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Bearbeitung, zuletzt am 15.03.2020, durch: DFR-Server, A. Tschentscher | |||
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2. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes i.S. X. und Mitb. gegen Staatsanwaltschaft des Kantons Aargau (Nichtigkeitsbeschwerde) |
6S.118/2002 vom 25. September 2002 | |
Regeste |
Art. 181 StGB (Nötigung); Art. 32-34 StGB (Rechtfertigungsgründe); Wahrnehmung berechtigter Interessen; Art. 20 StGB (Verbotsirrtum); Art. 48 Ziff. 2, Art. 63 StGB (Strafzumessung). |
Prüfung der Rechtfertigungsgründe der Wahrnehmung berechtigter Interessen, der Notstandshilfe, der Putativnotwehr und der Gesetzespflicht (E. 3). Rechtswidrigkeit der Nötigung (E. 3.4-3.7). |
Voraussetzung für den Rechtfertigungsgrund der Wahrnehmung berechtigter Interessen ist grundsätzlich, dass zuvor der Rechtsweg mit legalen Mitteln beschritten und ausgeschöpft worden ist. Die inkriminierte Handlung muss ein zum Erreichen des angestrebten berechtigten Ziels notwendiges und angemessenes Mittel darstellen und offenkundig weniger schwer wiegen als die Interessen, die der Täter zu wahren sucht. Dies gilt auch, wenn vermeintliche Missstände öffentlich gemacht werden sollen (E. 3.3). |
Verbotsirrtum (E. 4). |
Substanziierungsanforderungen der Nichtigkeitsbeschwerde (E. 5). |
Strafzumessung (E. 6). | |
Sachverhalt | |
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B.- Auf Einsprache der Gebüssten hin sprach das Bezirksgericht Zurzach am 3. Mai 2000 zwei Angeklagte der mehrfachen, teilweise ![]() | 2 |
C.- Gegen das Urteil des Bezirksgerichtes Zurzach erhoben die 37 Verurteilten Berufung. Mit Entscheid vom 23. Mai 2001 hiess das Obergericht (2. Strafkammer) des Kantons Aargau die Berufung von Y. teilweise gut. Es sprach ihn von der Anklage der mehrfachen Hinderung einer Amtshandlung frei und verurteilte ihn wegen mehrfacher, teilweise versuchter Nötigung zu einer Busse von Fr. 1'500.-. Im Übrigen wurden die Berufungen abgewiesen.
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D.- Die Verurteilten beantragen mit eidgenössischer Nichtigkeitsbeschwerde die Aufhebung des obergerichtlichen Entscheides. Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab.
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Aus den Erwägungen: | |
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2.1 Gemäss Art. 181 StGB wird wegen Nötigung mit Gefängnis oder mit Busse bestraft, wer jemanden durch Gewalt, Androhung ernstlicher Nachteile oder durch andere Beschränkung seiner Handlungsfreiheit nötigt, etwas zu tun, zu unterlassen oder zu dulden. Das Zwangsmittel der "anderen Beschränkung der Handlungsfreiheit" muss, um tatbestandsmässig zu sein, das üblicherweise geduldete Mass an Beeinflussung in ähnlicher Weise eindeutig überschreiten, wie es für die im Gesetz ausdrücklich genannten Zwangsmittel der Gewalt und der Androhung ernstlicher Nachteile gilt (BGE 119 IV 301 E. 2a S. 305 mit Hinweisen).
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Als geschütztes Rechtsgut von Art. 181 StGB gilt nach der Bundesgerichtspraxis die Handlungsfreiheit bzw. die Freiheit der ![]() | 7 |
2.2 In BGE 107 IV 113 E. 3b S. 116 hat das Bundesgericht die Tatbestandsvariante der "anderen Beschränkung der Handlungsfreiheit" als "gefährlich weit" bezeichnet. Sie müsse aus rechtsstaatlichen Gründen einschränkend ausgelegt werden. Die 5-10 Minuten dauernde (politisch motivierte) Weigerung einer 20-köpfigen Studentendelegation, das Sitzungszimmer für eine Fakultätssitzung zu räumen, beurteilte der Kassationshof als nicht tatbestandsmässig (BGE 107 IV 113 E. 3c S. 117). Als Nötigung gilt hingegen die massive akustische Verhinderung eines öffentlichen Vortrages durch organisiertes und mit Megaphon unterstütztes "Niederschreien" (BGE 101 IV 167 E. 2b S. 170). Ebenso hat das Bundesgericht die Bildung eines "Menschenteppichs" durch 24 Demonstranten vor dem Zugang zur militärischen Ausstellung "W 81" auf dem Gelände der Winterthurer Eulachhalle als Nötigung qualifiziert. Die politische Aktion (bei der Transparente mit der Aufschrift "Wer über uns geht, geht auch über Leichen" aufgestellt wurden) verhinderte während ca. 15 Minuten die Wegfahrt eines Motorfahrzeuges und behinderte den Zugang zur Ausstellung für Fussgänger (BGE 108 IV 165; vgl. dazu kritisch NICCOLÒ RASELLI, Menschenteppich: Grundrecht oder Nötigung?, in: Plädoyer 1990 6 S. 44 ff.; MARC SPESCHA, Rechtsbruch ![]() | 8 |
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2.4 Gemäss den verbindlichen tatsächlichen Feststellungen der Vorinstanz haben 29 der beschwerdeführenden Personen am 9. März 1997 die Zufahrtsgeleise des Kernkraftwerks (KKW) Beznau blockiert. Sie besetzten die Gleise, einige Personen ketteten sich mit Handschellen an diese an, und sie errichteten einen improvisierten ![]() | 10 |
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Es bleibt zu prüfen, ob das Vorbringen, die Beschwerdeführer seien gegen rechtswidriges Verhalten der Kernkraftwerkbetreiber eingeschritten, die Tatbestandsmässigkeit dahinfallen lässt.
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2.6 Zwar vertreten die Beschwerdeführer die Auffassung, es liege "auf der Hand", dass es sich bei "Transporten von abgebrannten nuklearen Brennelementen in die Wiederaufbereitung" um "durch die Rechtsordnung missbilligtes" Verhalten handle. Sie erläutern diese Auffassung jedoch nicht näher. Insbesondere legen sie nicht dar, gegen welche Rechtsnormen die fraglichen Transporte ihrer Ansicht nach verstiessen. Noch viel weniger wird begründet, inwiefern ![]() | 13 |
Gemäss den für den Kassationshof verbindlichen Feststellungen der Vorinstanz wurden zwischen September 1995 und April 1998 im Transportverkehr mit den Wiederaufbereitungsanlagen Sellafield/GB bzw. La Hague/F im Innern von Transportbehältern und Waggons zwar vereinzelte Grenzwertüberschreitungen gemessen. Es wurden jedoch keine Aussenkontaminationen der Fahrzeuge und Behälter konstatiert. Bei radiologischen Untersuchungen an 151 SBB-Mitarbeitern, die regelmässig in unmittelbarer Nähe von Transportcontainern und Waggons arbeiteten, wurde denn auch keine erhöhte Strahlenexposition nachgewiesen. Gemäss den Feststellungen der HKS, auf die sich die Vorinstanz stützt, hat auch für die Anwohner der Geleise keine Gefährdung durch radioaktive Strahlung bestanden.
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2.7 Der Umstand, dass der Transport von nuklearen Brennelementen zur Wiederaufbereitung gegen die umweltpolitischen und ideellen Überzeugungen der Beschwerdeführer verstösst, lässt ihn nicht als rechtswidrig erscheinen und entzieht ihn auch nicht dem Schutzbereich von Art. 181 StGB. Aber selbst wenn sich (im betreffenden hängigen Verfahren) herausstellen sollte, dass die fraglichen Spezialtransporte gegen rechtliche Vorschriften verstiessen, folgte daraus nicht automatisch die Straflosigkeit der hier zu beurteilenden Blockade- und Störaktionen. Die Ansicht der Beschwerdeführer, die beanstandeten Vorkehren der Kernkraftwerkbetreiber seien rechtswidrig, ist zumindest umstritten. Von offensichtlich strafbarem Verhalten kann jedenfalls nicht die Rede sein. Dementsprechend haben die Beschwerdeführer ihre juristische Auffassung auf dem Rechtsweg prüfen zu lassen, bevor sie diese gegenüber den Betroffenen zwangsweise, unter Anwendung von nötigenden Mitteln, durchsetzen. Dies war den Beschwerdeführern umso mehr zuzumuten, als nach den verbindlichen Feststellungen der Vorinstanz von den blockierten Transporten keine unmittelbare Gefahr ausging, die ein ![]() | 15 |
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Nach dem Gesagten erweist sich die Bejahung des Nötigungstatbestandes durch die Vorinstanz als bundesrechtskonform.
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3. Die Beschwerdeführer berufen sich sodann auf den aussergesetzlichen Rechtfertigungsgrund der Wahrnehmung berechtigter Interessen sowie auf Putativnotwehr. Sie hätten Vorkehren behindert, welche "gegen schweizerisches Straf- und Verwaltungsrecht verstossen" hätten. Zwar werde nicht bestritten, dass Massnahmen, welche die Wiederherstellung der öffentlichen Ordnung bezwecken, grundsätzlich nur dem Staat zustehen sollen. "Entwickeln sich die staatlichen Organe aber zu Gehilfen von unrechtmässigen Vorgängen", müsse sich "der Bürger unter eingeschränkten Voraussetzungen gegen solche Vorgänge zur Wehr setzen können". Zu prüfen bleibt sodann, ob die eingesetzten Nötigungsmittel - vom Vorliegen besonderer Rechtfertigungsgründe abgesehen - rechtswidrig erscheinen (vgl. BGE 122 IV 322 E. 2a S. 326; BGE 120 IV 17 E. 2a/bb S. 20; BGE 119 IV 301 E. 2b S. 305 f.).
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3.1 In einem demokratischen Rechtsstaat sind politische und ideelle Anliegen grundsätzlich auf politischem Wege bzw. auf dem Rechtsweg zu verfolgen. Der blosse Umstand, dass die legalen politischen und rechtlichen Möglichkeiten ausgeschöpft erscheinen und die demokratisch legitimierten politischen Gremien bzw. Justizorgane ![]() | 19 |
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3.3 Lehre und Praxis anerkennen sodann gewisse (im Strafgesetzbuch nicht ausdrücklich geregelte) so genannte "übergesetzliche" bzw. "ausserstrafgesetzliche" Rechtfertigungsgründe. Dazu gehören namentlich notstandsähnliche Rechtfertigungsgründe wie die "rechtfertigende Pflichtenkollision", das "notstandsähnliche Widerstandsrecht" bzw. die "Wahrung" oder "Wahrnehmung berechtigter Interessen" (vgl. BGE 127 IV 122 E. 5c S. 135, 166 E. 2b S. 168 f.; BGE 126 IV 236 E. 8 S. 254; BGE 120 IV 208 E. 3a S. 213; BGE 103 IV 73 E. 6b S. 75, je mit Hinweisen; s. auch PHILIPP DOBLER, Recht auf demokratischen ![]() | 21 |
3.4 Die weite Umschreibung des Nötigungstatbestandes hat zur Folge, dass nicht jedes tatbestandsmässige Verhalten bei Fehlen von Rechtfertigungsgründen auch rechtswidrig ist. Vielmehr bedarf die Rechtswidrigkeit bei Art. 181 StGB einer zusätzlichen, besonderen Begründung. Eine Nötigung ist nur unrechtmässig, wenn das Mittel ![]() | 22 |
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3.7 Aus diesen Erwägungen ergibt sich auch, dass die eingesetzten Nötigungsmittel - über das Fehlen von besonderen Rechtfertigungsgründen hinaus - rechtswidrig erscheinen (vgl. BGE 122 IV 322 E. 2a S. 326; BGE 120 IV 17 E. 2a/bb S. 20; BGE 119 IV 301 E. 2b S. 305 f.). Die von den Beschwerdeführern gewählten Methoden der umweltpolitischen Auseinandersetzung stehen zum angestrebten Zweck in keinem sachgerechten Verhältnis. Wie dargelegt, übersteigt die Intensität und Dauer der Protestmassnahmen auch das duldbare Mass an politischer Einflussnahme in einem demokratischen Rechtsstaat. Die Nötigungshandlungen sind daher durch die verfassungsmässigen politischen Rechte nicht geschützt.
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3.8 Ebenso wenig liegt der Rechtfertigungsgrund der Gesetzes- bzw. Amtspflicht (Art. 32 StGB) oder Putativnotwehr (Art. 33 i.V.m. Art. 19 StGB) vor. Mangels Straftat waren die Voraussetzungen für eine private Festnahme (vgl. § 72 StPO/AG) nicht erfüllt. Putativnotwehr würde einen Sachverhaltsirrtum im Sinne von Art. 19 Abs. 1 StGB voraussetzen, nämlich die irrtümliche Annahme eines gegenwärtigen oder unmittelbar bevorstehenden rechtswidrigen Angriffes (BGE 122 IV 1 E. 2b S. 4 f.; BGE 93 IV 81 E. b S. 84 f., je mit Hinweisen). Wie sich den verbindlichen tatsächlichen Feststellungen der Vorinstanz entnehmen lässt, waren die Beschwerdeführer über den ![]() | 26 |
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4.2 Der blosse Umstand, dass die Beschwerdeführer einen Rechtsstandpunkt vertreten, der von der publizierten Bundesgerichtspraxis abweicht, begründet keinen Verbotsirrtum. Analoges gilt für den Hinweis auf die von "Greenpeace" in Auftrag gegebenen Gutachten. Zum einen handelt es sich bei der privaten Umweltschutzorganisation "Greenpeace Schweiz" (bzw. den von ihr beauftragten Privatgutachtern) nicht um eine für verbindliche Rechtsauskünfte ![]() | 29 |
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Demgegenüber legen die Beschwerdeführer nicht dar, bei welchen Verurteilten welche Normen oder Grundsätze des Bundesstrafrechtes unrichtig angewendet worden wären. Keiner der 37 Beschwerdeführer macht - auf seinen konkreten Fall bezogen - geltend, er sei zu Unrecht wegen Mittäterschaft verurteilt worden. Die Beschwerde enthält keine Ausführungen zu den einzelnen Tatbeiträgen und ihrer teilnahmerechtlichen Qualifikation und auch keine ausreichend substanziierten bzw. individualisierten Rügen der Verletzung von Bundesrecht. Insofern setzt sie sich auch mit den Erwägungen der kantonalen Urteile nicht auseinander und ist auf die Beschwerde nicht einzutreten. Eine Verletzung von Bundesrecht würde im Übrigen auch aus dem angefochtenen Urteil nicht ersichtlich. Dieses geht von einem zutreffenden Begriff der Mittäterschaft aus (vgl. dazu BGE 120 IV 17 E. 2d S. 22-24).
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6.1 Nach der Praxis des Bundesgerichtes bezieht sich der Begriff des Verschuldens im Sinne von Art. 63 StGB auf den gesamten Unrechts- und Schuldgehalt der konkreten Straftat. Im Rahmen der sog. "Tatkomponente" sind insbesondere folgende Faktoren zu beachten: das Ausmass des verschuldeten Erfolges, die Art und Weise der Herbeiführung dieses Erfolges, die Willensrichtung, mit der der Täter gehandelt hat, und die Beweggründe des Schuldigen. Die "Täterkomponente" umfasst das Vorleben, die persönlichen Verhältnisse sowie das Verhalten nach der Tat und im Strafverfahren. Geldstrafen bemisst der Richter je nach den Verhältnissen des Täters so, dass dieser durch die Einbusse die Strafe erleidet, die seinem ![]() | 36 |
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Die Höhe der ausgefällten Geldstrafen widerspricht auch BGE 111 IV 167 nicht. In jenem Fall war eine politisch motivierte Demonstration ("Bummelfahrt" aus Protest gegen Geschwindigkeitsbegrenzungen und andere verkehrspolitische Massnahmen des Bundesrates) des westschweizerischen Fahrlehrerverbandes und des "Trucker-Teams Schweiz" zu beurteilen, welche am 30. November 1984 auf den Autobahnen rund um Bern erfolgt war. Durch organisiertes ![]() | 38 |
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