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Bearbeitung, zuletzt am 15.03.2020, durch: Sabiha Akagündüz, A. Tschentscher | |||
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57. Urteil des Kassationshofes vom 26. November 1993 i.S. X. gegen Staatsanwaltschaft des Kantons Zürich (Nichtigkeitsbeschwerde) | |
Regeste |
Art. 181, Nötigung durch andere Beschränkung der Handlungsfreiheit. |
Wer eine gesenkte Bahnschranke mit Ketten verriegelt, den Rotor mit Schnelleim lahmlegt und dadurch den Strassenverkehr rund 10 Minuten blockiert, begeht eine Nötigung (E. 3a). Diese ist nicht gerechtfertigt durch den damit bezweckten politisch-moralischen Appell (E. 3b). | |
Sachverhalt | |
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B.- Der Einzelrichter in Strafsachen des Bezirksgerichts Winterthur sprach X. am 26. August 1992 vom Vorwurf der Nötigung (Art. 181 StGB) und der fahrlässigen Störung von Betrieben, die der Allgemeinheit dienen (Art. 239 Ziff. 2 StGB), frei.
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Das Obergericht des Kantons Zürich bestätigte am 20. April 1993 auf die Berufung der Staatsanwaltschaft den Freispruch vom Vorwurf der fahrlässigen Störung von Betrieben, die der Allgemeinheit dienen. Es sprach X. aber der Nötigung im Sinne von Art. 181 StGB schuldig und bestrafte ihn deswegen mit einer Busse von Fr. 500.--, bedingt vorzeitig löschbar bei einer Probezeit von einem Jahr.
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C.- Der Gebüsste führt eidgenössische Nichtigkeitsbeschwerde mit dem Antrag, das Urteil des Obergerichts vom 20. April 1993 sei aufzuheben und die Sache zu seiner Freisprechung vom Vorwurf der Nötigung an die Vorinstanz zurückzuweisen.
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Das Bundesgericht zieht in Erwägung: | |
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a) Der Einzelrichter begründete den Freispruch damit, dass das Vorgehen angesichts der gegebenen Umstände nicht der Anwendung von Gewalt oder der Androhung ernstlicher Nachteile gleichgestellt ![]() | 6 |
b) Die Vorinstanz vertritt demgegenüber die Auffassung, dass der Beschwerdeführer den straflosen Bereich der Beschränkung der Handlungsfreiheit anderer überschritten und damit, auch bei der aus rechtsstaatlichen Gründen gebotenen restriktiven Auslegung der Generalklausel der "anderen Beschränkung" der Handlungsfreiheit, den Tatbestand von Art. 181 StGB erfüllt habe. Viele Verkehrsteilnehmer seien im regen morgendlichen Berufsverkehr durch die Aktion gezwungen worden, rund 10 Minuten länger als durch den Bahnverkehr bedingt vor den Bahnschranken zu warten oder aber Umwege einzuschlagen, was beides zumindest für einen Teil der betroffenen Verkehrsteilnehmer zur Folge gehabt habe, dass sie nicht rechtzeitig an ihr Ziel gelangen konnten. Es sei unerheblich, dass es den betroffenen Verkehrsteilnehmern möglich gewesen wäre, unter Benützung von einmündenden Querstrassen die Fahrt mit einem kleinen Umweg fortzusetzen; Art. 181 StGB schütze die Freiheit der Willensbildung und Willensbetätigung und sei daher gemäss BGE 108 IV 169 auch dann anwendbar, wenn der Betroffene sein Ziel auf einem anderen als dem von ihm gewollten Wege hätte erreichen können. Rechtswidrigkeit sei gegeben, weil der Beschwerdeführer nicht berechtigt gewesen sei, auf öffentlichem Grund ein Hindernis für Fahrzeuge zu errichten und den morgendlichen Berufsverkehr ganz erheblich zu behindern. Daran ändere nichts, dass er nach seiner Darstellung mit der Aktion beabsichtigt habe, die Verkehrsteilnehmer aus dem gewohnten Denkschema hinauszustossen und ihnen klarzumachen, dass sie über den Golfkrieg nachdenken sollten, welches Ziel nach Meinung des Beschwerdeführers etwa mit ![]() | 7 |
Die Vorinstanz betrachtet das Verschulden des Beschwerdeführers gesamthaft als leicht, auch wenn er eher provoziert als demonstriert habe, und berücksichtigt seine glaubhaft dargelegte pazifistische Grundhaltung, die sich in religiös-sozialem Umfeld entwickelt habe und sich auch in seiner beruflichen Tätigkeit als Psychiatriepfleger sowie in seinem politischen Engagement zeige, als achtenswerten Beweggrund strafmildernd.
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c) Der Beschwerdeführer wirft die Frage auf, "ob ein aus unbestrittenermassen pazifistischen Gründen gegen den Golfkrieg gerichteter politisch-moralischer Appell, dem durch eine Blockadeaktion vor einem Bahnübergang für die Dauer von 10 Minuten eine grössere kommunikative Wirkung verschafft und womit für eine Grosskundgebung in Bern mobilisiert werden sollte, eine strafbare "Beschränkung der Handlungsfreiheit" im Sinne von Art. 181 StGB darstellt". Er verneint dies. Die Tatbestandsvariante der Nötigung durch andere Beschränkung der Handlungsfreiheit sei "nicht anzuwenden", da sie dem Bestimmtheitsgebot nicht genüge. Auch bei Ablehnung dieser Auffassung sei sein Verhalten nicht tatbestandsmässig.
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Der Beschwerdeführer setzt sich sodann mit den "Kommunikationsbedingungen politischer Minderheiten" auseinander. Minderheiten seien "in hohem Masse auf appellative Ausdrucksformen im öffentlichen Raum angewiesen", "um überhaupt öffentlichen Anliegen, die keine institutionalisierten Funktionsträger haben, eine gewisse Aufmerksamkeit zu verschaffen". Im Lichte des Grundrechts der Meinungsäusserungsfreiheit als sogenanntes Kommunikationsgrundrecht sollen für die öffentliche Meinungsäusserung "auch durch unkonventionelle Mittel möglichst grosse Freiräume eröffnet werden". Mit der Blockadeaktion habe der Beschwerdeführer, "begleitet von Pressefotografen und im Vertrauen auf einen Multiplikatoreffekt qua Medienecho, einen expressiven Appell an eine breitere Öffentlichkeit gerichtet". Eine Fahrtbehinderung von ![]() | 10 |
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b) Die problematisch weite Umschreibung des Straftatbestandes von Art. 181 StGB hat im weiteren zur Folge, dass nicht jedes tatbestandsmässige Verhalten bei Fehlen von Rechtfertigungsgründen auch rechtswidrig ist. Vielmehr bedarf die Rechtswidrigkeit bei Art. 181 StGB einer zusätzlichen, besonderen Begründung. Eine Nötigung ist dann unrechtmässig, wenn das Mittel oder der Zweck unerlaubt ist oder wenn das Mittel zum angestrebten Zweck nicht im richtigen Verhältnis steht oder wenn die Verknüpfung zwischen ![]() | 12 |
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a) Das Vorgehen des Beschwerdeführers ist ein der Anwendung von Gewalt im Sinne von Art. 181 StGB ähnliches Nötigungsmittel. Er hat die aus Bahnbetriebsgründen gesenkten Bahnschranken mit Ketten verriegelt und den Rotor mit Schnelleim lahmgelegt. Dieses Vorgehen kommt der Gewalt näher als das unbefugte Verweilen von Personen in einem Sitzungsraum (BGE 107 IV 113 ff.) und selbst als die Bildung eines sogenannten Menschenteppichs (BGE 108 IV 165 ff.). Allerdings spielt auch die Dauer der Behinderung eine Rolle, und reicht eine nur kurzfristige Hinderung an der Weiterfahrt (dazu BGE 108 IV 169 Mitte) nicht aus. Eine Blockierung des Verkehrs während rund 10 Minuten genügt indessen zur Tatbestandserfüllung (siehe auch BGE 108 IV 165 ff.), wenn die Aktion im Sinne einer Blockade gerade auf die Behinderung des Verkehrs abzielt. Dass es den betroffenen Verkehrsteilnehmern möglich gewesen wäre, unter Benützung der beidseits des Bahnübergangs einmündenden Querstrassen mit einem kleinen Umweg an ihr Ziel zu gelangen, ist unerheblich. Art. 181 StGB schützt die Freiheit der Willensbildung und Willensbetätigung und ist auch dann anwendbar, wenn der Betroffene sein Ziel auf einem anderen als dem von ihm gewollten Wege hätte erreichen können (BGE 108 IV 169). Im übrigen ging es dem Beschwerdeführer ja gerade auch darum, dass sich ein möglichst grosser Stau bildete, auf dass darüber und damit auch über sein mit der Aktion vertretenes Anliegen in den Medien berichtet werde.
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b) Nur die wenigen an der Spitze der Fahrzeugkolonne wartenden Verkehrsteilnehmer konnten das vom Beschwerdeführer hochgehaltene Transparent, auf dem "Stopp dem Golfkrieg" gefordert und auf eine nationale Demonstration in Bern aufmerksam gemacht wurde, überhaupt wahrnehmen. Die Aktion verfehlte damit gegenüber ![]() | 15 |
c) Die Verurteilung des Beschwerdeführers steht entgegen seiner Auffassung nicht im Widerspruch zu BGE 107 IV 113 ff. und BGE 108 IV 165 ff.
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aa) BGE 108 IV 165 ff., der die Behinderung der Besucher einer Waffenschau in Winterthur durch Bildung eines sogenannten "Menschenteppichs" zum Gegenstand hat, ist teilweise auf Zustimmung, teilweise auf Kritik und Ablehnung gestossen (Übersicht bei NICCOLÒ RASELLI, Menschenteppich: Grundrecht oder Nötigung? in: plädoyer 1990 Heft 6 S. 44 ff.; sehr eingehend zum "Menschenteppich"-Fall und kritisch zu den Entscheiden des Zürcher Obergerichts und des Bundesgerichts MARC SPESCHA, Rechtsbruch und sozialer Wandel, Diss. Zürich 1988, S. 187 ff., 202 ff.). Das Bundesgericht hat in BGE 108 IV 165 ff. die Verurteilung wegen Nötigung entgegen den Bemerkungen des Beschwerdeführers nicht massgeblich mit der "Prangerwirkung" der von den Verantwortlichen des "Menschenteppichs" auf Plakaten herausgegebenen Parole "Wer über uns geht, geht auch über Leichen" bestätigt. Gegenstand jenes ![]() | 17 |
bb) In der Intensität des Nötigungsmittels "Menschenteppich" liegt auch ein wesentlicher Unterschied zu dem in BGE 107 IV 113 ff. beurteilten Fall betreffend das unrechtmässige Verweilen von 20 Studenten in einem Besprechungsraum, in dem eine Fakultätssitzung abgehalten werden sollte, die in der Folge entsprechend den getroffenen Vorbereitungen in einen anderen Raum verlegt wurde. Das Bundesgericht erachtete in jenem Fall das eingesetzte Mittel nicht als hinreichend intensiv, um Nötigung anzunehmen, hielt aber den Tatbestand der Hinderung einer Amtshandlung (Art. 286 StGB) für erfüllt.
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cc) Allerdings hat das Bundesgericht in beiden Entscheidungen auch auf die Dauer der Behinderung hingewiesen. Dabei kann der Eindruck entstehen, dass es eine Behinderung von 10-15 Minuten in BGE 107 IV 113 ff. als nicht ausreichend, in BGE 108 IV 165 ff. im Widerspruch dazu aber als genügend erachtet habe. Die Dauer der Behinderung ist indessen nur von Bedeutung, soweit sie erstens Rückschlüsse auf die Intensität des eingesetzten Nötigungsmittels zulässt und sie zweitens das behindernde Verhalten noch als Bagatelle oder als sozialadäquat erscheinen lässt, was wiederum wesentlich einerseits von der Art des eingesetzten Mittels und andererseits ![]() | 19 |
d) Indem der Beschwerdeführer durch ein der Anwendung von Gewalt ähnliches Mittel den morgendlichen Berufsverkehr für die Dauer von rund 10 Minuten blockierte, um medienwirksam auf eine bevorstehende Demonstration gegen den Golfkrieg hinzuweisen, machte er sich auch unter der gebotenen Berücksichtigung seiner verfassungsmässigen Rechte der Nötigung im Sinne von Art. 181 StGB schuldig.
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