Verordnungen des Rates und der Kommission der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (Art. 189 Abs. 2 EWGV) können mit der Verfassungsbeschwerde nicht unmittelbar angegriffen werden.
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Beschluß
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Des Ersten Senats vom 18. Oktober 1967
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- 1 BvR 248/63 und 216/67 -
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Entscheidungsformel:
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Die Verfassungsbeschwerden werden verworfen.
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Gründe
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I.
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Die Beschwerdeführerinnen, deutsche Handelsfirmen, wenden sich mit den Verfassungsbeschwerden unmittelbar gegen Verordnungen des Rates und der Kommission der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG), nämlich gegen
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Sie fühlen sich durch die Verordnungen gegenwärtig und unmittelbar in ihren Grundrechten aus Art. 2 Abs. 1, Art. 3 Abs. 1, Art. 12 Abs. 1 und Art. 14 GG beeinträchtigt; außerdem rügen sie die Verletzung anderer, zum Teil ungeschriebener Verfassungsprinzipien sowie gewisser Normen des europäischen Rechts.
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Zur Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerden führen sie aus, die gesetzgeberischen Maßnahmen der Organe der EWG müßten als Akte der deutschen öffentlichen Gewalt angesehen werden, da diese Organe ihre Gesetzgebungszuständigkeit aus Art. 24 Abs. 1 herleiteten. Ein anderer Rechtsweg als der zum Bundesverfassungsgericht bestehe gegen solche Verordnungen nicht; namentlich könnten sie von den Beschwerdeführerinnen nicht unmittelbar durch eine Klage beim Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften angefochten werden.
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Die Bundesregierung hält die Verfassungsbeschwerden für unzulässig.
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II.
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Die Verfassungsbeschwerden sind unzulässig.
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1. Das Bundesverfassungsgericht kann auf Verfassungsbeschwerde nur Akte der "öffentlichen Gewalt" nachprüfen (§ 90 BVerfGG). Nach ständiger Rechtsprechung sind dies nur Akte der staatlichen, deutschen, an das Grundgesetz gebundenen öffentlichen Gewalt (BVerfGE 1, 10; 6, 15 [18]; 18, 385 [387 f.]; 22, 91).
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2. Verordnungen des Rates und der Kommission der EWG sind keine Akte der deutschen öffentlichen Gewalt.
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a) Die EWG ist durch den "Vertrag zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft" vom 25. März 1957 (EWGV) errichtet worden. Die gesetzgebenden Körperschaften des Bundes haben dem Vertrag durch das Gesetz vom 27. Juli 1957 - BGBl. II S. 753 - zugestimmt.
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Organe der EWG sind - neben der Versammlung und dem Gerichtshof - der Rat und die Kommission. Der Rat, der aus Regierungsvertretern der Mitgliedstaaten besteht, trifft die grundsätzlichen wirtschaftspolitischen Entscheidungen; er ist auch das eigentliche Rechtsetzungsorgan der Gemeinschaft. Die Kommission setzt sich aus unabhängigen Mitgliedern zusammen, die von den Mitgliedstaaten bestellt werden. Sie hat vor allem Verwaltungszuständigkeiten; im Rahmen ihrer Aufgabe, "das ordnungsgemäße Funktionieren und die Entwicklung des Gemeinsamen Marktes zu gewährleisten" (Art. 155 EWGV), besitzt sie aber auch wichtige Rechtsetzungsbefugnisse.
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b) Der Rat und die Kommission können nach näherer Maßgabe des Vertrages unter anderem Verordnungen erlassen. Diese haben allgemeine Geltung; sie sind in allen ihren Teilen verbindlich und gelten unmittelbar in jedem Mitgliedstaat (Art. 189 Abs. 1 und 2 EWGV).
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c) Die Verordnungen des Rates und der Kommission sind Akte einer besonderen, durch den Vertrag geschaffenen, von der Staats gewalt der Mitgliedstaaten deutlich geschiedenen "supranationalen" öffentlichen Gewalt. Die Organe der EWG üben Hoheitsrechte aus, deren sich die Mitgliedstaaten zugunsten der von ihnen gegründeten Gemeinschaft entäußert haben. Die Gemeinschaft ist selbst kein Staat, auch kein Bundesstaat. Sie ist eine im Prozeß fortschreitender Integration stehende Gemeinschaft eigener Art, eine "zwischenstaatliche Einrichtung" im Sinne des Art. 24 Abs. 1 GG, auf die die Bundesrepublik Deutschland - wie die übrigen Mitgliedstaaten - bestimmte Hoheitsrechte "übertragen" hat. Damit ist eine neue öffentliche Gewalt entstanden, die gegenüber der Staatsgewalt der einzelnen Mitgliedstaaten selbständig und unabhängig ist; ihre Akte brauchen daher von den Mitgliedstaaten weder bestätigt ("ratifiziert") zu werden noch können sie von ihnen aufgehoben werden. Der EWG-Vertrag stellt gewissermaßen die Verfassung dieser Gemeinschaft dar. Die von den Gemeinschaftsorganen im Rahmen ihrer vertragsgemäßen Kompetenzen erlassenen Rechtsvorschriften, das "sekundäre Gemeinschaftsrecht", bilden eine eigene Rechtsordnung, deren Normen weder Völkerrecht noch nationales Recht der Mitgliedstaaten sind. Das Gemeinschaftsrecht und das innerstaatliche Recht der Mitgliedstaaten sind "zwei selbständige, voneinander verschiedene Rechtsordnungen"; das vom EWG-Vertrag geschaffene Recht fließt aus einer "autonomen Rechtsquelle" (Sammlung der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften Bd. VIII S. 97 [110]; Bd. X S. 1251 [1270]).
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Innerhalb dieser Rechtsordnung besteht ein eigenes Rechtsschutzsystem. Der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften "sichert die Wahrung des Rechts bei der Auslegung und Anwendung" des EWG-Vertrages (Art. 164). Er überwacht insbesondere die Rechtmäßigkeit des Handelns des Rates und der Kommission (Art. 173). Er kann vom Rat, von der Kommission und von den einzelnen Mitgliedstaaten angerufen werden; aber auch jede natürliche oder juristische Person innerhalb der Gemeinschaft, die von einer Entscheidung der Gemeinschaftsorgane unmittelbar und individuell betroffen ist, kann vor dem Gerichts hof klagen (Art. 173 Abs. 2). Auch eine "Untätigkeitsklage" ist zulässig (Art. 175).
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d) Aus der Rechtsnatur der Gemeinschaft folgt, daß die von ihren Organen im Rahmen ihrer Zuständigkeit erlassenen hoheitlichen Akte, zu denen die Verordnungen nach Art. 189 Abs. 2 des Vertrages gehören, nicht Akte der deutschen öffentlichen Gewalt im Sinne des § 90 BVerfGG sind. Eine unmittelbar gegen solche Akte gerichtete Verfassungsbeschwerde ist daher nicht zulässig.
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3. Die Beschwerdeführerinnen meinen, als Akte deutscher öffentlicher Gewalt müßten auch rechtsetzende Maßnahmen angesehen werden, die von einem supranationalen Organ ausgehen, wenn dieses Organ seine Gesetzgebungszuständigkeit für den Bereich der Bundesrepublik Deutschland auf Art. 24 Abs. 1 GG stütze. Dem kann nicht gefolgt werden. Für die Zuständigkeit des Bundesverfassungsgerichts nach § 90 BVerfGG ist allein die formale Qualifikation des Organs entscheidend, das den angegriffenen Akt erlassen hat; ein Organ, das außerhalb des Gefüges der deutschen Staatsorganisation steht, übt keine deutsche öffentliche Gewalt aus. Ohne Bedeutung ist hierfür, daß die öffentliche Gewalt der EWG nur durch die Mitwirkung der deutschen Staatsgewalt entstehen konnte. Wollte man jede Art von supranationaler oder internationaler öffentlicher Gewalt, die auf dem Wege über Art. 24 Abs. 1 GG konstituiert worden ist, wegen dieser Mitwirkung der Bundesrepublik Deutschland als deutsche öffentliche Gewalt ansehen, so würde der für die Zuständigkeit des Bundesverfassungsgerichts nach der ständigen Rechtsprechung entscheidende Unterschied zwischen "deutscher" und "nicht-deutscher" öffentlicher Gewalt wieder verlorengehen, da keine supra- oder internationale Gewalt im Bereich der Bundesrepublik Deutschland ohne irgendeine Mitbeteiligung der deutschen Staatsgewalt tätig wird. Daß der internationale Charakter eines Organs durch die Mitwirkung der Staatsgewalt der Bundesrepublik Deutschland an seiner Errichtung nicht beseitigt wird, ist bereits in BVerfGE 6, 15 (18) - für das Oberste Rückerstattungsgericht - ausgesprochen.
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4. Die Beschwerdeführerinnen wollen die Zulässigkeit ihrer Verfassungsbeschwerden auch damit begründen, daß sie behaupten, es bestehe ein dringendes Bedürfnis für verfassungsgerichtlichen Rechtsschutz, weil die Möglichkeiten des Vorgehens gegen Verordnungen des Rates und der Kommission innerhalb der EWG nicht ausreichten, um einen hinlänglichen Schutz der Grundrechte der Angehörigen der Mitgliedstaaten gegenüber Rechtsetzungsakten der Gemeinschaft zu gewährleisten.
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Dieser Gedankengang ist schon aus grundsätzlichen Erwägungen abzulehnen. Die Zuständigkeit des Bundesverfassungsgerichts würde auch durch ein noch so dringendes rechtspolitisches Bedürfnis nicht erweitert werden können; sie ist im Grundgesetz und im Gesetz über das Bundesverfassungsgericht abschließend geregelt. Namentlich ginge es nicht an, das Rechtsschutzsystem der EWG, weil ihm bestimmte prozessuale Institute des deutschen Rechts fehlen, als unzulänglich anzusehen und es deshalb auf dem Weg über die deutsche Gerichtsbarkeit zu ergänzen oder zu verbessern. Das würde zu einer Verwischung der Grenzen zwischen nationaler und supranationaler Gerichtsbarkeit und zu ungleichmäßigem Rechtsschutz in den Mitgliedstaaten führen.
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Bei dieser Sachlage kann dahingestellt bleiben, ob die Beschwerdeführerinnen gegen deutsche Rechtsvorschriften desselben Inhalts unmittelbar Verfassungsbeschwerde erheben könnten oder ob, wie die Bundesregierung jedenfalls für die Verordnung 135 der Kommission annimmt, diese Möglichkeit deshalb entfiele, weil die Beschwerdeführerinnen von Vorschriften solcher Art nicht gegenwärtig und unmittelbar betroffen wären.
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III.
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Die Entscheidung beschränkt sich auf den Ausspruch, daß das Bundesverfassungsgericht nicht unmittelbar mit der Verfassungsbeschwerde gegen Verordnungen des Rates und der Kommission der EWG angerufen werden kann.
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Nicht entschieden ist damit, ob und in welchem Umfang das Bundesverfassungsgericht im Rahmen eines zulässigerweise bei ihm anhängig gemachten Verfahrens Gemeinschaftsrecht an den Grundrechtsnormen des Grundgesetzes messen kann - eine Frage, die ersichtlich von der Entscheidung der weitergreifenden Vorfrage abhängt, ob und in welchem Sinne von einer Bindung der Organe der EWG an die Grundrechtsordnung der Bundesrepublik Deutschland gesprochen werden kann oder - anders gewendet - ob und in welchem Maße die Bundesrepublik Deutschland bei der Übertragung von Hoheitsrechten nach Art. 24 Abs. 1 GG die Gemeinschaftsorgane von solcher Bindung freistellen konnte.
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Müller Stein Ritterspach Haager Rupp-v. Brünneck Böhmer Brox Zeidler
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