1. Art. 40 Abs. 1 Satz 2 GG, der die parlamentarische Geschäftsordnungsautonomie gewährleistet, knüpft an die historische Entwicklung des Parlamentsrechts - vor allem nach dem Übergang zur parlamentarischen Demokratie der Weimarer Republik - inhaltlich an. Danach werden diejenigen Regelungsgegenstände, die herkömmlich als autonome Geschäftsordnungsangelegenheiten des Parlaments gelten, prinzipiell auch vom Grundgesetz diesem Bereich zugewiesen.
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2. Art. 40 Abs. 1 Satz 2 GG gewährleistet die Befugnis des Bundestages, die Voraussetzungen seiner Beschlußfähigkeit in der Geschäftsordnung zu regeln.
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3. Das Prinzip der repräsentativen Demokratie erfordert grundsätzlich die Mitwirkung aller Abgeordneten bei der Willensbildung des Parlaments.
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4. Aus dem Prinzip der repräsentativen Demokratie folgt nicht, daß die Abgeordneten das Volk nur im Plenum des Bundestages repräsentieren könnten.
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5. Bei Schlußabstimmungen im Bundestag spricht für eine ausreichende Repräsentation des Volkes durch die Abgeordneten eine Vermutung.
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6. Die Regelung über die Beschlußfähigkeit in der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages § 49 in der Fassung vom 22. Mai 1970 steht mit dem Prinzip der repräsentativen Demokratie im Einklang.
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Beschluß | |
des Zweiten Senats vom 10. Mai 1977
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- 2 BvR 705/75 - | |
in dem Verfahren über die Verfassungsbeschwerde des Herrn Jürgen M..., - Bevollmächtigte: Rechtsanwälte Dr. Rolf Hinze, Hartmut Runkel, H.W. Schmidt, Klever Straße 80, Düsseldorf 30 - gegen a) das Urteil des Oberlandesgerichts Hamm vom 25. Juli 1975 - 1 Ss 324/75 -, b) das Urteil des Landgerichts Dortmund vom 15. Januar 1975 - 7 Ns 14/74 StA Dortmund -, c) das Urteil des Amtsgerichts Dortmund - 86 Cs 266/73 -.
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Die Verfassungsbeschwerde wird zurückgewiesen.
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Gründe: | |
A. | |
Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Frage, ob nach den Bestimmungen des Grundgesetzes das Zustandekommen eines Bundesgesetzes davon abhängt, daß bei der Schlußabstimmung über die Annahme oder Ablehnung des Gesetzentwurfs eine Mindestzahl von Mitgliedern des Bundestages im Sitzungssaal anwesend ist.
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I.
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Die Beschlußfähigkeit des Bundestages ist in § 49 der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages (im folgenden: GO) geregelt. Die Vorschrift lautet in der seit dem 22. Mai 1970 geltenden Fassung:
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(1) Der Bundestag ist beschlußfähig, wenn mehr als die Hälfte seiner Mitglieder im Sitzungssaal anwesend sind.
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(2) Wird vor Beginn einer Abstimmung die Beschlußfähigkeit von mindestens fünf anwesenden Mitgliedern des Bundestages bezweifelt und auch vom Sitzungsvorstand nicht einmütig bejaht, so ist in Verbindung mit der Abstimmung die Beschlußfähigkeit durch Zählung der Stimmen (§ 56) festzustellen. Der Präsident kann die Abstimmung auf kurze Zeit aussetzen.
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(3) Nach Feststellung der Beschlußunfähigkeit hebt der Präsident die Sitzung sofort auf, § 24 Abs. 5 findet Anwendung. Ein Verlangen auf namentliche Abstimmung bleibt dabei in Kraft. Stimmenthaltungen und ungültige Stimmen zählen bei der Feststellung der Beschlußfähigkeit mit.
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II.
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Der Entwurf eines Zweiten Bundeswaffengesetzes wurde im November 1970 vom Senat der Freien und Hansestadt Hamburg - zugleich im Auftrag der Länder Baden-Württemberg, Bremen, Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen - dem Bundesrat zugeleitet und von diesem - nach Beratung in den zuständigen Ausschüssen und Beschlußfassung im Plenum - als Entwurf eines Waffengesetzes im Oktober 1971 beim Bundestag eingebracht (BRDrucks. 658/70; Verhandlungen des Bundesrates, 360. Sitzung, StenBer. S. 295 f., und 369. Sitzung, StenBer. S. 212 ff.; BTDrucks VI/2678). Der Bundestag überwies den Entwurf in erster Beratung am 22. Oktober 1971 an den Innenausschuß und - zur Mitberatung - an den Ausschuß für Wirtschaft (Verhandlungen des Deutschen Bundestages, 6. Wp., 146. Sitzung, StenBer. S. 8 406 A).
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Der Innenausschuß gab 14 interessierten Verbänden Gelegenheit zur Stellungnahme. Nachdem deren Äußerungen eingegangen waren, bildete der Ausschuß eine aus fünf Ausschußmitgliedern (je zwei Angehörigen der SPD- und CDU-CSU- Fraktion und einem Mitglied der F.D.P.-Fraktion) bestehende Arbeitsgruppe "Waffengesetz". Diese beriet über den Entwurf in zwei ganztägigen Sitzungen, an denen auch Vertreter der Bundesregierung, mehrerer Landesregierungen und des Bundeskriminalamtes teilnahmen. Nachdem sich der Innenausschuß und der Ausschuß für Wirtschaft erneut mit dem Entwurf befaßt hatten, legte ersterer dem Bundestag im Juni 1972 seinen schriftlichen Bericht vor (BTDrucks. VI/3566).
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Der Bundestag verabschiedete das Waffengesetz (im folgenden: Waffengesetz 1972) am 22. Juni 1972 (Verhandlungen des Deutschen Bundestages, 6. Wp., 195. Sitzung, StenBer. S. 11 468 C). Dabei wurde der Entwurf ausweislich der Sitzungsniederschrift bei einer Gegenstimme und ohne Stimmenthaltungen angenommen. Die Niederschrift läßt nicht erkennen, wie viele Abgeordnete bei der Schlußabstimmung im Sitzungssaal zugegen gewesen sind. Sie enthält auch keine Angaben darüber, daß die Beschlußfähigkeit des Bundestages bezweifelt worden sei.
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III.
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Der Beschwerdeführer ist wegen fahrlässigen Führens einer Waffe ohne gültigen Waffenschein - begangen am 19. April 1973 - zu einer Geldstrafe verurteilt worden. Zugleich hat das Gericht gemäß § 56 Abs. 1 Nr. 1 Waffengesetz 1972 die Einziehung der Tatwaffe, einer Pistole, angeordnet. Die auf die Anordnung der Einziehung beschränkte Revision des Beschwerdeführers blieb erfolglos; das Oberlandesgericht Hamm verwarf sie durch Urteil vom 25. Juli 1975 als unbegründet. Dabei führte es u. a. aus, die Einziehung sei nicht aus Sicherungsgründen, sondern als Nebenstrafe angeordnet worden.
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IV.
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Gegen dieses Urteil und die ihm zugrunde liegende Einziehungsanordnung sowie mittelbar gegen § 56 Abs. 1 Nr. 1 Waffengesetz 1972 richtet sich die am 25. August 1975 eingegangene Verfassungsbeschwerde. Der Beschwerdeführer rügt Verletzung seines Grundrechts aus Art. 14 GG und trägt vor:
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Die Anordnung der Einziehung sei verfassungswidrig, weil das Waffengesetz 1972, auf dessen § 56 sie beruhe, nicht wirksam zustande gekommen sei. An der Schlußabstimmung über die Annahme oder Ablehnung des Gesetzentwurfs hätten seinerzeit nur 36 oder 37 Abgeordnete des Deutschen Bundestages teilgenommen. Das Prinzip der repräsentativen Demokratie verlange aber, daß - unbeschadet der Regelung des § 49 GO - bei solchen Schlußabstimmungen eine gewisse Mindestzahl von Abgeordneten im Parlament anwesend sei. Diese Grenze sei hier jedenfalls unterschritten gewesen.
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Für die Richtigkeit seiner Behauptung tritt der Beschwerdeführer Beweis an.
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1. Für die Bundesregierung hat sich der Bundesminister des Innern im wesentlichen wie folgt geäußert:
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Er halte die Verfassungsbeschwerde für unbegründet. Das Waffengesetz 1972 sei unter Beachtung der Bestimmungen der Geschäftsordnung rechtswirksam zustande gekommen.
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Die in § 49 GO im Rahmen der parlamentarischen Satzungsautonomie getroffene Regelung begegne keinen verfassungsrechtlichen Bedenken; sie verletze nicht das Prinzip der repräsentativen Demokratie.
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Zwar stelle sich die Volksvertretung, der Bundestag, als Verfassungsorgan im Plenum dar. Grundsätzlich werde nur das, was das Plenum beschließe, dem Bundestag als Organhandeln zugerechnet. Ein wesentlicher Teil des Willensbildungs- und Entscheidungsprozesses des Bundestages vollziehe sich jedoch nicht im Plenum, sondern in den Ausschüssen. Diese Arbeitsteilung sei im Interesse der Arbeitsfähigkeit des Parlaments notwendig. Diejenigen Abgeordneten, die keinem Ausschuß angehörten, seien gleichwohl mittelbar, nämlich über die Fraktionen, am Verfahren zur Vorbereitung der Plenarbeschlüsse beteiligt. Mithin habe jeder Abgeordnete die Möglichkeit, sich über ein anstehendes Gesetzesvorhaben zu informieren und über Detailfragen beraten zu lassen. Da er zudem über Sitzungstermine des Plenums und deren Tagesordnungen rechtzeitig unterrichtet werde, sei er jeweils in der Lage zu entscheiden, ob er seine Teilnahme an der dritten Lesung eines Gesetzes einschließlich der Beschlußfassung, bei der er im Hinblick auf seine Informationen und den Entscheidungsvorschlag des zuständigen Ausschusses mit Zufallsentscheidungen nicht mehr zu rechnen brauche, für notwendig halte. In dieser Entscheidung sei der Abgeordnete frei. Sehe er von einer Teilnahme an der Plenarsitzung ab, fehle er also bei der Abstimmung, so müsse er sich den Mehrheitsbeschluß zurechnen lassen. Eine mangelnde Präsenz von Abgeordneten im Plenum könne die Legitimität des Parlamentsbeschlusses nicht schwächen.
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2. Bundestag, Bundesrat und die Landesregierungen haben von der ihnen gebotenen Gelegenheit zur Stellungnahme keinen Gebrauch gemacht.
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Der Bundestag hat auf Anfrage mitgeteilt, es sei nicht festzustellen, wie viele Abgeordnete an der Schlußabstimmung über den Entwurf des Waffengesetzes 1972 teilgenommen hätten.
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Die zulässige Verfassungsbeschwerde ist nicht begründet. Die angegriffene Einziehungsanordnung verletzt den Beschwerdeführer weder in seinem Grundrecht aus Art. 14 GG, noch läuft sie dem Gebot des Art. 103 Abs. 2 GG zuwider.
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I.
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Weist das vom Bundestag bei der Verabschiedung eines Gesetzes eingeschlagene Verfahren einen Verstoß gegen zwingendes Verfassungsrecht auf und beruht der Gesetzesbeschluß auf diesem Verstoß, so entbehrt das Gesetz der Gültigkeit. Eine auf ein solches Gesetz gestützte richterliche Einziehungsanordnung verletzt, da es insoweit an einer Inhalt und Schranken des Eigentums bestimmenden und damit die angeordnete Maßnahme rechtfertigenden Norm fehlt, das Grundrecht des Betroffenen aus Art. 14 GG. Sie verstößt zudem, sofern sie Strafcharakter hat, gegen Art. 103 Abs. 2 GG; denn nach dieser Vorschrift kann eine strafgerichtliche Verurteilung nur aufgrund eines gültigen Strafgesetzes erfolgen (BVerfGE 14, 174 [185]; 25, 269 [285]).
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Das vom Bundestag im Falle des Waffengesetzes 1972 eingeschlagene Verfahren weist indessen keinen Verstoß gegen Verfassungsrecht auf. Das Waffengesetz 1972 ist rechtswirksam zustande gekommen.
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1. Im Grundgesetz selbst findet sich keine ausdrückliche Regelung der Frage, unter welchen Voraussetzungen der Bundestag beschlußfähig ist; dies ist vielmehr in der Geschäftsordnung geregelt. Nach § 49 Abs. 2 GO gilt der Bundestag ohne Rücksicht auf die Zahl seiner anwesenden Mitglieder als beschlußfähig, solange nicht seine Beschlußunfähigkeit in dem in jener Bestimmung vorgeschriebenen Verfahren festgestellt wird. Diese Regelung begegnet keinen verfassungsrechtlichen Bedenken.
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2. Der Bundestag gibt sich seine Geschäftsordnung im Rahmen seiner durch Art. 40 Abs. 1 Satz 2 GG gewährleisteten Geschäftsordnungsautonomie. Diese steht in engem sachlichen Zusammenhang mit dem verfassungsrechtlichen Status, den das Parlament als eines der obersten Verfassungsorgane im Verlauf der historischen Entwicklung des deutschen Parlamentsrechts - vor allem nach dem Übergang zur parlamentarischen Demokratie der Weimarer Republik - gewonnen hat. An diese Tradition knüpft Art. 40 Abs. 1 GG, wie auch die weitgehende Übereinstimmung seines Wortlauts mit den einschlägigen früheren Regelungen zeigt (vgl. etwa Art. 27 Satz 2 der Verfassung des Deutschen Reichs vom 16. April 1871 und Art. 26 der Weimarer Reichsverfassung vom 11. August 1919), inhaltlich an (s. a. Arndt, Parlamentarische Geschäftsordnungsautonomie und autonomes Parlamentsrecht, 1966, S. 46). Das bedeutet, daß diejenigen Regelungsgegenstände, die herkömmlich - insbesondere mit Rücksicht auf die Rechtslage z. Z. der Weimarer Reichsverfassung - als autonome Geschäftsordnungsangelegenheiten des Parlaments gelten, prinzipiell auch vom Grundgesetz diesem Bereich zugewiesen werden.
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Ein Regelungsgegenstand dieser Art ist die Beschlußfähigkeit des Bundestages. Das Recht des Parlaments, seine Geschäftsordnungsangelegenheiten autonom zu regeln, erstreckt sich traditionell auf die Bereiche "Geschäftsgang" und "Disziplin" (vgl. Art. 78 Abs. 1 Satz 2 der Verfassungsurkunde für den Preußischen Staat vom 31. Januar 1850 und Art. 27 Satz 2 der Verfassung des Deutschen Reichs vom 16. April 1871). Der Begriff "Geschäftsgang" bezeichnet "das Verfahren für die Abwicklung der Parlamentsgeschäfte" (BVerfGE 1, 144 [148]). Zu den dieses Verfahren regelnden Bestimmungen gehören die Vorschriften über die Beschlußfähigkeit des Parlaments. Die Weimarer Reichsverfassung erkannte dies ausdrücklich an, indem sie die Regelung der Beschlußfähigkeit des Reichstages der Geschäftsordnung überließ Art. 32 Abs. 2 WRV). Dies ist eine der Regelungen, an die Art. 40 Abs. 1 Satz 2 GG inhaltlich anknüpft. Er gewährleistet damit die Befugnis des Bundestages, die Voraussetzungen seiner Beschlußfähigkeit selbständig und unabhängig in der Geschäftsordnung zu bestimmen.
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3. Da die Geschäftsordnung des Bundestages der Verfassung im Range nachsteht (BVerfGE 1, 144 [148]), darf sich ihr Inhalt weder zu den ausdrücklichen Regelungen des Grundgesetzes noch zu den allgemeinen Verfassungsprinzipien und den der Verfassung immanenten Wertentscheidungen in Widerspruch setzen. Zu den Verfassungsgrundsätzen, die der Bundestag bei der Regelung seiner Geschäftsordnungsangelegenheiten zu beachten hat, gehört das Prinzip der repräsentativen Demokratie. Mit diesem Prinzip steht die Bestimmung über die Beschlußfähigkeit des Bundestages (§ 49 GO) im Einklang.
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a) Zwar geht nach Art. 20 Abs. 2 GG alle Staatsgewalt vom Volke aus; sie wird jedoch von diesem nicht unmittelbar, sondern durch besondere Organe ausgeübt, deren Amtswalter das Volk bei der Wahrnehmung ihrer Aufgaben im Rahmen der ihnen von der Verfassung zugewiesenen Kompetenzen repräsentieren.
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Im demokratisch-parlamentarischen System des Grundgesetzes vollzieht sich die Repräsentation des Volkes im Parlament durch die Abgeordneten. Bei der Bildung des staatlichen Willens im parlamentarischen Bereich ist das Volk nur dann angemessen repräsentiert, wenn das Parlament als Ganzes an dieser Willensbildung beteiligt ist. Auch wenn das Grundgesetz den einzelnen Abgeordneten als "Vertreter des ganzen Volkes" bezeichnet, so kann er dieses doch nur gemeinsam mit den anderen Parlamentsmitgliedern repräsentieren. Denn nicht der einzelne Abgeordnete, sondern das Parlament als Ganzes im Sinne der Gesamtheit seiner Mitglieder, als "besonderes Organ" (Art. 20 Abs. 2 GG), übt die vom Volk ausgehende Staatsgewalt aus.
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Das Prinzip der repräsentativen Demokratie wirkt auf das parlamentarische Entscheidungsverfahren ein, indem es grundsätzlich die Mitwirkung aller Abgeordneten bei der Willensbildung des Parlaments erfordert und bei der Schaffung der äußeren Bedingungen, unter denen die Parlamentsbeschlüsse zustande kommen, Berücksichtigung verlangt. Dabei ist allerdings zu bedenken, daß die allzu starre Anwendung dieses Prinzips auf die zu regelnden Tatbestände des politischen Lebens dessen Geist eher vertreiben als bewahren würde. Vor allem muß dem einzelnen Abgeordneten die Möglichkeit belassen werden, sich bestimmten Sachgebieten, denen sein Interesse gilt und für die er Sachverstand besitzt, besonders eingehend zu widmen und darüber die Beschäftigung mit anderen Themenkreisen, soweit dies vertretbar erscheint, hintanzustellen. Dies erfordert nicht nur die auch auf Arbeitsteilung gegründete Funktionstüchtigkeit des Parlaments, sondern vor allem das parlamentarische System selbst, für dessen Bestand das politische Engagement und der Sachverstand des einzelnen Abgeordneten unverzichtbar sind.
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b) Wird das Volk bei parlamentarischen Entscheidungen nur durch das Parlament als Ganzes, d. h. durch die Gesamtheit seiner Mitglieder, angemessen repräsentiert, so muß die Mitwirkung aller Abgeordneten bei derartigen Entscheidungen nach Möglichkeit und im Rahmen des im demokratisch-parlamentarischen System des Grundgesetzes Vertretbaren sichergestellt sein. Daraus folgt, daß eine Regelung geschaffen sein muß, die dem einzelnen Abgeordneten eine solche Mitwirkung in dem von der Sache her gebotenen Umfang ermöglicht. Ist das der Fall, so begegnet die Regelung über die Beschlußfähigkeit des Bundestages (§ 49 GO) unter dem Gesichtspunkt des Prinzips der repräsentativen Demokratie jedenfalls dann keinen Bedenken, wenn die tatsächlichen Verhältnisse, in die sie eingebettet ist, Anlaß zu der Erwartung bieten, der Abgeordnete werde im Regelfall von der Möglichkeit zur Mitarbeit auch Gebrauch machen.
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Die aus dem Gedanken der Repräsentation abzuleitende prinzipielle Forderung nach Mitwirkung aller Abgeordneten bei Entscheidungen des Parlaments bedeutet allerdings nicht, daß die Abgeordneten das Volk bei solchen Anlässen nur im P l e n u m des Bundestages repräsentieren könnten. Zwar würde das Verlangen nach Präsenz aller Abgeordneten im Plenum dem Geiste des Parlamentarismus und des Prinzips der Repräsentation am ehesten gerecht werden. Indessen darf nicht übersehen werden, daß ein wesentlicher Teil der Parlamentsarbeit traditionell außerhalb des Plenums geleistet wird. Dies beruht einerseits auf der seit Jahrzehnten zunehmenden Kompliziertheit der Lebensverhältnisse und dem damit verbundenen Zwang zur Arbeitsteilung, zum anderen auf der Tatsache, daß die Schwerfälligkeit des Plenums Detailarbeit naturgemäß nur in sehr beschränktem Umfang erlaubt. An diesen Realitäten geht das Grundgesetz nicht vorbei. Dabei ist jedoch vorausgesetzt, daß die endgültige Beschlußfassung über ein parlamentarisches Vorhaben dem Plenum vorbehalten bleibt, die Mitwirkung der Abgeordneten bei der Vorbereitung der Parlamentsbeschlüsse außerhalb des Plenums ihrer Art und ihrem Gewicht nach der Mitwirkung im Plenum im wesentlichen gleich zu erachten ist und der parlamentarische Entscheidungsprozeß institutionell in den Bereich des Parlaments eingefügt bleibt.
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c) Die vorhandene Regelung und die tatsächlichen Verhältnisse, denen sie zugeordnet ist, entsprechen den genannten Voraussetzungen. Dies bedarf keiner näheren Darlegung, soweit die alleinige Kompetenz des Plenums zur endgültigen Beschlußfassung über parlamentarische Vorhaben in Frage steht. Es gilt aber auch hinsichtlich der weiteren Erfordernisse.
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aa) Die Geschäftsordnung des Bundestages trägt dem faktischen Zwang zur Arbeitsteilung im parlamentarischen Bereich zunächst dadurch Rechnung, daß sie die Einrichtung von Ausschüssen vorsieht (§§ 60 ff. GO). In ihnen vollzieht sich ein wesentlicher Teil des Willensbildungs- und Entscheidungsprozesses des Bundestages. Ihre Aufgabe besteht regelmäßig darin, die Beschlüsse des Plenums vorzubereiten (vgl. § 60 GO). Die Empfehlungen der Ausschüsse sind zwar für das Plenum nicht verbindlich, formen dessen Entscheidungen aber doch der Sache nach vor. Damit kommt der Institution der Ausschüsse unter dem Gesichtspunkt der Repräsentation des Volkes durch das Parlament erhebliches Gewicht zu.
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bb) In diesen Zusammenhang gehört weiter die Regelung über die Fraktionen (§§ 10 ff. GO), ergänzt durch die Vorschriften ihrer Geschäftsordnungen. In den Vollversammlungen der Fraktionen und in ihren regelmäßig für alle Fraktionsmitglieder offenen Arbeitskreisen wird parallel zu den Beratungen der Bundestagsausschüsse jede Parlamentsvorlage erörtert. Die Fraktionen ermöglichen damit denjenigen Abgeordneten, die an der Parlamentstätigkeit außerhalb des Plenums sonst nicht unmittelbar beteiligt sein können, eine indirekte Mitarbeit. Deren Bedeutung für die jeweils vorzubereitende Entscheidung des Parlaments ist um so höher zu bewerten, als jede Fraktion in der Regel eine einheitliche Willensbildung anzustreben pflegt, wofür die gemeinsamen politischen Grundvorstellungen ihrer Mitglieder eine günstige Voraussetzung bilden. Damit erweist sich die vorbereitende Tätigkeit der Fraktionen ungeachtet der Tatsache, daß ihre Mitglieder bei der Abstimmung im Plenum an Fraktionsbeschlüsse rechtlich nicht gebunden sind, als ein tragendes Element der parlamentarischen Willensbildung. Ihre Arbeit erreicht grundsätzlich alle Abgeordneten des Parlaments und gibt ihnen Gelegenheit, ihre repräsentative Funktion außerhalb des Plenums zu erfüllen.
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cc) Der Grad des für die Abgeordneten bestehenden Anreizes, bei einer Schlußabstimmung im Plenum zu erscheinen, hängt wesentlich vom Umfang des Konsenses ab, der über das betreffende parlamentarische Vorhaben besteht. Ist dieses zwischen den Fraktionen kontrovers, so werden die Abgeordneten, die über Sitzungstermine des Plenums und deren Tagesordnungen unterrichtet werden (vgl. § 24 GO), schon deshalb so vollzählig wie möglich zugegen sein, weil sie eine Abstimmungsniederlage vermeiden wollen. Das gleiche gilt, wenn Meinungsverschiedenheiten innerhalb der Fraktionen bestehen und der Versuch einer gemeinschaftlichen Willensbildung gescheitert ist.
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Demgemäß wird in der Praxis regelmäßig nur dann mehr als die Hälfte der Abgeordneten einer Schlußabstimmung fernbleiben, wenn über den Inhalt der zu treffenden Entscheidung im wesentlichen Übereinstimmung besteht. Die Schlußabstimmung bildet in einem solchen Falle einen zwar rechtlich notwendigen, in seiner politischen Bedeutung jedoch geminderten letzten Teilakt der parlamentarischen Willensbildung, während die Entscheidung in Wirklichkeit bereits in den Ausschüssen und Fraktionen gefallen ist. Dies kann nicht ohne Auswirkung auf das Gewicht des Einflusses bleiben, der dem Prinzip der Repräsentation auf das Zustandekommen parlamentarischer Beschlüsse beizumessen ist. Repräsentation vollzieht sich im parlamentarischen Bereich vornehmlich dort, wo die Entscheidung fällt. Geschieht dies der Sache nach bereits in den Ausschüssen und Fraktionen des Parlaments, so wird damit auch die Repräsentation in diese Institutionen "vorverlagert". Das erscheint unbedenklich, solange der Entscheidungsprozeß institutionell in den Bereich des Parlaments eingefügt bleibt. Dies ist bisher nicht in Frage gestellt.
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dd) Die Mitwirkung des einzelnen Abgeordneten zumindest bei der Vorbereitung parlamentarischer Entscheidungen liegt im Interesse seiner Fraktion wie auch der Partei, der er angehört. Von seinem Engagement im parlamentarischen Bereich hängen das politische Ansehen und die politischen Wirkungsmöglichkeiten beider Institutionen maßgeblich ab. Sie werden daher bestrebt sein, den Abgeordneten nachdrücklich zu solcher Mitwirkung anzuhalten, und ihm, falls er es an der gebotenen Einsatzbereitschaft fehlen läßt, notfalls ihre politische Unterstützung entziehen. Damit entspricht eine möglichst intensive Beteiligung an der parlamentarischen Arbeit zugleich dem Interesse des einzelnen Abgeordneten.
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ee) Für das politische Schicksal des Abgeordneten ist der Grad seiner Informiertheit von entscheidender Bedeutung. Nur wenn er über die parlamentarischen Vorhaben so umfassend wie möglich unterrichtet ist und sich deshalb auf sie einstellen kann, vermag er seine politischen Wirkungsmöglichkeiten voll auszuschöpfen. Dies wird ihn im Regelfall veranlassen, sich mit jenen Vorhaben zu befassen, sich eine Meinung zu bilden und sich mit den Ansichten anderer Abgeordneter auseinanderzusetzen, kurz, an der Vorbereitung der zu treffenden parlamentarischen Entscheidung mitzuwirken.
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d) Dieses Gefüge von Regelungen und faktischen Zwängen, in das § 49 GO eingebettet ist, erweist sich damit als geeignet, im Rahmen des Möglichen und Vertretbaren die Mitwirkung aller Abgeordneten bei parlamentarischen Entscheidungen sicherzustellen. Es rechtfertigt die Annahme, daß im Regelfall jeder Abgeordnete mit jedem parlamentarischen Vorhaben befaßt wird, und gewährleistet, daß auch die Auffassungen der einer Schlußabstimmung im Plenum ferngebliebenen Mitglieder in die parlamentarische Willensbildung einfließen können. Die vorhandene Regelung trägt damit dem Prinzip der repräsentativen Demokratie hinreichend Rechnung. Sie bietet die Gewähr dafür, daß das Volk als Träger der Staatsgewalt beim Zustandekommen parlamentarischer Entscheidungen in der Regel auch dann angemessen repräsentiert ist, wenn bei der Schlußabstimmung im Plenum nur wenige Abgeordnete zugegen sind. Für eine ausreichende Repräsentation spricht in solchen Fällen eine Vermutung.
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e) Unter welchen Umständen diese Vermutung als widerlegt zu erachten ist, bedarf hier keiner abschließenden Entscheidung. Zu denken wäre an Fälle, in denen die Mehrheit der Abgeordneten aus tatsächlichen Gründen gehindert ist, bei einer Schlußabstimmung im Plenum zu erscheinen, nachdem eine umfassende Vorbereitung der zu treffenden Plenarentscheidung in den Ausschüssen und Fraktionen unterblieben ist oder in diesem Verfahrensabschnitt kein Konsens über das betreffende Vorhaben erzielt werden konnte. Bei der Beratung und Verabschiedung des Waffengesetzes 1972 sind indessen keinerlei Anhaltspunkte für das Vorliegen derartiger Umstände hervorgetreten. Die Entscheidung des Plenums ist gründlich vorbereitet worden; grundlegende Meinungsverschiedenheiten zwischen den Abgeordneten über das zu verabschiedende Vorhaben haben jedenfalls in der Schlußphase des Gesetzgebungsverfahrens nicht bestanden.
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4. § 49 GO läuft auch dem Gebot, parlamentarische Minderheiten zu schützen, nicht zuwider. Das Recht auf verfassungsmäßige Bildung und Ausübung einer Opposition (BVerfGE 2, 1 [13]) umfaßt den Anspruch der oppositionellen Minderheit, ihre eigenen politischen Ansichten im Plenum vorzutragen und die Vorstellungen der Mehrheit zu kritisieren. Dieses Recht wird durch § 49 GO offensichtlich nicht berührt.
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III.
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Hat mithin die genannte Regelung vor der Verfassung Bestand, so hat der Bundestag bei der Schlußabstimmung über das Waffengesetz 1972 nicht dadurch gegen das Prinzip der repräsentativen Demokratie oder sonstiges Verfassungsrecht verstoßen, daß er den Gesetzesbeschluß gefaßt hat, obwohl - nach der Darstellung des Beschwerdeführers - nur 36 oder 37 Abgeordnete im Sitzungssaal zugegen gewesen sind. Das Waffengesetz 1972 ist daher wirksam zustande gekommen. Die auf dieses Gesetz gestützte, vom Beschwerdeführer angegriffene Einziehungsanordnung verletzt nicht dessen Grundrecht aus Art. 14 GG; sie steht zudem mit Art. 103 Abs. 2 GG im Einklang. Einer Beweiserhebung über jene Behauptung des Beschwerdeführers bedarf es unter diesen Umständen nicht.Andere Gründe, aus denen die Anordnung verfassungsrechtlichen Bedenken begegnen könnte, liegen nicht vor.
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