BGE 142 III 732 | |||
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93. Auszug aus dem Urteil der II. zivilrechtlichen Abteilung i.S. A. gegen Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde (KESB) U. des Kantons Thurgau (Beschwerde in Zivilsachen) |
5A_738/2016 vom 17. November 2016 | |
Regeste |
Die Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde (KESB) des Kantons Thurgau als zuständiges Gericht im Verfahren nach Art. 439 Abs. 1 ZGB. | |
Sachverhalt | |
A. Mit ärztlicher Verfügung vom 4. Mai 2016 wurde A. (geb. 1990; Betroffene) wegen einer psychischen Störung fürsorgerisch in einer psychiatrischen Klinik (nachfolgend Klinik) untergebracht. Am 2. Juni 2016 beschloss die Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde U. (nachfolgend: KESB) die Weiterführung der fürsorgerischen Unterbringung. Im Weiteren delegierte die Behörde die Entlassungskompetenz an die Einrichtung. In diesem Verfahren amtete Dr. C. als Präsidentin der KESB.
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B. Am 28. Juli 2016 ersuchte der Verein D. die Klinik darum, die Betroffene sofort zu entlassen. Mit Entscheid vom 3. August 2016 wies die ärztliche Leitung das Entlassungsgesuch ab. Die Betroffene gelangte dagegen an die KESB, die ihre Beschwerde mit Entscheid vom 11. August 2016 abwies. Auch im Beschwerdeverfahren war Dr. C. als Präsidentin eingesetzt. Mit Entscheid vom 29. August 2016 wies das Obergericht des Kantons Thurgau die Beschwerde der Betroffenen gegen den Entscheid der KESB ab, soweit darauf einzutreten war.
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C. Die Betroffene (Beschwerdeführerin) hat am 5. Oktober 2016 (Postaufgabe) beim Bundesgericht gegen den Entscheid des Obergerichts Beschwerde erhoben. Sie beantragt, der angefochtene Entscheid und die fürsorgerische Unterbringung seien aufzuheben.
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D. Nach öffentlicher Beratung weist das Bundesgericht die Beschwerde ab, soweit darauf einzutreten ist.
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(Zusammenfassung)
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Aus den Erwägungen: | |
Erwägung 3 | |
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3.2 Nach Art. 439 Abs. 1 i.V.m. Abs. 1 Ziff. 3 ZGB kann die betroffene oder eine ihr nahestehende Person das zuständige Gericht anrufen, wenn ihr Entlassungsgesuch durch die Einrichtung abgewiesen worden ist. Die Rechtsprechung verlangt wenigstens ein Gericht im materiellen Sinne (BGE 139 III 98 E. 3.3 S. 102 f; BGE 108 Ia 178 E. 4b S. 186 f.). Nach dem Willen des Gesetzgebers sind die Kantone berechtigt, ein zweistufiges gerichtliches Beschwerdeverfahren einzuführen (BGE 139 III 98 E. 3.2.2 S. 101). Eine kantonale Regelung, die zunächst die Überprüfung durch eine Verwaltungsbehörde und erst hernach den Zugang zum Gericht vorsieht, erweist sich nach dem Gesagten als bundesrechtswidrig. Angesichts dieser Rechtslage ist im Folgenden zu prüfen, ob es sich bei der KESB um ein (materielles) Gericht handelt.
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3.3 Als Gericht im Sinne von Art. 30 Abs. 1 BV bzw. von Art. 6 Ziff. 1 EMRK gilt eine Behörde, die nach Gesetz und Recht in einem justizförmigen, fairen Verfahren begründete und bindende Entscheidungen über Streitfragen trifft. Sie braucht nicht in die ordentliche Gerichtsstruktur eines Staates eingegliedert zu sein, muss jedoch organisatorisch und personell, nach der Art ihrer Ernennung, der Amtsdauer, dem Schutz vor äusseren Beeinflussungen und nach ihrem äusseren Erscheinungsbild sowohl gegenüber anderen Behörden als auch gegenüber den Parteien unabhängig und unparteiisch sein (vgl. BGE 126 I 228 E. 2a/bb S. 230 f.). Nebst den Merkmalen der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit gehört zu seinem Wesen, dass ein Gericht die rechtserheblichen Tatsachen selber erhebt, die Rechtssätze auf diesen in einem rechtsstaatlichen Verfahren ermittelten Sachverhalt anwendet und für die Parteien bindende Entscheidungen in der Sache fällt (vgl. BGE 118 Ia 473 E. 5a S. 478; BGE 124 II 58 E. 1c S. 63). Es muss über umfassende Kognition in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht verfügen (vgl. BGE 123 I 87 E. 3a S. 90; BGE 126 I 33 E. 2a S. 34 und 144 E. 3c S. 152; zum Ganzen auch: BGE 139 III 98 E. 4.2 S. 104 f.).
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Erwägung 3.4 | |
3.4.1 Nach § 16 Abs. 1 und 4 des Einführungsgesetzes des Kantons Thurgau vom 3. Juli 1991 zum Schweizerischen Zivilgesetzbuch (EG ZGB/TG; RB 210.1) wählt der Regierungsrat die Mitglieder der KESB und bestimmt deren Präsidenten. Die Wahl durch den Regierungsrat statt durch den Grossen Rat bzw. durch das Volk genügt für sich allein genommen nicht, um der KESB die Eigenschaft des unabhängigen Gerichts abzuerkennen (siehe dazu die Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte [EGMR] 23695/02 Clarke gegen Grossbritannien vom 25. August 2005 § 1; 10328/83 Belilos gegen die Schweiz vom 29. April 1988 § 66; 8790/79 Sramek gegen Österreich vom 22. Oktober 1984, Serie A Bd. 84 § 38; 7819/77 / 7878/77 Campbell und Fell gegen Grossbritannien vom 28. Juni 1984, Serie A Bd. 80 § 79; siehe dazu auch: GEROLD STEINMANN, in: Die schweizerische Bundesverfassung, 3. Aufl. 2014, N. 15 zu Art. 30 BV). § 32 der Verfassung des Kantons Thurgau vom 16. März 1987 (KV/TG; SR 131.228) setzt die Amtsdauer der Personen und Behördenmitglieder, die vom Volk oder vom Grossen Rat gewählt werden oder für die das Gesetz die Wahl auf Amtsdauer vorsieht, auf vier Jahre fest. Zwar ist die Amtsdauer der Mitglieder der KESB nicht ausdrücklich im Gesetz erwähnt; doch ergibt sich aus den entsprechenden Wahlbeschlüssen des Regierungsrates, dass die Behördemitglieder der KESB auf eine Amtsdauer von vier Jahren gewählt sind (Rechenschaftsbericht des Obergerichts des Kantons Thurgau [RBOG] 2013 Nr. 1). § 16 Abs. 1 EG ZGB/TG hält ausdrücklichfest, dass der KESB gerichtliche Unabhängigkeit im Sinn von Art. 6 Ziff. 1 EMRK zukommt. Um die gerichtliche Unabhängigkeit zu wahren, übt denn auch nicht der Regierungsrat, sondern das Obergericht die fachliche Aufsicht über die KESB aus und erlässt die nötigen Bestimmungen (§ 11c Abs. 2 EG ZGB/TG). Einzig die administrative Aufsicht obliegt dem Regierungsrat (§ 11 Abs. 1 Ziff. 3 EG ZGB/TG). Die Entlöhnung der Mitglieder der KESB richtet sich nach der Verordnung des Grossen Rates vom 18. November 1998 über die Besoldung des Staatspersonals (Besoldungsverordnung; RB 177.2; §§ 34 ff.). Die KESB befasst sich nur mit den ihr durch das Bundesrecht zugewiesenen Bereichen, womit sich ihre sachliche Zuständigkeit im Wesentlichen auf den Kindes- und Erwachsenenschutz beschränkt (Art. 3 Abs. 1 EG ZGB/TG). Sie erforscht den Sachverhalt von Amtes wegen (Art. 446 Abs. 1 ZGB) und wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 446 Abs. 4 ZGB). Diese Verfahrensgrundsätze gelten auch für das Verfahren vor der gerichtlichen Beschwerdeinstanz (Art. 450-450e ZGB; HERMANN SCHMID, Erwachsenenschutz, 2010, N. 5 zu Art. 450 ZGB; DANIEL STECK, in: Basler Kommentar, Zivilgesetzbuch, Bd. I, 5. Aufl. 2014, N. 13 zu Art. 450 ZGB) und damit kraft des in Art. 439 Abs. 3 ZGB enthaltenen Verweises auf diese Bestimmungen auch für das Beschwerdeverfahren gemäss Art. 439 ZGB.
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3.4.2 Zusammenfassend ergibt sich demnach, dass die Kompetenz der KESB auf einem Gesetz beruht. Sie ist gegenüber anderen Behörden und den Parteien unabhängig und in der Rechtsprechung nicht weisungsgebunden. Der streitgegenständliche Entscheid fällt in ihre sachliche Zuständigkeit; das Verfahren ist justizmässig durchgeführt worden und war nicht per se unfair. Ausserdem beruht der Entscheid der KESB auf vollständiger Sachverhaltsermittlung und freier umfassender Rechtsanwendung, mithin auf einer umfassenden Kognition in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht. Schliesslich hat die KESB einen begründeten bzw. bindenden Entscheid über eine konkrete Streitfrage - hier: die Entlassung aus der Klinik - getroffen. Sie ist somit - entgegen der Auffassung der Beschwerdeführerin - ein Gericht im Sinn von Art. 30 Abs. 1 BV, Art. 6 Ziff. 1 bzw. Art. 5 Ziff. 4 EMRK und Art. 439 Abs. 1 ZGB.
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Erwägung 4 | |
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Erwägung 4.2 | |
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4.2.2 Nach Art. 30 Abs. 1 BV sowie Art. 6 Ziff. 1 EMRK hat jede Person Anspruch darauf, dass ihre Sache von einem unparteiischen, unvoreingenommenen und unbefangenen Richter unter Einschluss weiterer am Entscheid wesentlich beteiligter Gerichtspersonen (insbesondere Gerichtsschreibern) ohne Einwirken sachfremder Umstände entschieden wird. Die Garantie des verfassungsmässigen Richters soll zu der für einen korrekten und fairen Prozess erforderlichen Offenheit des Verfahrens im Einzelfall beitragen und damit ein gerechtes Urteil ermöglichen. Für eine Ablehnung gestützt auf die vorgenannten Bestimmungen braucht nicht nachgewiesen zu werden, dass die Person tatsächlich befangen ist (BGE 134 I 20 E. 4.2 S. 21; BGE 133 I 1 E. 6.2 S. 6; BGE 131 I 113 E. 3.4 S. 116). Die Garantie wird verletzt, wenn bei objektiver Betrachtung Gegebenheiten vorliegen, die den Anschein der Befangenheit oder die Gefahr der Voreingenommenheit zu begründen vermögen. Solche Umstände können entweder in einem bestimmten Verhalten der betreffenden Gerichtsperson oder in gewissen äusseren Gegebenheiten funktioneller und organisatorischer Natur begründet sein. Mit früherem Mitwirken des Richters in Angelegenheiten einer Partei allein lässt sich dessen Befangenheit und damit eine Verletzung von Art. 30 Abs. 1 BV bzw. Art. 6 Ziff. 1 EMRK nicht begründen (BGE 131 I 113 E. 3.4 f. S. 116 f.; BGE 117 Ia 372 E. 2c S. 374 mit Hinweisen). Entscheidendes Kriterium ist, ob bei objektiver Betrachtungsweise der Ausgang des Verfahrens als noch offen erscheint (zum Ganzen: BGE 140 I 240 E. 2.2 S. 242; BGE 140 III 221 E. 4.1 S. 221 f.; BGE 137 I 227 E. 2.1 S. 229; Urteil 1B_297/2013 vom 11. Oktober 2013 E. 2.2; je mit Hinweisen).
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Erwägung 4.3 | |
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4.3.2 Die KESB hat am 2. Juni 2016 darüber befunden, ob die ärztlich fürsorgerisch untergebrachte Beschwerdeführerin in der Klinik zurückbehalten werden muss (vgl. Art. 429 ZGB); sie hat dies bejaht. Hierfür waren die tatsächlichen Verhältnisse im Zeitpunkt des Entscheides vom 2. Juni 2016 massgebend. Demgegenüber basierte der Entscheid vom 11. August 2016 auf den in jenem Zeitpunkt aktuellen tatsächlichen Verhältnissen. Ausserdem war die KESB als Beschwerdeinstanz verpflichtet, ein Gutachten einzuholen (Art. 439 Abs. 3 i.V.m. Art. 450e Abs. 3 ZGB; PHILIPPE MEIER, Droit de la protection de l'adulte, Art. 360-456 CC, 2016, S. 651 Rz. 1352; GEISER/ETZENSBERGER, in: Basler Kommentar, a.a.O, N. 48 zu Art. 439 ZGB; in diesem Sinne auch SCHMID, a.a.O., N. 18 zu Art. 439 ZGB), was sie im vorliegenden Fall denn auch getan hat. Angesichts der unterschiedlichen tatsächlichen Verhältnisse, die im jeweiligen Verfahren zu beurteilen waren, und des gesetzlichen Beweiserfordernisses im Beschwerdeverfahren kann nicht gesagt werden, der Ausgang des Beschwerdeverfahrens sei aufgrund der identischen Besetzung nicht mehr offen gewesen. Auch die Mitwirkung der Präsidentin in früheren die Beschwerdeführerin betreffenden Verfahren vermag nach dem Gesagten eine Befangenheit nicht zu begründen (E. 4.2.2). Der Vorwurf der Verletzung von Art. 30 Abs. 1 BV bzw. Art. 6 Ziff. 1 oder Art. 5 Ziff. 4 EMRK erweist sich als unbegründet. (...)
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