Beschluß | |
des Zweiten Senats vom 25. Februar 1964
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-- 2 BvR 411/61 -- | |
in dem Verfahren über die Verfassungsbeschwerde des Landessozialgerichtsrats ..., Bevollmächtigte: Rechtsanwälte ..., gegen die Geschäftsverteilungspläne des Landessozialgerichts S. für die Jahre 1961, 1962 und 1963.
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Entscheidungsformel: | |
Die Geschäftsverteilungspläne des Landessozialgerichts S. für die Jahre 1962 und 1963 haben insofern Artikel 97 Absatz 2 Satz 1 des Grundgesetzes verletzt, als sie den Beschwerdeführer von der Mitwirkung an der Rechtsprechung des Gerichts ausgeschlossen haben. ![]() | |
A. -- I. | |
Der Beschwerdeführer hat 1923 in Köln die erste juristische Staatsprüfung und 1927 die große juristische Staatsprüfung abgelegt. Er war dann Gerichtsassessor, seit 1. August 1936 Amtsgerichtsrat in V. und seit 1. Januar 1949 Amtsgerichtsrat in S.; dort war er in verschiedenen Abteilungen, zuletzt als Vorsitzender des Schöffengerichts tätig. Mit Wirkung vom 16. April 1959 wurde er zum Landessozialgerichtsrat am Landessozialgericht S. ernannt und in eine Planstelle bei diesem Gericht eingewiesen. Er trat alsbald dort seinen Dienst an.
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Das Verhältnis zwischen dem Beschwerdeführer und dem Präsidenten des Landessozialgerichts, den Senatspräsidenten und den Kollegen war von Anfang anteilweise schwierig. Er galt als eigensinniger und uneinsichtiger Richter. Mehrere Senatsvorsitzende wehrten sich Ende 1959 bei der jährlichen Geschäftsverteilung dagegen, daß der Beschwerdeführer ihrem Senat zugeteilt werde. Von Anfang 1960 an war er dem vom Präsidenten des Landessozialgerichts geführten Dritten Senat zugeteilt, dessen Zuständigkeit durch Beschluß des Präsidiums vom 2. Mai 1960 im Wege einer Änderung des Geschäftsverteilungsplans erheblich eingeschränkt wurde. Der zweite Beisitzer dieses Senats wurde mit seiner vollen Arbeitskraft gleichzeitig als ordentliches Mitglied eines anderen Senats bestimmt, während der Beschwerdeführer nur als Vertreter eines ordentlichen Mitglieds eines anderen Senats vorgesehen wurde. Diese Regelung wurde auch in den Geschäftsverteilungsplänen für 1961, 1962 und 1963 aufrechterhalten. In den drei Jahren hat der Beschwerdeführer nach Auskunft des Präsidenten des Landessozialgerichts nur an 36 Verfahren mitgewirkt, darunter nur in einer Sache als Berichterstatter. Von den 36 Verfahren wurden 25 in dem Termin, an dem er mitwirkte, ohne Entscheidung vertagt oder auf andere Weise als durch eine Entscheidung erledigt.
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Der Beschwerdeführer hat sich, seitdem er durch den Beschluß des Präsidiums vom 2. Mai 1960 praktisch beschäftigungslos ge ![]() ![]() | |
Aus Ihrem Schreiben habe ich entnommen, daß Sie Ihre schriftliche Zustimmung verweigern. Da Sie bei einer schriftlichen Abstimmung durch Umlauf ebensowenig verpflichtet sind, Ihre Zustimmung abzugeben, wie bei einer Sitzung des Präsidiums, Sie aber zur Abgabe Ihrer Stimme aufgefordert worden sind, ist der Präsidialbeschluß rechtmäßig zustande gekommen (Schorn: Die Präsidialverfassung S. 118; BGH in NJW 1959, 1094).
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Sich mit Ihnen darüber in weitere rechtliche Auseinandersetzungen einzulassen, halte ich für zwecklos. Ich folge insoweit den Mahnungen des Herrn Arbeitsministers und seines Vertreters, die übereinstimmend mit der Mehrheit des Präsidiums der Auffassung sind, daß Ihnen zum Richter an einem Obergericht jegliche Qualifikation fehlt und daß es unnötige Kraft- und Zeitverschwendung ist, mit Ihnen juristische Fragen zu erörtern. Nach Ihren Eingaben und Ihrem Verhalten scheinen Sie trotz dem allem, was ich Ihnen bereits mündlich erklärt habe, immer noch nicht begriffen zu haben, daß Ihre Ernennung zum Landessozialgerichtsrat auf einem Irrtum über Ihre Qualifikation beruht, dem das Arbeitsministerium bedauerlicherweise zum Opfer gefallen ist und den vor Ihrer Ernennung aufzuklären sich das Justizministerium wohlweislich gehütet hat. Sie haben die Gründe, weshalb Sie eine mündliche Abstimmung für zweckmäßig halten, nicht angegeben. Sollten Sie deshalb eine münd ![]() ![]() | |
Als im Dezember 1960 die Geschäftsverteilung für 1961 beschlossen wurde, stimmte der Beschwerdeführer dagegen. Am 5. September 1961 beantragte er dann schriftlich die Änderung der Geschäftsverteilung, weil sie, soweit sie seine Person betreffe, gesetzwidrig sei. Das Präsidium lehnte diesen Antrag mit Beschluß vom 3. Oktober 1961 ab.
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II.
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Mit der Verfassungsbeschwerde vom 30. Oktober 1961 hat sich der Beschwerdeführer zunächst gegen den Beschluß des Präsidiums vom 3. Oktober 1961 und gegen die Geschäftsverteilung des Jahres 1961 gewendet, später hat er seine Beschwerde auf die Geschäftsverteilung für die Jahre 1962 und 1963 ausgedehnt. Hinsichtlich des Geschäftsverteilungsplans für 1961 bemängelte er zuerst, daß er nicht ordnungsgemäß zustande kam, weil er, obwohl Mitglied des Präsidiums, keine Gelegenheit erhielt, mitzuberaten und darüber mitzubestimmen. Außerdem machte er gegen den Beschluß vom 3. Oktober 1961 ebenso wie gegen die drei Geschäftsverteilungspläne für 1961, 1962 und 1963 geltend, daß das Präsidium ihn mit unberechtigten Vorwürfen bedacht, ihn willkürlich von der Mitwirkung bei der Rechtsprechung ausgeschlossen und ihn durch diese Behandlung in seiner Menschenwürde verletzt habe. Die Geschäftsverteilungspläne des Präsidiums verletzten deshalb seine Grundrechte aus Art. 1, 2, 3,101 Abs. 1 Satz 2 und Art. 103 GG sowie seine richterliche Unabhängigkeit. ![]() | |
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Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig.
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1. Die Rechtsnatur des Geschäftsverteilungsplans, den die Gerichte jährlich aufzustellen haben, ist umstritten. Einigkeit besteht darüber, daß er keine Maßnahme der Justizverwaltung ist, sondern vom Präsidium des Gerichts in richterlicher Unabhängigkeit beschlossen wird. Im allgemeinen wird er als ein "Akt der gerichtlichen Selbstverwaltung" oder als "justizförmlicher Verwaltungsakt" bezeichnet; inhaltlich wird ihm teils ein normativer ![]() ![]() | |
2. Die Verfassungsbeschwerde ist rechtzeitig erhoben. Das steht außer Zweifel, soweit sie sich gegen die Geschäftsverteilungspläne für die Jahre 1962 und 1963 wendet. Die Beschlüsse über diese beiden Geschäftsverteilungspläne stellen, auch wenn sie in ![]() ![]() | |
3. Der Beschwerdeführer rügt die Verletzung der Art. 1, 2 und 3 GG, also die Verletzung von Grundrechtsbestimmungen, die nach § 90 Abs. 1 BVerfGG mit der Verfassungsbeschwerde angegriffen werden kann. Er trägt dazu einen Sachverhalt vor, nach dem es jedenfalls möglich ist, daß er durch die Geschäftsverteilung in seinen Rechten auf Achtung seiner Menschenwürde, auf freie Entfaltung seiner Persönlichkeit im gewählten Beruf und auf Gleichbehandlung verletzt sein kann. Damit ist die Verfassungsbeschwerde zulässig. Es bedarf nicht der Entscheidung, ob er auch geltend machen kann, daß er in seinem Recht aus Art. 33 Abs. 5, aus Art. 101 oder aus Art. 103 GG verletzt worden ist. Das Bundesverfassungsgericht kann, nachdem die Verfassungsbeschwerde unter den vorgenannten Gesichtspunkten zulässig ist, die Verletzung dieser Vorschriften des Grundgesetzes durch die Geschäftsverteilung von Amts wegen nachprüfen (vgl. BVerfGE 6, 376 [385]; 9, 83 [86 ff.]). ![]() | |
Die Verfassungsbeschwerde ist begründet.
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1. Der Beschwerdeführer ist mit Wirkung vom 16. April 1959 an zum Landessozialgerichtsrat auf Lebenszeit ernannt und in eine Planstelle beim Landessozialgericht Saarbrücken eingewiesen worden. Damit genießt er die persönliche Unabhängigkeit nach Art. 97 Abs. 2 Satz 1 GG. Das bedeutet: Er kann aus seinem richterlichen Amt gegen seinen Willen nur kraft richterlicher Entscheidung entfernt werden, die in einem im Gesetz vorgeschriebenen Verfahren ergangen ist und auf Gründen beruht, die das Gesetz bestimmt.
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Art. 97 Abs. 2 Satz 1 GG spricht von Entlassung aus dem Amt, von dauernder oder zeitweiser Amtsenthebung und Versetzung an eine andere Stelle oder Versetzung in den Ruhestand, verwendet also Begriffe des Rechts des öffentlichen Dienstes. Das kann aber nach dem Zweck der Vorschrift nicht heißen, daß sie nur gegen förmliche Maßnahmen schützt, die sich ausdrücklich als Entlassung, Amtsenthebung oder Versetzung durch den Dienstvorgesetzten nach dem Recht des öffentlichen Dienstes darstellen. Vielmehr wird jede Maßnahme, die materiell einer Entlassung, einer dauernden oder zeitweisen Amtsenthebung oder einer Versetzung in den Ruhestand gleichkommt, durch die also praktisch dasselbe wie durch eine der genannten förmlichen Maßnahmen erreicht wird, von Art. 97 Abs. 2 Satz 1 GG erfaßt; andernfalls könnte die persönliche Unabhängigkeit des Richters ausgehöhlt und der Schutz, den Art. 97 Abs. 2 Satz 1 GG gewähren will, beseitigt werden. Anders ausgedrückt: Wenn schon die förmlichen Maßnahmen einer Entlassung, Amtsenthebung oder Versetzung im Interesse der richterlichen Unabhängigkeit nur auf Grund eines gesetzlich vorgeschriebenen Verfahrens und aus im Gesetz bestimmten Gründen durch den Spruch eines Gerichts verfügt werden können, dann verbietet Art. 97 Abs. 2 Satz 1 GG auch jede andere Maßnahme, durch die der Richter von seiner richterlichen Tätigkeit ausgeschlossen wird. Aus diesen Überlegungen ![]() ![]() | |
Das Präsidium eines Gerichts darf bei der Aufstellung des Geschäftsverteilungsplans neben anderen sachgerechten Gesichtspunkten gewiß auch die größere oder geringere Leistungsfähigkeit des Richters berücksichtigen, die auf seine gesundheitlichen Verhältnisse, seine spezifische Sachkunde, sein größeres oder geringeres Geschick bei der Bearbeitung einer Sache, seine größere oder geringere Erfahrung, seine größere oder geringere Beherrschung des Rechtsstoffs zurückzuführen ist. Es steht ihm aber nicht zu, einen planmäßig bei einem Gericht ernannten Richter als für die Rechtsprechung dieses Gerichts untragbar, völlig ungeeignet oder unzumutbar zu qualifizieren und aus diesem Grund von der Rechtsprechung fernzuhalten (vgl. Schorn, DRiZ 1962,187; Walter, ÖJZ 1964, 95). Erweist sich ein planmäßig auf Lebenszeit ernannter und in eine Planstelle des Gerichts eingewiesener Richter als für seine Aufgabe ungeeignet, so muß ihn, falls er nicht mit einer anderweiten Verwendung einverstanden und solange er nicht in den vom Gesetz geforderten Formen versetzt ist, das Gericht ertragen; es ist weder zulässig, eine Zusammenarbeit mit ihm abzulehnen noch ihn auszuschalten. Gegen ihn kann nur, wenn die gesetzlichen Voraussetzungen dafür gegeben sind, im Wege eines richterlichen Disziplinarverfahrens oder im Verfahren nach §§ 62, 78 DRiG vorgegangen werden.
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2. Der Beschwerdeführer ist in den von ihm angegriffenen Geschäftsverteilungsplänen des Landessozialgerichts S. für die Jahre 1962 und 1963 dem Dritten Senat zugeteilt worden. Vorsitzender dieses Senats ist der Präsident des Gerichts. Der Senat war von April 1959 bis Mai 1960 unter anderem zuständig für einen Teil der "Angelegenheiten der Kriegsopferversorgung". Seit der in Abwesenheit des Beschwerdeführers am 2. Mai 1960 ![]() ![]() | |
Das Ergebnis dieser Regelung war, daß nach Auskunft des Präsidenten des Landessozialgerichts der Beschwerdeführer in der Zeit vom 1. Januar 1961 bis zum 31. Dezember 1963 nur in insgesamt 36 Sachen als Beisitzer mitgewirkt hat. Davon war er in einer Sache Berichterstatter und in 35 Sachen als Beisitzer ohne Votum tätig. Von den 36 Sachen wurden 11 durch Urteil oder Beschluß entschieden, 25 Sachen endeten durch Vergleich, Rücknahme oder Vertagung. Es kann dahinstehen, wie viele Urteile und wie viele einfache Formularbeschlüsse unter den 11 Entscheidungen waren, an denen der Beschwerdeführer beteiligt war. Die Mitwirkung des Beschwerdeführers an der Rechtsprechung des Gerichts war jedenfalls so gering, daß praktisch von einer recht ![]() ![]() | |
Das war auch so gewollt; im Brief des Präsidenten vom 26. Oktober 1960 an den Beschwerdeführer heißt es u. a. wörtlich, "daß Sie ... praktisch von jeder richterlichen Tätigkeit fernzuhalten sind".
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Das Präsidium des Gerichts hat mit dieser Maßnahme gegen die Garantie der persönlichen Unabhängigkeit des Richters verstoßen. Es hat den Beschwerdeführer im Widerspruch zu Art. 97 Abs. 2 Satz 1 GG aus seinem Amt verdrängt, indem es ihn von der Ausübung seines Amtes praktisch ausgeschlossen hat. Die Geschäftsverteilungspläne für die Jahre 1962 und 1963 hatten für den Beschwerdeführer dieselbe Wirkung wie eine förmliche Amtsenthebung. Insofern sie die richterliche Unabhängigkeit des Beschwerdeführers beeinträchtigten, haben sie Art. 97 Abs. 2 Satz 1 GG verletzt.
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