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Bearbeitung, zuletzt am 15.03.2020, durch: Philippe Dietschi | |||
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34. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung i.S. Politische Gemeinde St. Gallen gegen GSoA Schweiz sowie Sicherheits- und Justizdepartement des Kantons St. Gallen (Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten) |
1C_434/2008 vom 28. September 2009 | |
Regeste |
Unterschriftensammlung für eine Volksinitiative auf öffentlichem Grund; Gemeindeautonomie. |
Die Begriffe des schlichten und gesteigerten Gemeingebrauchs sind kantonalrechtlich bestimmt; Umschreibung in Praxis und Lehre; es verletzt die Gemeindeautonomie nicht, in den umstrittenen Unterschriftensammlungen keinen gesteigerten Gemeingebrauch zu erblicken und eine Bewilligungspflicht zu verneinen (E. 3). |
Es besteht weder hinsichtlich der Wahrnehmung politischer Rechte noch zum Schutze von andern Grundrechtsausübungen ein hinreichendes verfassungsrechtliches Interesse, die umstrittenen Unterschriftensammlungen einer Bewilligungspflicht zu unterstellen (E. 4). | |
Sachverhalt | |
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Die Stadtpolizei erteilte der GSoA je 6 ganztägige Bewilligungen für Unterschriftensammlungen im Dezember 2006 und Januar 2007 und bezeichnete die Örtlichkeiten in der Innenstadt. Sie wies darauf hin, dass nach ihrer Bewilligungspraxis maximal 6 Aktionstage pro Monat bewilligt würden.
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Die GSoA gelangte an den Stadtrat St. Gallen (Exekutive), welcher deren Rekurs im Wesentlichen mit der Begründung abwies, Sammelaktionen stellten an den stark frequentierten Orten der Innenstadt gesteigerten Gemeingebrauch dar und bedürften daher einer Bewilligung. Dieses Erfordernis diene dem Schutz von Polizeigütern, der Koordination unterschiedlichster Aktivitäten und der Sicherstellung einer Prioritätenordnung.
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Diesen Entscheid des Verwaltungsgerichts hat die Politische Gemeinde St. Gallen beim Bundesgericht mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten angefochten. Sie macht eine Verletzung der Gemeindeautonomie geltend und bringt vor, zum Schutz der Polizeigüter, zwecks Koordination unterschiedlichster Aktivitäten und im Hinblick auf die Sicherstellung einer Prioritätenordnung sei eine Bewilligungspflicht für Unterschriftensammlungen an den konkret betroffenen, besonders neuralgischen Orten in der Innenstadt erforderlich. Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab.
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(Zusammenfassung)
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Aus den Erwägungen: | |
Erwägung 1 | |
1.1 Die Politische Gemeinde St. Gallen ist durch den angefochtenen Entscheid des Verwaltungsgerichts, mit dem ihr Bewilligungsentscheid aufgehoben und ihre Bewilligungsbefugnis verneint werden, in ihren hoheitlichen Befugnissen betroffen. Sie ist daher nach Art. 89 Abs. 2 lit. c BGG legitimiert, mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten unter Berufung auf Art. 89 der Verfassung vom 10. Juni 2001 des Kantons St. Gallen (KV/SG; SR 131.225) eine Verletzung ihrer Gemeindeautonomie geltend zu machen (vgl. BGE 135 I 43 E. 1.2 S. 45; BGE 131 I 91 E. 1 S. 93; BGE 128 I 136 E. 1.2 S. 139; je mit Hinweisen). Auf die form- und fristgerecht eingereichte Beschwerde kann eingetreten werden.
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1.2 Nach Art. 89 KV/SG sind die Gemeinden im Rahmen der Gesetzgebung hinsichtlich des Erlasses von Verfügungen und in Bezug auf die Gesetzgebung autonom. Das Strassengesetz des ![]() | 8 |
Somit kann sich die Beschwerdeführerin dagegen zur Wehr setzen, dass eine kantonale Behörde in einem Rechtsmittelverfahren ihre Prüfungsbefugnis überschreitet oder die den betreffenden Sachbereich ordnenden Vorschriften unrichtig auslegt und anwendet. Ferner kann sie geltend machen, die kantonale Behörde habe die Tragweite von verfassungsmässigen Rechten missachtet. Schliesslich kann sie sich auf das Willkürverbot und auf Verfahrensgrundrechte berufen, soweit diese Vorbringen mit der behaupteten Rüge der Autonomieverletzung in engem Zusammenhang stehen. Die Anwendung von eidgenössischem und kantonalem Verfassungsrecht prüft das Bundesgericht mit freier Kognition, die Handhabung von Gesetzes- und Verordnungsrecht unter dem Gesichtswinkel des Willkürverbots (BGE 131 I 91 E. 1 S. 93; BGE 129 I 290 E. 2.3 S. 295, BGE 129 I 410 E. 2.3 S. 414; BGE 128 I 136 E. 2.2 S. 140; BGE 126 I 133 E. 2 S. 136). Das Bundesgericht auferlegt sich Zurückhaltung, soweit die Beurteilung der Streitsache von einer Würdigung der örtlichen Verhältnisse abhängt, welche die kantonalen Behörden besser überblicken (vgl. BGE 132 II 408 E. 4.3 S. 415; BGE 129 I 337 E. 4.1 S. 344; BGE 126 I 219 E. 2c S. 222).
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Hinsichtlich des Sachverhalts ist auf folgende Gegebenheiten abzustellen: Die Beschwerdegegnerin ersuchte um Bewilligung für Unterschriftensammlungen an 12 bzw. 13 Tagen im Dezember 2006 bzw. Januar 2007. Die Stadtpolizei erteilte - mit nachträglicher Zustimmung des Stadtrates - die Bewilligung für je 6 Tage; sie untersagte damit zusätzliche Sammeltage. Die Örtlichkeiten sind zwischen der Beschwerdeführerin und der Beschwerdegegnerin nicht umstritten. Es handelt sich um bestimmte Orte in der Innenstadt, die sich ![]() | 11 |
Zusammenfassend befand das Verwaltungsgericht entgegen dem Stadtrat, dass das Sammeln von Unterschriften durch Einzelpersonen bzw. durch zwei oder drei Personen je bezogen auf die genannten Örtlichkeiten keinen gesteigerten Gemeingebrauch darstelle und dass diese Tätigkeit keiner Bewilligungspflicht unterstellt werden dürfe. Es ist zu prüfen, ob dieser Entscheid vor der angerufenen Gemeindeautonomie standhält.
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3.1 Die Nutzung von öffentlichen Sachen richtet sich in erster Linie nach kantonalem Recht. Dieses umschreibt insbesondere, in welchem Rahmen und Ausmass öffentliche Sachen im Gemeingebrauch genutzt werden dürfen und wie namentlich öffentlicher Grund von der Allgemeinheit benützt werden darf. Dabei unterscheiden die kantonalen Rechtsordnungen und die Praxis meist zwischen schlichtem Gemeingebrauch, gesteigertem Gemeingebrauch und Sondernutzung. Die Rechtsprechung und die Verwaltungsrechtswissenschaft haben diese Einteilung konkretisiert (vgl. zur Lehre HÄFELIN/MÜLLER/UHLMANN, Allgemeines Verwaltungsrecht, 5. Aufl. 2006, S. 507 ff. Rz. 2371 ff.; TOBIAS JAAG, Gemeingebrauch und Sondernutzung öffentlicher Sachen, ZBl 93/1992 S. 150 ff.; ANDRÉ GRISEL, Traité de droit administratif, Bd. II, 2. Aufl. 1984, S. 543 ff.; PIERRE MOOR, Droit administratif, Bd. III, 1992, S. 282 ff.). Dies ändert nichts am ![]() | 14 |
3.2 Nach Rechtsprechung und Lehre gehören zum schlichten Gemeingebrauch die Nutzungen öffentlicher Sachen und all jene Tätigkeiten auf öffentlichem Grund, die entsprechend der breit umschriebenen und weit verstandenen Widmung der Allgemeinheit voraussetzungslos offen stehen. Merkmal des schlichten Gemeingebrauchs - und zugleich wesentliches Kriterium der Abgrenzung zum gesteigerten Gemeingebrauch - bildet die Gemeinverträglichkeit. Eine Nutzung wird als gemeinverträglich betrachtet, wenn sie von allen interessierten Bürgern gleichermassen ausgeübt werden kann, ohne dass andere an der entsprechenden Nutzung übermässig behindert werden. Wesentlich ist, dass im fraglichen Bereich gesamthaft eine gleichartige Benutzung durch alle Interessierten praktisch möglich ist (BGE 122 I 279 E. 2e/cc S. 286 mit Hinweisen). Die Grenze des einfachen Gemeingebrauchs wird indes überschritten, wenn eine Nutzung ihrer Natur oder Intensität nach den Rahmen des Üblichen übersteigt, nicht mehr der bestimmungsgemässen Verwendung entspricht, den rechtmässigen Gebrauch durch andere Benützer beeinträchtigt und somit nicht mehr gemeinverträglich ist. Für die Abgrenzung im Einzelnen ist auf die konkreten örtlichen und zeitlichen Gegebenheiten sowie die Art und das Ausmass der üblichen Benützung abzustellen (BGE 126 I 133 E. 4c S. 139; BGE 105 Ia 91 E. 2 S. 93; je mit Hinweisen; vgl. zum Ganzen HÄFELIN/MÜLLER/UHLMANN, a.a.O., S. 507 ff. Rz. 2371 ff.; GRISEL, a.a.O., S. 543 ff.). Gesteigerter Gemeingebrauch unterliegt im Allgemeinen einer Bewilligungspflicht, welche nicht so sehr dem Schutz von Polizeigütern als vielmehr der Koordination und Prioritätensetzung zwischen verschiedenen Nutzungen des öffentlichen Raums dient (BGE 127 I 164 E. 3b S. 169; BGE 126 I 133 E. 4d S. 139; je mit Hinweisen). Nach der unter der alten Bundesverfassung ergangenen Rechtsprechung durfte gesteigerter Gemeingebrauch auch ohne gesetzliche Grundlage von einer Bewilligung abhängig gemacht werden (vgl. BGE 121 I 279 E. 2b S. 283; BGE 105 Ia 91 E. 2 S. 93; je mit Hinweisen). Unter der neuen ![]() | 15 |
In diesem Sinne stellen Kundgebungen auf öffentlichem Grund klar gesteigerten Gemeingebrauch dar und dürfen unter Bewilligungsvorbehalt gestellt werden (vgl. BGE 127 I 164 E. 3b S. 168 mit Hinweisen). Gleich verhält es sich, wenn für eine bestimmte Tätigkeit Installationen wie Informationsstände oder Tische und Ähnliches aufgestellt werden (BGE 105 Ia 91 E. 2 S. 92). Beim Verteilen von Druckerzeugnissen in der Zürcher Innenstadt zum Zweck eines entgeltlichen Vertriebes von Kursen und Büchern ist das Bundesgericht von gesteigertem Gemeingebrauch ausgegangen, unter Hinweis darauf, dass Gespräche mit Passanten geführt würden und dadurch Ausweichbewegungen der Strassenbenützer, Menschenansammlungen oder gar Auseinandersetzungen in stark frequentierten Lagen zu Störungen des Verkehrsflusses führen könnten (BGE 126 I 133 E. 4 S. 137). Das Sammeln von Unterschriften auf öffentlichem Grund ist unterschiedlich beurteilt worden. In BGE 109 Ia 209 liess das Bundesgericht offen, ob es gesteigerten Gemeingebrauch darstellt (E. 4a S. 210). Auch in BGE 97 I 893 blieb die Frage offen; gleichwohl wurden bei einer Unterschriftensammlung das Vorliegen von gesteigertem Gemeingebrauch und ein entsprechendes Bewilligungserfordernis letztlich bejaht (E. 5 S. 896). In beiden Fällen wurde nur wenig Bezug genommen auf die konkreten örtlichen Gegebenheiten. Schliesslich hat das Bundesgericht unter Bezugnahme auf das Grundrecht der Meinungsäusserung erkannt, dass das unentgeltliche Verteilen einer vervielfältigten Schrift durch eine Einzelperson vor einem Fabrikgebäude nicht von einer Bewilligung abhängig gemacht werden dürfe; das Vorliegen von gesteigertem Gemeingebrauch blieb offen (BGE 96 I 586; vgl. zum Ganzen BÉNÉDICTE TORNAY, La démocratie directe saisie par le juge, 2008, S. 192 f.).
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Bei dieser Sachlage ergibt sich gesamthaft, dass das Verwaltungs gericht die kantonalrechtlich bestimmten Begriffe des schlichten bzw. gesteigerten Gemeingebrauchs weder willkürlich ausgelegt noch mit Blick auf die konkreten Verhältnisse willkürlich angewendet hat. Vor diesem Hintergrund ist es sachlich haltbar, dass das Verwaltungsgericht eine Bewilligungspflicht für entsprechende Unterschriftensammlungen verneint hat. Daraus ergibt sich, dass das ![]() | 18 |
3.4 Diese Einschätzung stellt auf die heutigen konkreten Verhältnisse ab. Änderungen sind indes nicht ausgeschlossen. Sollten im Einzelfall namhafte Störungen auftreten, so können allgemeine polizeiliche Massnahmen zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit ergriffen werden, ohne dass eine präventive Regelung notwendig wäre (vgl. BGE 96 I 586 E. 4c S. 591). Ferner hat das Bundesgericht festgehalten, dass eine Tätigkeit, die gemeinverträglich ist, solange sie nur von wenigen ausgeübt wird, bei häufigerem Vorkommen zu gesteigertem Gemeingebrauch werden und insoweit von einer Bewilligung oder andern Voraussetzungen abhängig gemacht werden kann (BGE 122 I 279 E. 2e/cc S. 287). Dies gilt auch für die vorliegende Konstellation.
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4.1 Die Beschwerdeführerin bringt vor, dass Bewilligungen für gesteigerten Gemeingebrauch nicht nur dem Schutz von Polizeigütern, sondern der Koordination und Prioritätensetzungen zwischen verschiedenen Nutzungen des öffentlichen Grundes dienten. Das Bundesgericht hat sich in der Tat in dieser Weise geäussert (BGE 127 I 164 E. 3b S. 168; BGE 126 I 133 E. 4d S. 139). Dabei geht es um Tätigkeiten, welche gesteigerten Gemeingebrauch darstellen und die ![]() | 21 |
4.2 An diesen Erwägungen vermag auch eine grundrechtliche Optik nichts zu ändern. Es wird angenommen, dass bereits die Anordnung einer Bewilligungspflicht einen Grundrechtseingriff bedeutet (vgl. BGE 96 I 219 E. 5 S. 225; WEBER-DÜRLER, a.a.O., S. 135; MÜLLER/SCHEFER, a.a.O., S. 427; AUER/MALINVERNI/HOTTELIER, Droit constitutionnel suisse, Bd. II, 2. Aufl. 2006, N. 690 ff.). Das Bewilligungserfordernis für Kundgebungen auf öffentlichem Grund bewirkt Beschränkungen der aus Art. 16 und 22 BV fliessenden Gewährleistungen. Gleiches gilt für das Sammeln von Unterschriften für Volksbegehren. Zur Garantie der politischen Rechte gemäss Art. 34 Abs. 1 BV im Allgemeinen sowie der Initiativ- und Referendumsrechte im Besondern (auf Bundesebene nach Art. 136 Abs. 2 BV) gehört auch das Sammeln von Unterschriften, das weitgehend auf die Benützung von öffentlichem Grund angewiesen ist (vgl. BGE 97 I 893 E. 2 S. 895; PIERRE TSCHANNEN, Staatsrecht der Schweizerischen Eidgenossenschaft, 2. Aufl. 2007, § 51 N. 9). Erforderlich ist daher, dass entsprechende Beschränkungen durch ein öffentliches Interesse oder durch den Schutz von Grundrechten Dritter gerechtfertigt sind.
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Unter diesem Gesichtswinkel ist im vorliegenden Fall ein öffentliches Interesse an einer Beschränkung zurzeit nicht ersichtlich. Es wird von Seiten der Beschwerdeführerin nicht nachgewiesen, dass die Freigabe der Unterschriftensammlung im Sinne der verwaltungsgerichtlichen Erwägungen zu konkreten Schwierigkeiten führen könnte. Es wird auch nicht dargelegt, dass sich in der Vergangenheit ![]() | 23 |
Auch ein Bedürfnis nach Schutz von dritten Grundrechtsträgern ist entgegen der Auffassung der Beschwerdeführerin zurzeit nicht ersichtlich. Ein allfälliges Schutzbedürfnis wird erst aktuell, wenn verschiedene Grundrechtsträger wie die genannten Gruppen politischer, religiöser, gemeinnütziger oder kultureller Art konkret zueinander in Konkurrenz treten oder miteinander in Konflikt geraten. Konkrete Hinweise auf derartige Situationen werden von Seiten der Beschwerdeführerin nicht namhaft gemacht. Soweit die Tätigkeiten solcher Gruppen im Bereiche des schlichten Gemeingebrauchs bleiben, treten diese in natürliche Konkurrenz zueinander und sprechen die Passanten je auf ihre eigene Art an.
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Vor diesem Hintergrund bedarf es keines vorausgehenden Schutzes dieser Gruppen oder zwecks eines allfälligen Interessenausgleichs einer vorgängigen Steuerung von Seiten der Behörden. Daran vermag der Umstand nichts zu ändern, dass die eine Gruppe möglicherweise aktiver auftritt als eine andere. In dieser Hinsicht kann vermutet werden, dass eine gewisse Selbstregulierung einsetzt und unterschiedliche Gruppen je in der für ihre Anliegen geeigneten Weise in Erscheinung treten, sodass im Allgemeinen ein dringendes Steuerungsbedürfnis entfällt. Auch unter diesem Gesichtswinkel ist ein Interesse an einer Einschränkung von Unterschriftensammlungen nicht dargetan.
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