Abruf und Rang:
RTF-Version (SeitenLinien), Druckversion (Seiten)
Rang:  86% (656)

Zitiert durch:
BVerfGE 159, 40 - Wahlrechtsreform 2020 eA
BVerfGE 140, 99 - Zensusgesetz 2011
BVerfGE 122, 342 - Bayerisches Versammlungsgesetz
BVerfGE 121, 1 - Vorratsdatenspeicherung
BVerfGE 117, 126 - Hufbeschlaggesetz
BVerfGE 112, 284 - Kontostammdaten
BVerfGE 104, 51 - Lebenspartnerschaften
BVerfGE 82, 310 - Aschendorf
BVerfGE 56, 396 - Agent
BVerfGE 46, 160 - Schleyer
BVerfGE 34, 160 - Wahlsendung NPD
BVerfGE 34, 81 - Wahlgleichheit
BVerfGE 7, 367 - Volksbefragung
BVerfGE 6, 376 - Wahlrechtsbeschwerde


Zitiert selbst:
BVerfGE 1, 14 - Südweststaat


I.
II.
III.
Bearbeitung, zuletzt am 08.12.2022, durch: A. Tschentscher, Djamila Strößner
 
BVerfGE 3, 41 (41)Beschluß
 
des Ersten Senats vom 11. November 1953
 
-- 1 BvR 444/53 --  
in dem Verfahren über die Verfassungsbeschwerden 1. des Kreises Saulgau (Baden-Württemberg), 2. des Kreises Ravensburg (Baden-Württemberg), 3. des Kreises Ehingen/Donau (Baden-Württemberg), 4. des Kreises Wangen/Allgäu (Baden-Württemberg),5. Des Kreises Tettnang (Baden-Württemberg), 6. des Kreises Tuttlingen (Baden-Württemberg), 7. des Kreises Hechingen (Baden-Württemberg), 8. der Stadt Tuttlingen (Baden-Württemberg), 9. der Stadträte der Stadt Tuttlingen (Baden-Württemberg)
gegen Art. 29 des bad.-württembergischen Gesetzes zur vorläufigen Angleichung des Kommunalrechts (GAK) vom 13. Juli 1953 (Gesetzblatt für Baden-Württemberg S. 97).
 
Entscheidungsformel:
 
Der Antrag, eine einstweilige Anordnung zu erlassen, wird abgelehnt.BVerfGE 3, 41 (41)
 
 
BVerfGE 3, 41 (42)Gründe:
 
I.
 
Die Antragsteller haben Verfassungsbeschwerde gegen Art. 29 des badisch-württembergischen Gesetzes zur vorläufigen Angleichung des Kommunalrechts (GAK) vom 13. Juli 1953 (GBl. S. 97) erhoben.
Diese Bestimmung lautet:
    "(1) Die nächsten regelmäßigen Wahlen zu den Gemeinderäten und zu den Kreistagen im Regierungsbezirk Südwürttemberg-Hohenzollern finden im November 1953 statt. Das Innenministerium bestimmt den Wahltag.
    (2) Die Amtszeit der nach bisherigem Recht Ende 1954 ausscheidenden Hälfte der Mitglieder des Gemeinderats endet mit dem 30. November 1953, diejenige der anderen Hälfte mit dem 30. November 1956.
    (3) Die Amtszeit der zur Zeit im Amt befindlichen Mitglieder der Kreistage endet mit dem 30. November 1953."
Durch diese Regelung ist die Amtszeit der Mitglieder der Gemeinderäte und die Amtszeit der Mitglieder der Kreistage im Regierungsbezirk Südwürttemberg-Hohenzollern je um ein Jahr verkürzt worden.
Das Innenministerium des Landes Baden-Württemberg hat auf Grund der Ermächtigung als Wahltag den 15. November 1953 bestimmt (Bekanntmachung vom 17. August 1953, Staatsanzeiger für Baden- Württemberg Nr. 69 vom 5. September 1953, S. 2).
Die Antragsteller zu 1) bis 8) erblicken in Art. 29 GAK eine Verletzung des in Art. 28 GG gewährleisteten Rechts der Selbstverwaltung der Gemeinden, die Antragsteller zu 9 a) bis u) einen Verstoß gegen die durch Art. 20 und 28 GG geschützte demokratische Grundordnung und eine Verletzung der in Art. 33 GG niedergelegten Rechte der Beamten.
Sie haben deshalb Verfassungsbeschwerde erhoben und gleichzeitig beantragt, im Wege einer einstweiligen Anordnung nach § 32 BVerfGG den Vollzug des Art. 29 GAK vorläufig auszusetzen.BVerfGE 3, 41 (42)
BVerfGE 3, 41 (43)Sie begründen ihren Antrag vornehmlich damit, daß die nicht unerheblichen Kosten für die Vorbereitung und die Durchführung der Wahl nutzlos vertan würden, falls Art. 29 GAK für nichtig erklärt werde. Außerdem würden sich nach der Wahl jeweils zwei Gemeinde- bzw. Kreisparlamente als rechtmäßig gewählt ansehen und Beschlüsse fassen, über deren Gültigkeit neue Zweifel und Streitigkeiten entstünden. Hierdurch würde dem Ansehen des Staates und dem demokratischen Gedanken ein schwerer Schaden zugefügt. Die Antragsteller halten den Erlaß einer einstweiligen Anordnung aus diesen Gründen zum gemeinen Wohl für dringend geboten.
Das Bundesverfassungsgericht hat der Verfassunggebenden Landesversammlung von Baden-Württemberg, der vorläufigen Regierung des Landes Baden-Württemberg und dem Gemeindetag Württemberg-Hohenzollern Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben.
Lediglich die vorläufige Regierung des Landes Baden-Württemberg hat sich geäußert. Sie hält den Antrag auf Erlaß einer einstweiligen Anordnung für unzulässig und unbegründet.
 
Der Antrag auf Erlaß einer einstweiligen Anordnung ist zulässig.
Auch im Verfahren über eine Verfassungsbeschwerde kann eine einstweilige Anordnung ergehen (BVerfGE 1, 74 [75] und 281 [282]). Sie ist hier auch nicht deshalb unzulässig, weil sie die Entscheidung in der Hauptsache vorwegnähme. Auch wenn die Anordnung erlassen wird, ist damit noch nicht über die Vereinbarkeit des Art. 29 GAK mit dem Grundgesetz entschieden. Die einstweilige Anordnung hätte zwar zur Folge, daß am 15. November 1953 nicht in allen Teilen des Landes Baden- Württemberg Kommunalwahlen stattfinden könnten. Das würde aber nur dazu führen, daß für den Regierungsbezirk Südwürttemberg-Hohenzollern ein neuer Wahltermin bestimmt werden müßte. Die beantragte einstweilige Anordnung würde damit der EntBVerfGE 3, 41 (43)BVerfGE 3, 41 (44)scheidung über die Verfassungsmäßigkeit des Art. 29 GAK nicht vorgreifen.
 
Das Bundesverfassungsgericht hat sich nicht davon überzeugen können, daß die Voraussetzungen des § 32 BVerfGG vorliegen. Eine einstweilige Anordnung kann nach dieser Vorschrift ergehen, wenn sie zur Abwehr schwerer Nachteile oder aus einem anderen wichtigen Grund zum gemeinen Wohl dringend geboten ist.
Die meist weittragenden Folgen, die eine einstweilige Anordnung in einem verfassungsgerichtlichen Verfahren auslöst, machen es notwendig, daß bei der Prüfung, ob diese Voraussetzungen vorliegen, ein strenger Maßstab anzulegen ist. Insbesondere gilt dies, wenn -- wie hier -- die Aussetzung des Vollzuges eines Gesetzes begehrt wird.
Bei der Prüfung hat das Bundesverfassungsgericht die Folgen in Betracht gezogen, die eintreten würden, wenn der Erlaß der einstweiligen Anordnung unterbliebe und Art. 29 GAK dennoch im späteren Verfahren für nichtig erklärt werden würde. Würden diese Folgen dem gemeinen Wohl schwere Nachteile zufügen, so wäre der Erlaß der einstweiligen Anordnung geboten. So liegt es hier aber nicht. Wenn nämlich, diesen Fall vorausgesetzt, die Wahl vom 15. November 1953 für nichtig erklärt würde, so würden die gewählten Vertreter ihre Mandate verlieren; die neu gewählten Gemeinderäte und Kreistage wären damit aufgelöst; an ihre Stelle würden wieder die alten Körperschaften treten. Die Gefahr, daß sich in der Zwischenzeit zwei Parlamente als rechtmäßig gewählt ansehen, wäre nicht gegeben: denn bis zur Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts könnte sich niemand auf die Nichtigkeit des Art. 29 GAK berufen. Auch die Rechtsgültigkeit der in der Zwischenzeit gefaßten Beschlüsse der aufgelösten Körperschaften würde nicht ernstlich in Frage gestellt werden können. Das Bundesverfassungsgericht hat unter Hinweis auf das Bedürfnis nach Rechtssicherheit und Rechtsklarheit bereits entschieden, daß auch Handlungen eines rechtlichBVerfGE 3, 41 (44) BVerfGE 3, 41 (45)nicht mehr existierenden Landtages rechtsbeständig und verbindlich bleiben (vgl. BVerfGE 1, 14 [38]). Dies muß auch für Handlungen eines Gemeinderates und Kreistages gelten, die in ihrer Bedeutung nicht an die Gesetzgebungsakte eines Landtages heranreichen. Aus diesen Gründen würde im Falle einer späteren Feststellung der Nichtigkeit des Art. 29 GAK der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts ohne Schädigung des gemeinen Wohls entsprochen werden können.
Die Kosten der Vorbereitung für die am 15. November 1953 stattfindende Wahl wären bei Nichtigkeit des Art. 29 GAK in jedem Fall nutzlos ausgegeben, sei es nun, daß das Bundesverfassungsgericht die beantragte einstweilige Anordnung erläßt oder nicht, da die Wahl unmittelbar bevorsteht und die Vorbereitungen abgeschlossen sind.
Es liegen mithin keine Gründe vor, die zur Abwehr schwerer Nachteile oder aus einem anderen wichtigen Grund zum gemeinen Wohl den Erlaß einer einstweiligen Anordnung dringend geboten erscheinen lassen.
Der Antrag ist daher abzulehnen.BVerfGE 3, 41 (45)