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Beschluß | |
des Ersten Senats vom 14. April 1987
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-- 1 BvR 332/86 -- | |
in dem Verfahren über die Verfassungsbeschwerde des Kindes L ..., vertreten durch ihren Ergänzungspfleger. -- Bevollmächtigte: Rechtsanwälte Helmut Krätzel, Rainer Dobslaff und Edmund Berlinger, Eichenbühler Straße 1, Miltenberg/Main -- gegen a) den Beschluß des Bayerischen Obersten Landesgerichts vom 14. Januar 1986 -- BReg. 1 Z 99/85 --, b) den Beschluß des Landgerichts Aschaffenburg vom 13. November 1985 -- T ![]() ![]() | |
Entscheidungsformel: | |
Die Beschlüsse des Amtsgerichts Obernburg -- X 12/85 -- ausgefertigt am 30. Juli 1985, des Landgerichts Aschaffenburg vom 13. November 1985 -- T 180/85 -- und des Bayerischen Obersten Landesgerichts vom 14. Januar 1986 -- BReg. 1 Z 99/85 -- verletzen die Beschwerdeführerin in ihrem Grundrecht aus Artikel 2 Absatz 1 in Verbindung mit Artikel 1 Absatz 1 des Grundgesetzes. Sie werden aufgehoben. Die Sache wird an das Amtsgericht zurückverwiesen.
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Der Freistaat Bayern hat der Beschwerdeführerin die notwendigen Auslagen zu erstatten.
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Gründe: | |
A. | |
Gegenstand der Verfassungsbeschwerde sind gerichtliche Entscheidungen, nach denen die Pflegeeltern die Beschwerdeführerin an deren Vater herauszugeben haben.
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I.
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Die Personensorge umfaßt das Recht, die Herausgabe des Kindes von jedem zu verlangen, der es den Eltern oder einem Elternteil widerrechtlich vorenthält (§ 1632 Abs. 1 BGB). Befindet sich das Kind seit längerer Zeit in Familienpflege, so kann das Vormundschaftsgericht allerdings gemäß § 1632 Abs. 4 BGB von Amts wegen oder auf Antrag der Pflegeperson anordnen, daß das Kind bei dieser verbleibt, wenn und solange -- insbesondere im Hinblick auf Anlaß oder Dauer der Familienpflege -- die Voraussetzungen des § 1666 Abs. 1 Satz 1 BGB gegeben sind. Diese liegen nach dem Wortlaut der Regelung unter anderem dann vor, wenn das körperliche, geistige oder seelische Wohl des Kindes durch mißbräuchliche Ausübung der elterlichen Sorge, durch Vernachlässigung des Kindes oder durch unverschuldetes Versagen der Eltern gefährdet ist. ![]() | |
1. Die Beschwerdeführerin wurde am 22. November 1983 als Tochter eines Binnenschiffers ehelich geboren. Sie hat zwei ältere Schwestern, von denen eine bei der Großmutter aufwächst. Die andere -- 1980 geborene -- wurde im Alter von drei Monaten in verwahrlostem Zustand aus dem Haushalt der Mutter herausgenommen und zu ihrer Stieftante gebracht, bei der sie auch heute noch lebt. Die Mutter der Kinder war schon seit Jahren suchtkrank und ist deshalb wiederholt in Kliniken behandelt worden. Die Ehegatten leben seit Mai 1984 getrennt.
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Mitte Dezember 1983 teilte das Kreisjugendamt dem Vormundschaftsgericht mit, die Mutter habe die Beschwerdeführerin mißhandelt; der Vater kümmere sich nur wenig um das Kind. Daraufhin entzog das Gericht den Eltern vorläufig die elterliche Sorge, ordnete Vormundschaft über das Kind an und bestellte das Kreisjugendamt zum Vormund. Dieses gab die Beschwerdeführerin zunächst in eine Kinderklinik und im Januar 1984 in die Pflege eines Ehepaares, das selbst keine Kinder hat.
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Nachdem beiden Eltern zunächst auch endgültig das Sorgerecht entzogen worden war, erhielt es der Vater auf seine Beschwerde hin zurück. Seit Januar 1985 verlangt er von den Pflegeeltern die Herausgabe der Beschwerdeführerin, um sie ebenfalls bei seiner Stiefschwester unterzubringen.
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2. Im Januar 1985 versuchten die Pflegeeltern, beim Vormundschaftsgericht eine Verbleibensanordnung nach § 1632 Abs. 4 BGB zu erreichen. Dagegen beantragte der Vater, die Pflegeeltern zur Herausgabe der Beschwerdeführerin anzuhalten. Seinem Begehren wurde entsprochen. Zur Begründung hat das Amtsgericht im wesentlichen ausgeführt:
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Der Vater habe sich keine Pflichtverletzung gegenüber der Beschwerdeführerin zuschulden kommen lassen, auch wenn er sich in der Vergangenheit nicht nach ihrem Wohlbefinden erkundigt habe. Beim Streit zwischen leiblichen Eltern und Pflegeeltern sei zunächst vom grundgesetzlich geschützten Vorrecht der Eltern zur Pflege und Erziehung ihrer Kinder auszugehen.
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Das Elternrecht müsse allerdings zurücktreten, wenn ein Kind ![]() ![]() | |
3. a) Gegen die Entscheidung des Amtsgerichts erhoben die Pflegeeltern Beschwerde und legten ein von ihnen in Auftrag gegebenes psychologisches Gutachten vor, nach dem eine faktische Elternschaft eindeutig gegeben sei, die Herausgabe der Beschwerdeführerin an andere Pflegepersonen eine Gefährdung im Sinne des § 1666 BGB darstelle und die Aufrechterhaltung des elterngleichen Verhältnisses bis zur Volljährigkeit der Beschwerdeführerin notwendig sei, um ernsthafte Schäden des Kindes zu vermeiden. Entgegen früherer Auffassung verkrafte ein jüngeres Kind einen Wechsel von Bezugspersonen schwerer als ein größeres.
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b) Das Rechtsmittel war erfolglos.
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Das Landgericht beantragte eine Gutachterin, zu der Frage Stellung zu nehmen, ob das körperliche, geistige oder seelische Wohl der Beschwerdeführerin gefährdet wäre, wenn sie an den Vater herausgegeben würde. In dem Gutachten wird ausgeführt: An der Feststellung, daß die Pflegeeltern zu den "sozialen Eltern" der Beschwerdeführerin geworden seien, könne nicht gezweifelt werden. Insoweit werde uneingeschränkt dem Vorgutachten gefolgt. Auch die Verhaltensbeschreibung der Beschwerdeführerin durch den Gutachter trage die Merkmale der Objektivität. Es sei selbstverständlich und bedürfe weder der richterlichen Anhörung der Beschwerdeführerin noch eines zusätzlichen Sachverständigen, daß diese jetzt nichts anderes sagen könne als, "es habe Papa und ![]() ![]() | |
In der mündlichen Verhandlung hat die Gutachterin ihre Ausführungen dahin ergänzt, die Unterbringung der Beschwerdeführerin bei ihrer Stieftante sei aus psychologischen Gründen deshalb besser, weil sie dort mit ihrer Schwester aufwüchse, während die Pflegeeltern keine eigenen Kinder hätten.
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Das Landgericht führte aus, Pflege und Erziehung der Kinder seien das natürliche Recht und auch die Pflicht der Eltern. Ein Verbleiben der Beschwerdeführerin bei ihren Pflegeeltern käme nur bei einem festgestellten Erziehungsunvermögen ihres Vaters in Betracht, wovon nicht auszugehen sei. Die Begründung des Pflegeverhältnisses sei nicht auf sein Fehlverhalten zurückzuführen. ![]() | |
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4. Das Bayerische Oberste Landesgericht hat die Entscheidung des Landgerichts als rechtsfehlerfrei bestätigt.
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Eine nochmalige Anhörung der Pflegeeltern im Beschwerdeverfahren sei entbehrlich gewesen; es seien weder für die Entscheidung bedeutsame neue Tatsachen bekannt geworden noch hätten sich die rechtlichen Gesichtspunkte geändert. Von einer persönlichen Anhörung des jetzt zwei Jahre alten Kindes hätten die Vorinstanzen absehen dürfen. Die Gutachterin habe ausdrücklich erwähnt, daß das Kind nur seine Liebe zu seinen Pflegeeltern hätte ausdrücken können.
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Auch in der Sache sei die Vorentscheidung aus Rechtsgründen nicht zu beanstanden.
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Dem Herausgabeverlangen des Sorgeberechtigten sei immer dann stattzugeben, wenn ihm das Kind von einem Dritten, insbesondere von den Pflegeeltern, widerrechtlich vorenthalten werde. Die Widerrechtlichkeit könne dann fehlen, wenn zu befürchten sei, daß das Kind durch die Trennung und den Umgebungswech ![]() ![]() | |
III.
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Mit der gegen die gerichtlichen Beschlüsse erhobenen Verfassungsbeschwerde rügt die Beschwerdeführerin die Verletzung ihrer Grundrechte aus Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 1 GG sowie einen Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG. Außerdem werde ihr grundrechtlicher Anspruch auf ein Verbleiben in der Pflegefamilie (Art. 6 Abs. 3 GG) mißachtet.
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Gemäß § 50 c FGG seien in den Fällen, in denen ein Kind seit längerer Zeit in Familienpflege lebe, die Pflegeeltern zu hören. Dieser Verpflichtung sei das Landgericht nicht nachgekommen. Soweit das Bayerische Oberste Landesgericht ausführe, das Landgericht habe in seiner Entscheidung auf die Anhörung der Pflegeeltern vor dem Vormundschaftsgericht Bezug nehmen wollen, sei ![]() ![]() | |
Die angegriffenen Entscheidungen hätten die Beschwerdeführerin zum bloßen Objekt herabgewürdigt. Man glaube, ihrem Willen keine wesentliche Bedeutung beimessen zu müssen. Beschwerdegericht und Rechtsbeschwerdegericht hätten die Auffassung vertreten, daß trotz der festgestellten faktischen Elternschaft der Pflegeeltern eine Herausnahme der Beschwerdeführerin aus der Pflegefamilie möglich sei, ohne daß schwere und nachhaltige Schäden für ihr Wohlbefinden zu erwarten seien. Dies entspreche nicht den Erkenntnissen neuerer humanwissenschaftlicher Forschungen und den Gegebenheiten des Falles. Die Beweisführung der Gutachterin sei unschlüssig. Einerseits gehe sie davon aus, die Beschwerdeführerin sei möglicherweise ein Kind von besonderer Labilität und unterdurchschnittlicher Belastbarkeit, andererseits halte sie es für möglich, daß sie sich problemlos in die neue Familie einleben werde. Diese gutachterliche Äußerung sei vom Beschwerdegericht einfach als "überzeugende Darlegung" übernommen worden. Dabei wolle der Vater nicht in die soziale Verantwortung gegenüber der Beschwerdeführerin eintreten, sondern sie seiner Halbschwester überlassen. In einem solchen Fall sei das Elternrecht aus Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG schwächer ausgeprägt, als wenn der Vater die Pflege des Kindes selbst übernehmen wollte. Die Beschwerdeführerin habe nach Art. 6 Abs. 3 GG ein Recht, in der Familienpflege zu verbleiben; denn nach den heutigen Erkenntnissen der Wissenschaft werde sie nie mehr eine gleichstarke Bindung eingehen können, wie sie zu ihren Pflegeeltern bestehe. ![]() | |
1. Das Bayerische Staatsministerium der Justiz hält die Verfassungsbeschwerde für unbegründet.
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Art. 103 Abs. 1 GG sei nicht verletzt. Die im Zusammenhang mit der Rüge eines Verstoßes gegen den Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs angeführten Bestimmungen dienten nach ihrem Sinn und Zweck ersichtlich der Sachaufklärung und nicht der Verwirklichung des Verfahrensgrundrechts. Im übrigen schreibe Art. 103 Abs. 1 GG keine bestimmte Art der Anhörung vor; es genüge daher in aller Regel, wenn sich die Beteiligten schriftlich äußern könnten. Die Gerichte hätten ohne Verfassungsverstoß davon ausgehen können, daß die Beschwerdeführerin im Alter von noch nicht ganz zwei Jahren keine für die Entscheidung bedeutsame Äußerung habe abgeben können.
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Die angegriffenen Entscheidungen ließen auch sonst keinen Grundrechtsverstoß erkennen. Die Gerichte hätten ersichtlich das Wohl der Beschwerdeführerin in den Mittelpunkt ihrer Überlegungen gestellt. Die Begründungen seien frei von sachfremden Erwägungen. Das Landgericht und das Bayerische Oberste Landesgericht hätten sich vor allem eingehend mit den beiden vorliegenden Gutachten befaßt.
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2. Auch der Vater der Beschwerdeführerin vertritt die Auffassung, daß die Verfassungsbeschwerde unbegründet sei. Die Rückführung eines Kindes aus der Pflegefamilie zu seinen leiblichen Eltern sei nur dann unzulässig, wenn sein Wohl dadurch gefährdet werde. Entsprechend hätten die Gerichte ihre Entscheidungen allein danach ausgerichtet, ob die Herausgabe der Beschwerdeführerin an ihn mit nicht unerheblichen körperlichen und seelischen Dauerschäden für das Kind verbunden wäre. Er verkenne nicht, daß die Beschwerdeführerin unter der Trennung von den Pflegeeltern leiden werde; denn ein Kind müsse zwangsläufig an den Personen hängen, die es liebevoll und sorgfältig betreuten. Die Beschwerdeführerin solle aber nicht einfach von einer Pflegefamilie in eine andere gebracht werden. Zu der neuen Familie bestünden enge verwandtschaftliche Beziehungen und der Beschwerdeführerin werde es ermöglicht, zusammen mit ihrer ![]() ![]() | |
Es dürfe nicht unberücksichtigt bleiben, daß kein Anlaß bestanden habe, die Beschwerdeführerin zu den Pflegeeltern zu geben. Insoweit könne den zuständigen staatlichen Stellen nicht der Vorwurf einer Überreaktion erspart bleiben. Seine Stiefschwester sei schon 1984 bereit gewesen, die Beschwerdeführerin zu sich zu nehmen. Hierdurch wären die Belastungen vermieden worden, die das Verfahren für alle Beteiligten gebracht habe.
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3. Die Mutter der Beschwerdeführerin hat sich im Verfassungsbeschwerdeverfahren dahin geäußert, daß sie die Unterbringung der Beschwerdeführerin bei der Stiefschwester ihres Mannes befürworte.
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4. Nach Ansicht des Kreisjugendamtes, dem Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben wurde, ist es bei den gegebenen Verhältnissen im Interesse des Kindeswohls erforderlich, daß die Beschwerdeführerin bei der Pflegefamilie bleibe. Bei der Entscheidung müsse berücksichtigt werden, daß die Beschwerdeführerin nicht zu ihren leiblichen Eltern zurückkehren, sondern in eine andere Pflegefamilie gegeben werden solle. Wegen des Zeitablaufs sei die Einholung eines neuen psychologischen Gutachtens dringend erforderlich. Dieses müsse auch die Situation des Vaters, seine bisherigen Kontakte und Beziehungen zu seinen beiden Kindern sowie zu der Beschwerdeführerin erfassen.
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Im übrigen führt das Kreisjugendamt aus, daß sich der Vater der Beschwerdeführerin um seine beiden anderen Kinder kaum kümmere und sich auch nicht um eine schonende und behutsame Herausnahme der Beschwerdeführerin aus der Pflegefamilie bemühe.
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V.
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Im Verfassungsbeschwerdeverfahren sind Gutachten zu der Frage eingeholt worden, welche psychischen Beeinträchtigungen nach Umfang, Dauer und Gewicht bei einem Wechsel der Bezugs ![]() ![]() | |
1. Der Sachverständige Fthenakis hat darauf verwiesen, es sei fraglich geworden, ob die Trennung eines Säuglings von seiner Mutter zu schweren Entwicklungsstörungen führe. Nach neueren Untersuchungen sei vielmehr die nach der Trennung folgende Betreuungs- und Erziehungssituation des Kindes maßgeblich. Nicht der Wechsel, sondern die Rahmenbedingungen, die ihn begleiteten, seien für das Auftreten einer mittel- wie langfristigen Beeinträchtigung der kindlichen Entwicklung verantwortlich. Diese müßten im Einzelfall geprüft werden. Eine Einschätzung dieser Faktoren sei im vorliegenden Fall wegen fehlender geeigneter und umfassender Datenerhebung nicht möglich, für eine rechtliche Entscheidung jedoch unerläßlich.
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Die Art der Ausübung der elterlichen Sorge durch den Vater -- Bestimmung des Aufenthalts, die Bereitstellung von angemessenen Rahmenbedingungen und Besuchskontakte -- entspreche dem für Binnenschiffer üblichen Muster und sei auch die einzig mögliche Form, wenn die Kinder nicht auf dem Schiff mitführen. Die Unterbringung der Schifferkinder bei Verwandten habe unter anderem den Vorteil, daß Angehörige der Familie mit den besonderen Berufsbedingungen des Vaters vertraut seien, sie akzeptierten und sie den Kindern vermittelten. Insgesamt sei der Ausfall der Mutter und die massive Intervention des Jugendamtes für den Vater und seine gesamte Familie ein nicht vorhersehbares Lebensereignis gewesen, das für sie schwer zu bewältigen sei.
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Der Gutachter hält eine eingehende Prüfung der Rahmenbedingungen der Herkunftsfamilie für erforderlich, die auch die Erziehungsfähigkeit der Personen einbeziehen müsse, die in Zukunft die direkte Personensorge übernehmen sollten. Besonders sei auf ihre Fähigkeit und Bereitschaft zu achten, angemessen auf die Trauerreaktion der Beschwerdeführerin einzugehen und den Kontakt zu den Pflegeeltern aufrechtzuerhalten. ![]() | |
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Man werde davon ausgehen müssen, daß die Überwindung eines Trennungstraumas von sehr verschiedenen individuellen Faktoren des einzelnen Kindes abhänge und von zusätzlichen psychischen Belastungen, die auf das Kind in der Zukunft noch zukommen könnten. Dabei könne keine unterste Altersgrenze festgestellt werden, vor der ein Trennungstrauma des Kindes ohne Bedeutung sei. Auch insoweit müsse den Feststellungen des Gutachtens entschieden widersprochen werden. Die Frage, ob sich das Kind später an die Trennung erinnern könne oder nicht, sei für die Spätfolgen nichtentscheidend. Nach neuesten Erkenntnissen seien Säuglinge schon wenige Tage nach der Geburt in der Lage, selbst früheste Erfahrungen zu speichern. Deshalb sei davon auszugehen, daß anhaltende Angstzustände grundsätzlich die Belastungsfähigkeit für spätere ähnliche Erlebnisse beeinflußten. Wolle man einem Kind eine Art "Abhärtungsprozeß" zumuten, so wäre dieser ohne Einbuße an emotionaler Sensibilität und damit ohne Einschränkung der differenzierten Persönlichkeitsentfaltung kaum vorstellbar.
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Der Ansicht des Amtsgerichts, daß eine eineinhalbjährige Beziehung des Kindes zu seinen Pflegeeltern noch keine "lange Dauer" begründen könne, müsse widersprochen werden. Beim Zeiterleben handele es sich nicht um eine objektive Feststellung, sondern um ein subjektives Erleben. ![]() | |
Daß die Beschwerdeführerin mit ihrer Schwester aufwachsen solle, stelle keinen kompensationsfähigen Vorteil dar. Die Schwester sei für die Beschwerdeführerin ein fremdes Kind. Das allgemeine Prinzip, Geschwister nach Möglichkeit miteinander aufwachsen zu lassen, sei zudem nicht unbestritten und gelte im übrigen nur für den Fall der Geschwistertrennung und nicht für die Geschwisterzusammenführung. Aus kinderpsychologischer Sicht bedeute der Wechsel der Beschwerdeführerin von den jetzigen zu den neuen Pflegeeltern ausschließlich des Eingehen eines Risikos, das man vermeiden sollte.
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Die Verfassungsbeschwerde ist im wesentlichen zulässig. Zu ihrer Durchführung wurde der Beschwerdeführerin ein Ergänzungspfleger (§ 1909 Abs. 1 BGB) bestellt (vgl. auch BVerfGE 72,122 [135]). Unzulässig ist die Verfassungsbeschwerde nur insoweit, als die Beschwerdeführerin die Verletzung ihres Anspruchs auf Gewährung rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG) rügt.
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I.
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Die Verfassungsbeschwerde gegen eine letztinstanzliche gerichtliche Entscheidung ist binnen eines Monats einzulegen (§ 93 Abs. 1 Satz 1 BVerfGG). Nach § 93 Abs. 1 Satz 2 BVerfGG beginnt die Frist mit der Zustellung oder formlosen Mitteilung der in vollständiger Form abgefaßten Entscheidung, wenn diese nach den maßgeblichen Vorschriften von Amts wegen vorzunehmen ist; in anderen Fällen beginnt sie mit der Verkündung der Entscheidung oder -- wenn es einer Verkündung nicht bedarf -- mit der sonstigen Bekanntgabe an den Beschwerdeführer.
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1. Auch im Verfahren der freiwilligen Gerichtsbarkeit sind Entscheidungen, die ihrem Inhalt nach für einen Minderjährigen be ![]() ![]() | |
2. Es bedarf keiner weiteren Erörterung, daß die Beschwerdeführerin durch den Beschluß unmittelbar rechtlich betroffen ist, denn er hat endgültig über ihre Trennung von der Pflegefamilie entschieden. Da sie am Verfahren aber nicht als Partei oder in ähnlicher Stellung teilgenommen hat, beginnt für sie die Frist zur Einlegung der Verfassungsbeschwerde erst mit Kenntnis der in vollständiger Form abgefaßten Entscheidung (BVerfGE 21, 132; 60, 7 [13]). Allerdings ist es wegen des Alters der Beschwerdeführerin nicht möglich, auf ihr Wissen um den Inhalt des Beschlusses abzustellen, so daß es darauf ankommt, wessen Kenntnis sie sich zurechnen lassen muß. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts kommt die Erhebung der Verfassungsbeschwerde für die Beschwerdeführerin durch ihren nach bürgerlichem Recht zur Vertretung berufenen gesetzlichen Vertreter wegen des offen ![]() ![]() | |
Der Ergänzungspfleger der Beschwerdeführerin hat unmittelbar nach seiner Bestellung die Verfassungsbeschwerde eingelegt. Hinsichtlich der Einhaltung der Monatsfrist bestehen daher keine Bedenken.
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II.
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Die Rüge der Beschwerdeführerin, ihr Recht auf Gewährung rechtlichen Gehörs sei verletzt, ist unzulässig.
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Anspruch auf rechtliches Gehör aus Art. 103 Abs. 1 GG hat jeder, der an einem gerichtlichen Verfahren als Partei oder in ähnlicher Stellung beteiligt ist oder unmittelbar rechtlich von dem Verfahren betroffen wird (BVerfGE 65, 227 [233] m.w.N.). Das gilt auch uneingeschränkt für Verfahren, die vom Untersuchungsgrundsatz beherrscht werden (vgl. BVerfGE 7, 53 [57]).
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1. Das Gericht hat in einem Verfahren, das die Personen- oder Vermögenssorge betrifft, selbst ein Kind unter vierzehn Jahren grundsätzlich persönlich anzuhören, wenn dessen Neigungen, Bindungen oder Wille für die Entscheidung von Bedeutung sind oder wenn es zur Feststellung des Sachverhalts angezeigt erscheint, daß sich das Gericht von dem Kind einen unmittelbaren Eindruck verschafft (§ 50 b FGG). Diese Bestimmung findet auch im Verfahren nach § 1632 Abs. 4 BGB Anwendung (Keidel/Kuntze/Winkler, FGG, 12. Aufl., § 50b Rdnr. 6).
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Nach der heute gefestigten Rechtsauffassung, gegen die von Verfassungs wegen nichts einzuwenden ist, wird im Verfahren nach dem Gesetz über die freiwillige Gerichtsbarkeit unterschie ![]() ![]() | |
Soweit die Anhörung des Kindes nicht dazu bestimmt ist, die tatsächlichen Grundlagen der zu treffenden Entscheidung abzuklären, sondern der Durchsetzung des rechtlichen Gehörs Rechnung tragen soll, ist ein Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG durch die Beschwerdeführerin nicht in zulässiger Weise gerügt worden. Das Bayerische Oberste Landesgericht hat ausgeführt, das Landgericht habe rechtsfehlerfrei von einer persönlichen Anhörung der Beschwerdeführerin absehen können. Dabei hat es entscheidend darauf abgestellt, das Kind könne nach dem eingeholten Gutachten ausschließlich seine Liebe zu den Pflegeeltern bekunden. Mit der Verfassungsbeschwerde wird nicht ansatzweise vorgetragen, was die Beschwerdeführerin darüber hinaus dem Gericht hätte mitteilen können. Die Rüge eines Verstoßes gegen Art. 103 Abs. 1 GG ist aber nur dann hinreichend substantiiert, wenn der Verfassungsbeschwerde entnommen werden kann, was die Beschwerdeführerin bei ausreichender Gewährung rechtlichen Gehörs vorgetragen hätte, denn nur dann kann geprüft und entschieden werden, ob die angegriffene Entscheidung auf dem Verfassungsverstoß beruht (vgl. BVerfGE 66, 155 [175]).
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2. Selbst wenn davon auszugehen wäre, daß die persönliche Anhörung der Pflegeeltern, der Mutter der Beschwerdeführerin und eines Vertreters des Jugendamts nach Art. 103 Abs. 1 GG im Beschwerdeverfahren geboten gewesen sei, kann die Beschwerdeführerin dies nicht geltend machen. Verfassungsbeschwerde kann nur derjenige erheben, der behauptet, durch die öffentliche Gewalt in einem seiner Grundrechte oder in anderen Rechten verletzt zu sein, die in § 90 Abs. 1 BVerfGG genannt sind und zu denen auch das Recht auf Gehör zählt. Danach ist es dem einzelnen Staatsbürger verwehrt, einen Grundrechtsverstoß ohne eigene ![]() ![]() | |
Im Verfahren nach dem Gesetz über die Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit haben die materiell oder formell Beteiligten einen Anspruch auf Anhörung (vgl. Habscheid, FGG, 7. Aufl., § 20 III). Daraus folgt, daß nur die eigene Position der in § 50 a Abs. 2, § 50 c FGG, § 48 a Abs. 1 Nr. 3 JWG aufgeführten Personen oder die des Vertreters des Jugendamts durch das Unterlassen ihrer persönlichen Anhörung beeinträchtigt sein könnte. Die Beschwerdeführerin kann sich demnach hinsichtlich dieses Personenkreises nicht in zulässiger Weise auf einen Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG berufen.
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Soweit die Verfassungsbeschwerde hiernach zulässig ist, ist sie auch begründet. Die angegriffenen Entscheidungen verletzen die Beschwerdeführerin in ihrem Grundrecht aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG.
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I.
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§ 1632 Abs. 4 BGB ist verfassungskonform dahin auszulegen, daß dem Herausgabeverlangen der Eltern oder eines Elternteils, mit dem nicht die Zusammenführung der Familie, sondern ein Wechsel der Pflegeeltern bezweckt wird, nur stattzugeben ist, wenn mit hinreichender Sicherheit eine Gefährdung des körperlichen, geistigen oder seelischen Wohls des Kindes ausgeschlossen werden kann.
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1. Die Beschlüsse, gegen die sich die Verfassungsbeschwerde richtet, beruhen auf der Anwendung des § 1632 Abs. 1 und 4 BGB. Die sorgeberechtigten Eltern haben nach § 1632 Abs. 1 BGB das Recht, die Herausgabe des Kindes von jedem zu verlangen, der es ihnen widerrechtlich vorenthält. Das folgt aus der Befugnis, den Aufenthalt des Kindes gemäß § 1631 Abs. 1 BGB zu bestimmen (vgl. Diederichsen, in: Palandt, BGB, 46. Aufl., § 1632 Anm. 2). Dieser Herausgabeanspruch wird durch § 1632 ![]() ![]() | |
2. Das Grundgesetz ist als ranghöchstes innerstaatliches Recht nicht nur Maßstab für die Gültigkeit von Rechtsnormen aus innerstaatlicher Rechtsquelle; jede dieser Rechtsnormen ist im Einklang mit dem Grundgesetz auszulegen. Sie empfängt daraus im Rahmen ihres Wortlauts gegebenenfalls einen ergänzenden Sinn oder ist, wenn die übrigen Voraussetzungen hierfür erfüllt sind, im Einklang mit dem Grundgesetz fortzubilden. Denn das Grundgesetz ist Teil der Gesamtrechtsordnung, die als Sinnganzes verstanden werden muß und jeglicher Auslegung innerstaatlichen Rechts zugrunde zu legen ist (vgl. BVerfGE 51, 304 [323]).
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Bei einer Entscheidung nach § 1632 Abs. 4 BGB, die eine Kollision zwischen dem Interesse der Eltern oder des allein sorgeberechtigten Elternteils an der Herausgabe des Kindes und dem Kindeswohl voraussetzt, verlangt die Verfassung eine Auslegung der Regelung, die sowohl dem Elternrecht aus Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG als auch der Grundrechtsposition des Kindes aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG Rechnung trägt. Im Rahmen der erforderlichen Abwägung ist bei der Auslegung von gesetzlichen Regelungen im Bereich des Art. 6 Abs. 2 GG in gleicher Weise wie bei Entscheidungen des Gesetzgebers zu beachten, daß das Wohl des Kindes letztlich bestimmend sein muß (vgl. BVerfGE 68, 176 [188]).
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a) Das Verhältnis des Elternrechts zum Persönlichkeitsrecht des Kindes wird durch die besondere Struktur des Elternrechts geprägt. Dieses ist wesentlich ein Recht im Interesse des Kindes, wie sich schon aus dem Wortlaut des Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG ![]() ![]() | |
b) Wie sich aus den Gutachten Fthenakis und Lempp ergibt, sind im Bereich der Kinderpsychologie und Kinderpsychiatrie selbst früher als gesichert geltende Erkenntnisse über die Auswirkungen einer Trennung, die Kleinkinder von ihren unmittelbaren Bezugspersonen betrifft, aufgrund neuerer Forschungsergebnisse in Frage zu stellen. Unabhängig davon ist aber nach wie vor unbestritten, daß ein derartiger Vorgang eine erhebliche psychische Belastung für ein Kind darstellt, deren Bewältigung von seiner Persönlichkeitsstruktur und den Begleitumständen abhängt, unter denen sich der Wechsel vollzieht. Allgemein ist nach den vorliegenden Gutachten jedenfalls davon auszugehen, daß für ein Kind mit seiner Herausnahme aus der gewohnten Umwelt ein schwer bestimmbares Zukunftsrisiko verbunden ist. Die Unsicherheiten bei der Prognose dürfen zwar nicht dazu führen, daß bei der frei ![]() ![]() | |
3. Dieser Auslegung des § 1632 Abs. 4 BGB, die sich aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG ergibt, steht die Entstehungsgeschichte der Vorschrift, die durch Art. 1 Nr. 8 des Gesetzes zur Neuregelung des Rechts der elterlichen Sorge vom 18. Juli 1979 (BGBl. I S. 1061) -- SorgeRG -- in das Bürgerliche Gesetzbuch eingefügt wurde, nicht entgegen. Mit der Neuregelung des Rechts der elterlichen Sorge sollte den Forderungen von Fachverbänden und Fachleuten Rechnung getragen und eine stärkere rechtliche Stellung des Kindes in der Familie erreicht werden (vgl. Verh. des Deutschen Bundestages, 8. Wp., 151. Sitzung, StenBer. S. 12016). Dazu gehörte auch die Verbesserung des ![]() ![]() | |
II.
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Die angegriffenen Entscheidungen lassen nicht erkennen, daß die Gerichte bei der Auslegung des § 1632 Abs. 4 BGB die sich aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG ergebenden Anforderungen hinreichend berücksichtigt haben.
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1. Das Bundesverfassungsgericht hat zwar die Auslegung und Anwendung des einfachen Rechts als solche nicht nachzuprüfen. Ihm obliegt es lediglich, zu entscheiden, ob die zuständigen Gerichte die Reichweite und Wirkkraft der Grundrechte im Gebiet des bürgerlichen Rechts zutreffend beurteilt haben. Bei der Wahrnehmung dieser Aufgabe lassen sich die Grenzen der Eingriffsmöglichkeiten des Bundesverfassungsgerichts aber nicht starr und gleichbleibend ziehen; ihm muß ein gewisser Spielraum bleiben, der die Berücksichtigung der besonderen Lage des Einzelfalls ermöglicht. Dabei ist namentlich das Ausmaß der Grundrechtsbeeinträchtigung von Bedeutung (vgl. BVerfGE 42, 163 [168] m. w. N.).
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Mit der Herausgabe der Beschwerdeführerin an den sorgeberechtigten Vater ist ihre Trennung von den Pflegeeltern verbunden, an die sich ihre Unterbringung bei anderen Personen anschließen soll. Diese Maßnahme ist von existentieller Bedeutung für die Zukunft der Beschwerdeführerin. An die Verfassungsmä ![]() ![]() | |
2. Keines der mit der Sache befaßten Gerichte hat es bei der Auslegung und Anwendung des § 1632 Abs. 4 BGB für erheblich gehalten, ob die Beschwerdeführerin nach ihrer Herausgabe durch die Pflegeeltern bei ihrem Vater oder in einer für sie fremden Familie aufwachsen soll. In diesem Zusammenhang hat das Bayerische Oberste Landesgericht nur ausgeführt, aus dem Umstand, daß der Vater der Beschwerdeführerin häufig längere Zeit abwesend sei und daher das Kind anderweitig in Pflege geben müsse, ergäben sich keine Bedenken gegen seine Eignung, für die Beschwerdeführerin voll verantwortlich sorgen zu können.
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Aus der berufsbedingten Abwesenheit des Vaters lassen sich zwar keine negativen Schlüsse hinsichtlich der Ausübung des Sorgerechts ziehen. Dies berührt aber nicht die Frage nach dem für die Beschwerdeführerin zumutbaren Zukunftsrisiko bei ihrer Verpflanzung in eine neue Pflegefamilie. Soweit die Gerichte die Nachteile dieses Vorgangs durch die beabsichtigte Zusammenführung der Beschwerdeführerin mit ihrer Schwester als kompensiert angesehen haben, kann dem in Übereinstimmung mit dem Gutachten Lempp nicht gefolgt werden. Diesem Umstand ist in seiner Bedeutung für eine günstige physische und psychische Entwicklung der Beschwerdeführerin bei einer Herausnahme aus der Pflegefamilie zumindest eine geringere Bedeutung beizumessen, als es das Landgericht und das Bayerische Oberste Landesgericht getan haben. Entsprechend gewinnt die Feststellung der Sachverständigen an Gewicht, niemand könne mit hinreichender Sicherheit sagen, ob ein Dauerschaden für die Beschwerdeführerin als Folge ihrer Herausnahme aus der Pflegefamilie entstehen würde. Das Landgericht hat im Anschluß an das von ihm eingeholte Gutachten ausgeführt, es könne nicht zu dem Ergebnis kommen, daß ![]() ![]() | |