme eines Teils der einmaligen Einnahmen aus der Versteigerung der UMTS-Lizenzen -- nach Jahrzehnten des ununterbrochenen Anstiegs der Bundesschulden bislang noch nicht einmal begonnen, den Schuldensockel durch echte Tilgung, also eine Tilgung, die die Summe der Neuverschuldung übersteigt, abzutragen.
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Damit missachtet der Bundesgesetzgeber in einer Art wiederkehrender Dauerrechtsverletzung das Verfassungsgebot, bei günstiger konjunktureller Lage die unter Berufung auf Art. 115 GG aufgenommenen Kredite durch Einsparungen oder Einnahmeverbesserungen in der Phase des konjunkturellen Aufschwungs auch wieder zu tilgen (vgl. BVerfGE 79, 311 [334]). Nur ein solches Verhalten wäre verfassungsgemäß. Auch haushaltswirtschaftlich wäre dieses Verhalten im Hinblick auf eine Erhaltung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts und einer ordnungsgemäßen Haushaltswirtschaft nur bei außerordentlich optimistischen Wachstumserwartungen oder bei sich deutlich abzeichnenden Einsparungspotentialen noch vertretbar. Da aber wegen der demographischen Entwicklung sich eher Tragfähigkeitslücken insbesondere bei den sozialen Sicherungssystemen zeigen (siehe dazu die Studie des Instituts für Wirtschaftsforschung an der Universität München [ifo], Modellrechnungen zur langfristigen Tragfähigkeit der öffentlichen Finanzen, 2004, S. 30 ff.) und vor allem auch wegen der hohen Staatsverschuldung keine ausreichenden Mittel für die Förderung des Produktivitätswachstums frei sind, um etwa in familiären Lastenausgleich, Bildung, Wissenschaft und Technologieförderung zu investieren, bremst inzwischen das Ausmaß der Staatsverschuldung gerade auch die Möglichkeiten seines Abbaus. Vergleicht man den Bundeshaushalt von 1964 mit dem von 2004, so fällt vor allem ins Auge, dass sich der Anteil der Bundesausgaben für Renten von 12,9% auf 30,7% und die Zinsausgaben für Bundesschulden von 1,9% auf 14,4% erhöht haben (siehe Bundesministerium der Finanzen, Bericht zur Tragfähigkeit der öffentlichen Finanzen, S. 48) und damit die Tragfähigkeitrisiken schon an diesen beiden Faktoren offenkundig werden.
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Solange nicht in Phasen wirtschaftlicher Normallage der Schuldensockel zurückgeführt wird, wird der Bund in seinen politischen Möglichkeiten nicht nur auf der Ausgabenseite eingeschränkt, sondern auch gerade bei der Öffnung von Tragfähigkeitslücken etwa in der Renten- oder Pflegeversicherung nur die Wahl haben, entweder Leistungsniveaus zu senken oder Beiträge oder Steuern zu erhöhen. Im Rahmen einer globalisierten und europäisch integrierten Wirtschaft schwinden aber die praktischen Möglichkeiten zu einer leistungs- und freiheitsgerechten Besteuerung von Einkommen und Vermögen, und es steigt demgemäß die Neigung zur Erhöhung indirekter, allerdings sozial in den Wirkungen nicht ohne weiteres zweckgerechter Steuern.
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Die Schuldenpolitik ist inzwischen nicht nur zu einer Konjunkturbremse geworden, sondern verringert auch die praktischen Möglichkeiten, dem Sozialstaatsprinzip durch ausgleichende, vorsorgende und fördernde Maßnahmen zu entsprechen. Die Belastung künftiger Generationen ist längst eingetreten, weil die Gegenwart bereits erheblich unter den Kreditaufnahmen aus der Zeit seit etwa 1970 leidet, die gemessen am Zweck einer Erhaltung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts sich in der Bilanz mit den negativen Wirkungen der Staatsverschuldung als weitgehend nutzlos erwiesen haben.
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Dabei verliert der Bund nicht nur in immer höherem Maße seine Fähigkeit, dem Gebot des Art. 109 Abs. 2 GG entsprechend seine Haushalts- und Finanzwirtschaft nach gesamtwirtschaftlichen Bedürfnissen auszurichten (vgl. dazu für die Haushaltsnotlage BVerfGE 86, 148 [266]). Ohne Schuldenrückführung noch vor dem Eintritt von größeren Tragfähigkeitslücken wird auch die negative Tendenz der Staatsverschuldung verstärkt, die sich als Begrenzung der Freiheit, als Entwertung sozialversicherungsrechtlicher Eigentumspositionen und als Verlust an demokratischer Gestaltungsfähigkeit darstellt. Insgesamt gefährdet eine Staatsverschuldung, die im Sockel bei guter Konjunktur nicht oder nicht nennenswert sinkt und bei schlechter konjunktureller Lage immer wieder deutlich steigt, schleichend die praktische Möglichkeit zur Beachtung wichtiger Staatsstrukturprinzipien. Sie begünstigt eine Tendenz zur De-Konstitionalisierung, weil das politische Handeln des Bundes sich immer mehr fesselt und zur Überschreitung verfassungsrechtlicher Grenzen drängt. Es ist vor allem dieser Umstand, dieser die verfassungsrechtliche Ordnung allmählich verformende Effekt, der das Verfassungsgericht in eine besondere Verantwortung zwingt.
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(gez.) Di Fabio Mellinghoff |
Abweichende Meinung des Richters Landau zum Urteil des Zweiten Senats vom 9. Juli 2007 -- 2 BvF 1/04 -- |
Die Senatsmehrheit lässt jedes Bemühen vermissen, der exzessiven staatlichen Schuldenpolitik durch eine gebotene restriktivere Anwendung des Normprogramms der Art. 109 Abs. 2 und Art. 115 Abs. 1 Satz 2 GG Grenzen zu setzen.
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Demgegenüber haben der Niedersächsische Staatsgerichtshof (NVwZ 1998, S. 1288 ff.) und der Berliner Verfassungsgerichtshof (NVwZ 2004, S. 210 ff.) einen strengeren Maßstab angelegt. Beide Entscheidungen zeichnen sich dadurch aus, im Falle der Überschreitung der in Art. 115 Abs. 1 Satz 2 GG -- und den entsprechenden Vorschriften der Landesverfassungen -- vorgesehenen Regelgrenze dem Haushaltsgesetzgeber eine erweiterte Darlegungslast aufzuerlegen.
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Dagegen sieht die Senatsmehrheit keinen Anlass, bei der Auslegung und Anwendung des Art. 115 Abs. 1 Satz 2 GG die Maßstäbe des Senatsurteils vom 18. April 1989 (BVerfGE 79, 311) zu verdeutlichen. Gerade für den Investitionsbegriff aus Art. 115 Abs. 1 Satz 2 GG gilt jedoch nach meiner Meinung Folgendes:
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Im Hinblick auf die gemäß Art. 115 Abs. 1 Satz 2 GG für den Regelfall maßgebliche Grenze der Kreditaufnahme, die "Summe der im Haushaltsplan veranschlagten Ausgaben für Investitionen", ist festzustellen, dass die Definition der Investitionen in § 13 Abs. 3 Nr. 2 BHO, die derzeit vom Haushaltsgesetzgeber der Berechnung der Regelkreditgrenze zugrunde gelegt wird, nicht dem verfassungsrechtlichen Investitionsbegriff in Art. 115 Abs. 1 Satz 2 GG entspricht. Die Vorschrift des § 13 Abs. 3 Nr. 2 BHO geht in der Weite ihres Investitionsbegriffs über die verfassungsrechtlichen Vorgaben hinaus und überschreitet so die Grenzen einer zulässigen Konkretisierung, mit welcher der Gesetzgeber gemäß Art. 115 Abs. 1 Satz 3 GG beauftragt ist. Die Vorschrift kann der Berechnung der Regelkreditgrenze daher nur noch für eine Übergangsfrist zugrunde gelegt werden.
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1. In Ergänzung der Grundsätze, die der Senat bereits in seinem Urteil vom 18. April 1989 (BVerfGE 79, 311) aufgestellt hat, kann für die Zukunft nicht offen gelassen werden, wie der Begriff der Investitionen in Art. 115 Abs. 1 Satz 2 GG zu verstehen ist. Zwar ist durch § 2 Abs. 1 des Bundeshaushaltsgesetzes 2004 n. F. die Regelgrenze der Kreditaufnahme bereits dann überschritten, wenn man die Ausgaben für Investitionen gemäß § 13 Abs. 3 Nr. 2 BHO zugrunde legt. Die bloße Feststellung einer Überschreitung der Regelgrenze genügt aber nicht als Ausgangspunkt der weiteren verfassungsrechtlichen Prüfung. Da die erhöhte Kreditaufnahme als Abweichung von der Regelgrenze ein Mittel zur Behebung der Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts sein soll, muss dieses Mittel auch im Verhältnis zur Regelgrenze präzise bestimmt sein. Außerdem muss im Hinblick auf die zukünftige Haushaltsgesetzgebung klargestellt werden, dass die derzeitige Regelung in § 13 Abs. 3 Nr. 2 BHO nicht als Erfüllung des Regelungsauftrags in Art. 115 Abs. 1 Satz 3 GG zur Konkretisierung des Investitionsbegriffs angesehen und daher in Zukunft nicht der Bestimmung der Regelgrenze der Neuverschuldung zugrunde gelegt werden kann.
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Ich stimme mit der Senatsmehrheit darin überein, dass der Gesetzgeber den Regelungsauftrag aus Art. 115 Abs. 1 Satz 3 GG, dessen Erfüllung der Senat in seinem Urteil vom 18. April 1989 (BVerfGE 79, 311 [352 ff.]) angemahnt hatte, mit § 13 Abs. 3 Nr. 2 BHO nur formell erfüllt hat. Sinn und normativer Gehalt des Regelungsauftrags an den Gesetzgeber war es dagegen, unter Berücksichtigung der bislang gewonnenen Erfahrungen den Investitionsbegriff so zu präzisieren, dass er seiner Funktion möglichst gerecht werden kann, einer Staatsverschuldung vorzubeugen, die den Bundeshaushalt für die Zukunft zu stark belastet und den notwendigen Entscheidungsspielraum künftiger Haushaltsgesetzgeber, dessen diese zur Lösung der dann vordringlichen Probleme bedürfen, über Gebühr beschneidet (vgl. BVerfGE 79, 311 [354 f.]). Art. 115 Abs. 1 Satz 3 GG beauftragt den Gesetzgeber zwar mit der Konkretisierung des Investitionsbegriffs. Diese Konkretisierung ist aber ihrerseits an der Verfassung zu messen. Der Gesetzgeber kann insoweit konkrete Zuordnungsfragen und technisch-quantitative Abgrenzungsprobleme regeln (vgl. Höfling/Rixen, in: Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Art. 115 Rn. 286). Die konstitutiven Elemente des verfassungsrechtlichen Investitionsbegriffs sind jedoch unmittelbar dem Grundgesetz zu entnehmen.
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2. Die "Summe der im Haushaltsplan veranschlagten Ausgaben für Investitionen" in Art. 115 Abs. 1 Satz 2 GG ist zu berechnen als Saldo der Ausgaben, mit denen ein Ertrag bringender Vermögenszuwachs oder ein positiver Wachstumseffekt verbunden ist, abzüglich der Einnahmen aus Veräußerungen und Rückflüssen, welche diese Wirkung vermindern.
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Die Verfassung enthält selbst keine Legaldefinition des Investitionsbegriffs. Sein Gehalt muss daher im Wege der Auslegung ermittelt werden, die sich maßgeblich an der Funktion des Begriffs zu orientieren hat. Art. 115 Abs. 1 Satz 2, 1. Halbsatz GG hat eine Begrenzungs- und Bremsfunktion gegenüber der Staatsverschuldung. Der haushaltswirtschaftliche Vorgriff auf zukünftige Einnahmen soll jedenfalls dadurch begrenzt werden, dass der Kredit nur im Umfang der Ausgaben mit zukunftsbegünstigendem Charakter in Anspruch genommen werden darf (vgl. BVerfGE 79, 311 [334]). Entscheidend für den Inhalt und die Wirksamkeit dieser Begrenzung ist somit der Begriff der Investition. Sinn und Zweck des Art. 115 Abs. 1 Satz 2, 1. Halbsatz GG gebieten daher eine enge Auslegung des Investitionsbegriffs. Art. 115 Abs. 1 Satz 2 GG stellt ein Junktim her zwischen der Zukunftsbelastung durch Kreditaufnahme und der Summe der zukunftsbegünstigenden Ausgaben, um eine Kompensation von spezifisch zukunftsbelastenden und -begünstigenden Wirkungen des Haushalts zu erreichen. Dieses Prinzip des intertemporalen Ausgleichs liegt der Verschuldungsgrenze des Art. 115 Abs. 1 Satz 2 GG zugrunde (vgl. Isensee, in: Wendt u. a. [Hrsg.], Festschrift für Karl Heinrich Friauf, 1996, S. 705 [706 f.]). Art. 115 Abs. 1 GG konkretisiert insoweit das Demokratieprinzip für den Bereich der Finanzverfassung (vgl. BVerfGE 79, 311 [343]). Es kann daher nicht unbeachtet bleiben, dass die politische Gestaltungsfreiheit künftiger Generationen durch die Schuldenlast immer weiter eingeschränkt wird. Das Demokratieprinzip verbietet keine staatliche Verschuldung, doch es gebietet, sie zu begrenzen, um die Handlungsspielräume künftiger Haushaltsgesetzgeber zu wahren. Die für den Regelfall vorgesehene Begrenzung der Neuverschuldung durch die öffentlichen Investitionsausgaben muss daher gewährleisten, dass einer Belastung zukünftiger Generationen ein Ertrag bringender Vermögenszuwachs oder ein positiver Wachstumseffekt gegenüber steht (Höfling, Staatsschuldenrecht, 1993, S. 189; Isensee, a.a.O., S. 712). Es reicht nicht schon jede zukunftsbegünstigende Wirkung aus, eine solche kann vielmehr nur angenommen werden, wenn wirtschaftliche Substanz geschaffen wird, die real auf künftige Haushaltsjahre übertragen werden kann und diese damit von eigenen Aufwendungen entlastet.
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3. Daraus ergeben sich Einschränkungen hinsichtlich der Ausgaben für Investitionen, an denen sich eine gesetzliche Konkretisierung des Begriffs zu orientieren hat.
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Der verfassungsrechtliche Tatbestand ist auf die Nettoinvestitionen zu beschränken, d. h. die in den Gruppierungsplänen des Haushalts ausgewiesenen Bruttoinvestitionen sind um die Abschreibungen als Ausdruck der in der gegenwärtigen Periode stattgefundenen Wertminderung des öffentlichen Kapitalstocks zu kürzen. Ein über die laufende Periode hinausreichender positiver Wachstumseffekt kann allein von Nettoinvestitionen bewirkt werden. Dem Einwand, im kameralen Haushalt würden Nettoinvestitionen nicht abgebildet, kann mit Hilfsberechnungen begegnet werden.
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Weiterhin sind aufgrund ihrer desinvestiven Wirkung Einnahmen aus Vermögensveräußerungen, Darlehensrückflüssen und Rückflüssen aus der Inanspruchnahme aus Gewährleistungen von der Summe der Investitionen abzuziehen, da sie dauerhaft das Vermögen des Bundes und damit künftige Einnahmemöglichkeiten verringern.
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Darlehen sind nur dann als Investitionen zu berücksichtigen, wenn sie selbst beim Empfänger für Investitionszwecke eingesetzt werden. Darlehen, die zu konsumtiven Zwecken gewährt werden, führen nicht zu einem zukünftigen positiven Wachstumseffekt.
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Ausgaben für die Inanspruchnahme aus Gewährleistungen sind nicht zu den Investitionen zu zählen, da die vom Bund erworbenen Rückgriffsforderungen in aller Regel notleidend und daher abzuschreiben sind.
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4. Diese aus Sinn und Zweck des Investitionsbegriffs ermittelte Auslegung steht nicht im Widerspruch zum Wortlaut des Art. 115 Abs. 1 Satz 2 GG. Die dortige Formulierung, die Regelkreditgrenze werde durch die "im Haushaltsplan veranschlagten Ausgaben für Investitionen" bestimmt, ist nicht so zu verstehen, dass der Haushaltsgesetzgeber Ausgaben allein durch das Veranschlagen im Haushaltsplan konstitutiv zur Investition im Sinne von Art. 115 Abs. 1 Satz 2 GG machen könnte. Der Wortlaut weist vielmehr darauf hin, dass für die Regelkreditgrenze das bei Haushaltsaufstellung geplante Investitions-Soll, nicht das Investions-Ist, maßgeblich ist. Die Formulierung steht damit auch in Verbindung mit dem Publizitäts- und Warneffekt der Regelung: Die Summe der Investitionen und damit die Kreditobergrenze muss für den Betrachter des Haushaltsplans eindeutig erkennbar sein.
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Die Berücksichtigung von Bruttoinvestitionen im Rahmen des Art. 115 Abs. 1 Satz 2 GG widerspricht auch einer systematischen Betrachtungsweise, da bei den "Einnahmen aus Krediten", die in Art. 115 Abs. 1 Satz 2 GG den Ausgaben für Investitionen gegenüberstehen, nur die Nettokreditaufnahme berücksichtigt wird. Das Gebot materieller Symmetrie zwischen Kredit- und Investitionsbegriff gebietet, die Berechnungsgrundlage und den Begrenzungsmaßstab einheitlich netto zu berechnen. Zudem steht Art. 115 Abs. 1 Satz 2 GG in einem engen systematischen Zusammenhang mit Art. 109 Abs. 2 GG. Die Verpflichtung des Bundes aus Art. 109 Abs. 2 GG, bei seiner Haushaltswirtschaft den Erfordernissen des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts Rechnung zu tragen, erstreckt sich auch auf die Kreditaufnahme (vgl. BVerfGE 79, 311 [334 f.]). Ein zu weites Verständnis des Investitionsbegriffs machte Art. 115 Abs. 1 Satz 2 GG als zusätzliche Grenze der Kreditaufnahme neben der Berücksichtigung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts aus Art. 109 Abs. 2 GG überflüssig.
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Zwar scheint die Entstehungsgeschichte des Art. 115 GG n. F. in eine andere Richtung zu deuten. Nach der Begründung der Gesetzentwürfe zur Haushaltsreform seien unter dem Begriff der Ausgaben für Investitionen in Art. 115 Abs. 1 Satz 2 GG "öffentliche Ausgaben für Maßnahmen zu verstehen, die bei makroökonomischer Betrachtung die Produktionsmittel der Volkswirtschaft erhalten, vermehren oder verbessern. Hierzu zählen beispielsweise Baumaßnahmen, Erwerb von unbeweglichen und wertmäßig erheblichen beweglichen Sachen, Erwerb von Beteiligungen, Darlehen und Investitionshilfen" (BTDrucks 5/3040, S. 47). Zu weiteren begrifflichen Einschränkungen äußert sich die Begründung indes nicht. Der Hinweis auf die Entstehungsgeschichte des Art. 115 Abs. 1 Satz 2 GG kann die funktional-systematischen Erwägungen zum Investitionsbegriff nicht entkräften: Für die Auslegung einer Gesetzesvorschrift ist der in dieser zum Ausdruck kommende objektivierte Wille des Gesetzgebers maßgebend, so wie er sich aus dem Wortlaut der Gesetzesbestimmung und dem Sinnzusammenhang ergibt (vgl. BVerfGE 11, 126 [130 f.]; 35, 263 [278]; 48, 246 [256]). Der Entstehungsgeschichte einer Vorschrift kommt für deren Auslegung nur insofern Bedeutung zu, als sie die Richtigkeit einer nach den angegebenen Grundsätzen ermittelten Auslegung bestätigt oder Zweifel behebt, die auf dem angegebenen Weg allein nicht ausgeräumt werden können (vgl. BVerfGE 1, 299 [312]; 10, 234 [244]; 11, 126 [130]). Die Materialien dürfen nicht dazu verleiten, die subjektiven Vorstellungen der gesetzgebenden Instanzen dem objektiven Gesetzesinhalt gleichzusetzen (vgl. BVerfGE 62, 1 [45]). Das gilt hier in besonderem Maße, da sich die Umstände, unter denen Art. 115 GG anzuwenden ist, seit seiner Neufassung 1969 grundlegend geändert haben. Die damaligen finanzwirtschaftlichen Voraussetzungen und Erwartungen sind nicht mehr gegeben. Bis Mitte der 60er Jahre hatte die Netto-Kreditaufnahme in Bund und Ländern eine untergeordnete Rolle gespielt (vgl. Wissenschaftlicher Beirat beim Bundesministerium der Finanzen, Gutachten zu den Problemen einer Verringerung der öffentlichen Netto-Neuverschuldung, 1984, S. 3). Während des Konjunktureinbruchs von 1966/67 wurden erstmals im größeren Umfang kreditfinanzierte Ausgabenprogramme aufgelegt, was damals in Verbindung mit außenwirtschaftlichen Impulsen auch zu einer Verbesserung der wirtschaftlichen Lage führte (a.a.O., S. 3 f.). Die Haushaltsreformgesetzgebung 1967/69 vollzog sich vor der Erwartung, das Leitbild antizyklischer Finanzpolitik könne in der Praxis umgesetzt werden. Eine solche antizyklische Konjunkturpolitik wurde nachfolgend jedoch nicht realisiert. Aufschwungsphasen führten nicht mehr zu einer Reduzierung der Kreditaufnahme, geschweige denn einer effektiven Tilgung der aufgenommenen Kredite. Dies hatte einen stetig ansteigenden Schuldensockel des Bundes zur Folge (Ende 2006: rund 917 Mrd. €, siehe die schriftliche Stellungnahme des Sachverständigen Prof. Dr. Engels, S. 5), verbunden mit erheblichen Zinslasten (2007: 39,3 Mrd. €, a.a.O., S. 8). Angesichts dieses Befundes kann die Auslegung des Art. 115 GG nicht maßgeblich von seiner Entstehungsgeschichte bestimmt werden.
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5. Für das vorliegende Verfahren haben diese Ausführungen zum verfassungsrechtlichen Investitionsbegriff noch keine Konsequenzen. Der Haushaltsgesetzgeber konnte bisher davon ausgehen, dass die Definition der Investitionen in § 13 Abs. 3 Nr. 2 BHO, die zur Erfüllung des Gesetzgebungsauftrags aus Art. 115 Abs. 1 Satz 3 GG geschaffen wurde, der Bestimmung der Regelkreditgrenze zugrunde gelegt werden durfte. Für die Zukunft wird der Gesetzgeber aber eine einfachgesetzliche Regelung zu schaffen haben, die den verfassungsrechtlichen Vorgaben genügt. Andernfalls wird in Zukunft die Berechnung der Regelkreditgrenze unmittelbar anhand von Art. 115 Abs. 1 Satz 2 GG unter Berücksichtigung der hier dargelegten Auslegung des Investitionsbegriffs zu erfolgen haben.
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(gez.) Landau |