Beschluß | |
des Zweiten Senats vom 9. März 1983 gemäß § 32 Abs. 1 BVerfGG
| |
– 2 BvR 315/83 – | |
in dem Verfahren über die Verfassungsbeschwerde des Herrn Sami S. Skaff – Bevollmächtigte: Rechtsanwälte Fritz Sauer und Joachim Ulrichs, Konrad-Adenauer-Straße 14, Frankfurt am Main – gegen den Beschluß des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main vom 4. Februar 1983 – 2 Ausl. 54/82 – hier: Antrag auf Erlaß einer einstweiligen Anordnung.
| |
Entscheidungsformel: | |
Gründe: | |
I.
| |
1. Der nach seinen Angaben am 5. Mai 1949 im Libanon geborene Beschwerdeführer ist kanadischer Staatsangehöriger. Er lebt in Stockholm.
| |
Aufgrund eines italienischen Ersuchens wurde er am 12. Oktober 1982 in Frankfurt am Main bei der Einreise festgenommen. Am 14. Oktober 1982 ordnete das Oberlandesgericht die vorläufige Auslieferungshaft an.
| |
Mit Schreiben vom 3. November 1982 ersuchte Italien förmlich um die Auslieferung des Beschwerdeführers zur Vollstreckung eines rechtskräftigen Urteils des Landgerichts Mailand vom 28. März 1979 in Verbindung mit einem Vollstreckungshaftbefehl der Staatsanwaltschaft Mailand vom 17. März 1982. In dem Urteil des Landgerichts Mailand war unter anderem ein "Samir Sami Skaff, weitere Personalien unbekannt, wohnhaft in Stockholm" wegen Einfuhr von Betäubungsmitteln (429 kg Roh-Haschisch aus dem Libanon; Tatzeit 13./14. Dezember 1977) zu einer Gefängnisstrafe von 8 Jahren und einer Geldstrafe von 10 Millionen Lire verurteilt worden; bereits in dem Urteil waren 2 Jahre Gefängnis und 2 Millionen Lire Geldstrafe erlassen worden. Aufgrund eines weiteren Erlasses war die Freiheitsstrafe auf 5 Jahre Gefängnis ermäßigt worden. Zur Vollstreckung dieser Freiheitsstrafe hatte die Staatsanwaltschaft Mailand am 17. März 1982 die Verhaftung des "Samir Sami Skaff, geboren am 5.5.49 in Ottawa, Kanada, wohnhaft in Mailand" angeordnet.
| |
Das Verfahren vor dem Landgericht Mailand war in Abwesenheit des Beschwerdeführers durchgeführt worden.
| |
Der Beschwerdeführer wurde am 13. und 20. Oktober sowie am 29. November 1982 vor dem Amtsgericht angehört. Er erklärte, sein Name sei Sami Skaff; er sei nicht mit der durch das Urteil des Landgerichts Mailand verurteilten Person identisch und zur Tatzeit auch nicht in Italien gewesen. Mit seiner Auslieferung erklärte er sich für nicht einverstanden.
| |
Am 18. November 1982 ordnete das Oberlandesgericht an, die vorläufige Auslieferungshaft solle als förmliche fortdauern. Außerdem setzte es den italienischen Behörden zum Nachweis der Identität des Verfolgten eine Frist bis zum 20. Dezember 1982. In den Gründen dieses Beschlusses führte es aus, im Hinblick auf Unstimmigkeiten bei den Personalien des Verfolgten sei es erforderlich, daß die italienischen Behörden dem Oberlandesgericht eine einwandfreie Überprüfung der Identität des Verfolgten ermöglichten; zudem werde bei der Entscheidung über die Zulässigkeit der Auslieferung zu berücksichtigen sein, ob und in welcher Weise dem in Abwesenheit Verurteilten nachträglich rechtliches Gehör in Italien gewährt werde.
| |
Die italienischen Behörden wiesen in der Folgezeit zunächst lediglich darauf hin, nach Überprüfung der von den deutschen Behörden übersandten erkennungsdienstlichen Unterlagen sei davon auszugehen, daß der Beschwerdeführer unter dem Namen "Sami Skaff" schon einmal in Frankreich und in Kanada erkennungsdienstlich behandelt worden sei.
| |
Mit Beschluß vom 20. Dezember 1982 ordnete das Oberlandesgericht die Fortdauer der Auslieferungshaft an, da in Kürze mit dem Eingang der zur Identifizierung des Verfolgten erforderlichen Unterlagen zu rechnen sei.
| |
Schließlich übersandten die italienischen Behörden eine Reihe weiterer Unterlagen und erkennungsdienstliches Material. Nach Überprüfung dieser Unterlagen unter Hinzuziehung des Bundeskriminalamts legte am 21. Januar 1983 der Staatsanwalt beim Oberlandesgericht die Akten dem Oberlandesgericht mit dem Antrag vor, die Auslieferung für zulässig zu erklären. Zur Begründung führte er aus: Die Identität des Verfolgten stehe nunmehr zweifelsfrei fest. Bedenken hinsichtlich des Umstandes, daß der Beschwerdeführer in Abwesenheit verurteilt worden sei, könnten im Hinblick darauf nicht durchgreifen, daß der Beschwerdeführer nach italienischem Strafprozeßrecht die Möglichkeit habe, die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu erwirken und Rechtsmittel gegen das Abwesenheitsurteil einzulegen.
| |
Der Beschwerdeführer, vertreten durch mehrere Bevollmächtigte, machte demgegenüber – wie schon zuvor – geltend, die Identität der vom Landgericht Mailand verurteilten Person sei nicht sicher festgestellt; eine derartige Feststellung sei auch nachträglich nicht mehr möglich. Außerdem stellte er in Abrede, daß er die Möglichkeit habe, in Italien nachträglich rechtliches Gehör zu erlangen. Er vertrat die Auffassung, seine Auslieferung zur Vollstreckung des Abwesenheitsurteils sei mit verfassungsrechtlichen Grundsätzen der deutschen öffentlichen Ordnung nicht vereinbar, denn das in Italien durchgeführte Verfahren sei ohne seine Kenntnis durchgeführt worden; er habe keinerlei Möglichkeit der Verteidigung gehabt und könne sich auch nicht nachträglich wirksam gegen die Verurteilung verteidigen.
| |
Das Oberlandesgericht erklärte mit Beschluß vom 4. Februar 1983 die Auslieferung für zulässig. Zugleich ordnete es die weitere Fortdauer der Auslieferungshaft an. In den Gründen des Beschlusses setzte es sich im einzelnen mit den vorliegenden Erkenntnissen zur Identität des Beschwerdeführers auseinander und führte aus, es könne nicht mehr zweifelhaft sein, daß es sich bei dem Beschwerdeführer um die von dem Landgericht Mailand verurteilte Person handle.
| |
Den Umstand, daß der Beschwerdeführer in Abwesenheit verurteilt worden war, erachtete das Oberlandesgericht deshalb für unbedenklich, weil nach italienischem Strafprozeßrecht ein in Abwesenheit Verurteilter die Möglichkeit der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand habe und er auf diesem Wege eine erneute tatsächliche und rechtliche gerichtliche Überprüfung der Strafsache erreichen könne. Zudem seien, so das Oberlandesgericht, auch nach dem konkreten Verfahrensablauf im Fall des Beschwerdeführers schwerwiegende Verstöße gegen das Recht auf rechtliches Gehör nicht zu erkennen.
| |
2. Mit seiner Verfassungsbeschwerde wendet der Beschwerdeführer sich gegen den Beschluß des Oberlandesgerichts vom 4. Februar 1983, soweit in diesem seine Auslieferung für zulässig erklärt worden ist. Er hält "Artikel 1, 2 und 103 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip" für verletzt.
| |
Zur Begründung führt er im einzelnen aus, daß der Identitätsnachweis entgegen der Auffassung des Oberlandesgerichts nicht geführt sei. Er meint zudem, es sei mit elementaren Mindestanforderungen an ein Strafverfahren nicht zu vereinbaren, daß – wie in seinem Fall – Feststellungen zur Identität des Verurteilten erst nach Rechtskraft des Urteils gewonnen würden.
| |
Im Hinblick darauf, daß das Urteil in Abwesenheit ergangen ist, macht er geltend:
| |
Er habe keinerlei Kenntnis von dem Strafverfahren gehabt. Auch sei ihm das Urteil nicht zugestellt worden. Da er auch von einem gegen ihn ergangenen Haftbefehl nichts gewußt habe, habe er auch nicht als "flüchtig" angesehen werden können. Die Möglichkeit einer Wiedereinsetzung in den vorigen Stand vermöge nicht zu einer ausreichenden Verteidigungsmöglichkeit zu führen, zumal er die hierfür vorgesehene Frist von 10 Tagen bereits aus Unkenntnis versäumt habe.
| |
3. Der Beschwerdeführer hat mit seiner Verfassungsbeschwerde zugleich beantragt, im Wege der einstweiligen Anordnung zu bestimmen, daß er bis zur Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde nicht nach Italien ausgeliefert werden darf.
| |
4. Eine Entschließung der Bundesregierung über die Bewilligung der Auslieferung ist noch nicht ergangen.
| |
Die zulässige Verfassungsbeschwerde ist nicht offensichtlich ohne Aussicht auf Erfolg.
| |
Inwieweit die Rügen des Beschwerdeführers hinsichtlich der Feststellung der Personenidentität verfassungsrechtlich von Gewicht sind, kann zunächst dahinstehen. Gegenwärtig erscheinen Zweifel, ob das Oberlandesgericht dem Umstand, daß der Beschwerdeführer in Italien in Abwesenheit verurteilt worden ist, hinreichend Rechnung getragen hat, jedenfalls nicht als von vornherein auszuräumen:
| |
1. Die deutschen Gerichte haben bei der Prüfung der Zulässigkeit einer Auslieferung grundsätzlich die Rechtmäßigkeit des Zustandekommens eines ausländischen Strafurteils, zu dessen Vollstreckung der Verfolgte ausgeliefert werden soll, nicht nachzuprüfen. Sie sind indes nicht an der Prüfung gehindert – und unter Umständen von Verfassungs wegen dazu verpflichtet –, ob die Auslieferung und ihr zugrundeliegende Akte mit dem nach Art. 25 GG in der Bundesrepublik Deutschland verbindlichen völkerrechtlichen Mindeststandard und mit den unabdingbaren verfassungsrechtlichen Grundsätzen ihrer öffentlichen Ordnung vereinbar sind. Hierzu kann zumal Anlaß bestehen, wenn ein ausländisches Strafurteil, zu dessen Vollstreckung ausgeliefert werden soll, in Abwesenheit des Verfolgten ergangen ist (vgl. BVerfGE 59, 280 [282 ff.]).
| |
Nach deutschem Verfassungsrecht gehört es zu den elementaren Anforderungen des Rechtsstaats, die insbesondere im Gebot der Gewährung rechtlichen Gehörs vor Gericht (Art. 103 Abs. 1 GG) Ausprägung gefunden haben, daß niemand zum bloßen Gegenstand eines ihn betreffenden staatlichen Verfahrens gemacht werden darf; auch die Menschenwürde des Einzelnen (Art. 1 Abs. 1 GG) wäre durch ein solches staatliches Handeln verletzt (vgl. BVerfGE 7, 53 [57 f.]; 275 [279]; 9, 89 [95]; 39, 156 [168]; 46, 202 [210]; 55, 1 [5 f.]). Daraus ergibt sich insbesondere für das Strafverfahren, das zu den schwersten in allen Rechtsordnungen überhaupt vorgesehenen Eingriffen in die persönliche Freiheit des Einzelnen führen kann, das zwingende Gebot, daß der Beschuldigte, im Rahmen der von der Verfahrensordnung aufgestellten, angemessenen Regeln, die Möglichkeit haben und auch tatsächlich ausüben können muß, auf das Verfahren einzuwirken, sich persönlich zu den gegen ihn erhobenen Vorwürfen zu äußern, entlastende Umstände vorzutragen, deren umfassende und erschöpfende Nachprüfung und gegebenenfalls auch Berücksichtigung zu erreichen (vgl. BVerfGE 41, 246 [249]; 46, 202 [210]; 54, 100 [116]). Dabei kann hier dahinstehen, wie es in diesem Zusammenhang zu würdigen wäre, wenn ein Beschuldigter in Kenntnis des Verfahrens sich diesem bewußt entzieht.
| |
Der wesentliche Kern dieser Gewährleistungen gehört von Verfassungs wegen zum unverzichtbaren Bestand der deutschen öffentlichen Ordnung wie auch zum völkerrechtlichen Mindeststandard (vgl. BVerfGE 59, 280 [283 ff.]), der über Art. 25 GG einen Bestandteil des in der Bundesrepublik Deutschland innerstaatlich geltenden Rechts bildet.
| |
Gegen eine Auslieferung zur Vollstreckung eines ausländischen, in Abwesenheit des Verfolgten ergangenen Strafurteils dürften bei Anlegung dieser Maßstäbe von Verfassungs wegen Bedenken bestehen, sofern der Verfolgte weder über die Tatsache der Durchführung und des Abschlusses des betreffenden Verfahrens in irgendeiner Weise unterrichtet war, noch ihm eine tatsächlich wirksame Möglichkeit eröffnet ist, sich nach Erlangung dieser Kenntnis nachträglich rechtliches Gehör zu verschaffen und sich wirksam zu verteidigen.
| |
2. Ob das Oberlandesgericht im vorliegenden Fall diesen verfassungsrechtlichen Anforderungen hinreichend Rechnung getragen und dem Beschwerdeführer den von Art. 19 Abs. 4 Satz 1 und 103 Abs. 1 GG gebotenen Rechtsschutz im gehörigen Maße gewährt hat, kann derzeit nicht abschließend geprüft werden.
| |
Das Oberlandesgericht hat das Vorliegen durchgreifender Bedenken wegen des Umstandes, daß der Beschwerdeführer in Abwesenheit verurteilt worden ist, im wesentlichen allein mit der Erwägung verneint, daß das italienische Strafprozeßrecht die Möglichkeit einer Wiedereinsetzung in den vorigen Stand kenne. Ob diese Möglichkeit tatsächlich für einen in Abwesenheit Verurteilten einen gangbaren Weg darstellt, sich wirksam nachträglich rechtliches Gehör und die Möglichkeit der Verteidigung zu verschaffen, hat das Oberlandesgericht nicht im einzelnen belegt; es wird von dem Beschwerdeführer in Abrede gestellt.
| |
Es erscheint nicht als von vornherein ausgeschlossen, daß die Auffassung des Beschwerdeführers zutreffen könnte, wonach seinem berechtigten Anliegen, sich gegen die seiner Verurteilung zugrundeliegenden strafrechtlichen Vorwürfe in angemessener Weise verteidigen zu können, allein durch den Umstand, daß das italienische Strafprozeßrecht das Institut der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand kennt, nicht hinreichend Genüge getan wäre (vgl. etwa Corte Costituzionale – italienischer Verfassungsgerichtshof – vom 12.02.1970 [Nr. 25/1970], Raccolta Ufficiale, Vol. XXXI, 1970, S. 207 [212]).
| |
Ob insoweit eine weitere Aufklärung des Sachverhalts, der Klärung des italienischen Rechts und der Spruchpraxis der italienischen Gerichte von Verfassungs wegen geboten sein könnte, kann derzeit nicht abschließend geprüft werden.
| |
3. Unter diesen Umständen erscheint es angesichts der irreparablen Folgen, die eine Bewilligung der Auslieferung durch die Bundesregierung und ihr Vollzug haben können, nach § 32 Abs. 1 BVerfGG geboten, die Wirksamkeit der Entscheidung des Oberlandesgerichts über die Zulässigkeit der Auslieferung einstweilen auszusetzen.
| |