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Bearbeitung, zuletzt am 15.03.2020, durch: Philippe Dietschi | |||
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22. Auszug aus dem Urteil der Strafrechtlichen Abteilung i.S. A. und Mitb. gegen Staatsanwaltschaft des Kantons Aargau (Beschwerde in Strafsachen) |
6B_498/2007 vom 3. April 2008 | |
Regeste |
Nötigung (Art. 181 StGB); Streikrecht (Art. 28 Abs. 3 BV, Art. 8 Abs. 1 lit. d UNO-Pakt I), Versammlungsfreiheit (Art. 22 BV, § 17 Abs. 1 KV/AG), Meinungsfreiheit (Art. 16 BV). | |
Sachverhalt | |
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B.a Der Präsident 3 des Bezirksgerichts Baden verurteilte A., B., C. und D. am 22. August 2006 wegen Nötigung im Sinne von Art. 181 StGB zu bedingt vollziehbaren Gefängnisstrafen von 14 Tagen und zu Bussen von 500 Franken. Die Verurteilten waren als Mitglieder der Geschäftsleitung der GBI massgeblich an der Planung und Vorbereitung der Aktion am Bareggtunnel beteiligt und, mit Ausnahme von C., auch an der Aktion selbst vor Ort anwesend.
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Vom Vorwurf der Störung des öffentlichen Verkehrs (Art. 237 StGB) wurden die vier Angeklagten freigesprochen. Das Verfahren wegen Verletzung von Verkehrsregeln durch Behinderung und Gefährdung des Verkehrs durch Abstellenlassen von Fahrzeugen auf der Fahrbahn einer Autobahn sowie durch das Betreten der Autobahn als Fussgänger wurde eingestellt. Der Freispruch vom Vorwurf der Störung des öffentlichen Verkehrs (Art. 237 StGB) wurde von der ersten Instanz damit begründet, dass zwar der objektive, nicht aber der subjektive Tatbestand erfüllt sei. Die Angeklagten hätten glaubhaft versichert, dass das Organisationskomitee im Rahmen seiner Möglichkeiten alles unternommen habe, um Unfälle zu verhindern. Damit fehle es an dem gemäss Art. 237 Ziff. 1 StGB ("...wissentlich...") erforderlichen direkten Vorsatz der konkreten Gefährdung mindestens eines Menschen. Ob allenfalls fahrlässige Störung des öffentlichen Verkehrs (Art. 237 Ziff. 2 StGB) vorliege, hat die erste Instanz - möglicherweise mangels einer entsprechenden Anklage - nicht geprüft. Das Verfahren gegen die vier Angeklagten wegen Verletzung von Verkehrsregeln wurde von der ersten Instanz mit der Begründung eingestellt, es liege keine grobe Verkehrsregelverletzung im Sinne von Art. 90 Ziff. 2 SVG vor, da die Angeklagten alles ihnen mögliche unternommen hätten, um Unfälle zu verhindern. Somit liege lediglich eine einfache Verkehrsregelverletzung im Sinne von Art. 90 Ziff. 1 SVG vor, die aber als Übertretung verjährt sei.
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B.b Die Verurteilten erhoben Berufung und beantragten darin ihre Freisprechung vom Vorwurf der Nötigung.
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Das Obergericht des Kantons Aargau wies mit Urteilen vom 25. Mai 2007 die Berufungen ab. Es änderte von Amtes wegen den erstinstanzlichen Entscheid im Strafpunkt, indem es die vier Angeklagten in Anwendung des am 1. Januar 2007 in Kraft getretenen neuen, milderen Rechts zu bedingten Geldstrafen von ![]() | 6 |
C. Die Verurteilten führen Beschwerden an das Bundesgericht mit den Anträgen, der Entscheid des Obergerichts sei aufzuheben und sie seien von Schuld und Strafe freizusprechen.
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D. Die Staatsanwaltschaft und das Obergericht des Kantons Aargau haben unter Hinweis auf die Ausführungen im angefochtenen Entscheid auf Vernehmlassung verzichtet.
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Aus den Erwägungen: | |
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4.1 Die in der Rechtsprechung als "gefährlich weit" bezeichnete Tatbestandsvariante der "anderen Beschränkung der Handlungsfreiheit" in Art. 181 StGB ist aus rechtsstaatlichen Gründen restriktiv auszulegen (BGE 119 IV 301 E. 2a; BGE 107 IV 113 E. 3b). Das Zwangsmittel der "anderen Beschränkung der Handlungsfreiheit" muss, um tatbestandsmässig zu sein, das üblicherweise geduldete Mass an Beeinflussung in ähnlicher Weise eindeutig überschreiten, wie es für die im Gesetz ausdrücklich genannten Zwangsmittel der Gewalt und der Androhung ernstlicher Nachteile gilt (BGE 129 IV 6 E. 2.1; BGE 119 IV 301 E. 2a mit Hinweisen).
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Die weite Umschreibung des Nötigungstatbestands von Art. 181 StGB hat zur Folge, dass nicht jedes tatbestandsmässige Verhalten bei Fehlen von Rechtfertigungsgründen auch rechtswidrig ist. Vielmehr bedarf die Rechtswidrigkeit bei Art. 181 StGB einer zusätzlichen, besonderen Begründung. Eine Nötigung ist unrechtmässig, wenn das Mittel oder der Zweck unerlaubt ist oder wenn das Mittel zum angestrebten Zweck nicht im richtigen Verhältnis steht oder wenn die Verknüpfung zwischen einem an sich zulässigen Mittel und einem erlaubten Zweck rechtsmissbräuchlich oder sittenwidrig ist (BGE 129 IV 6 E. 3.4; BGE 119 IV 301 E. 2b; BGE 108 IV 165 E. 3, je mit Hinweisen). Bei der Beurteilung der Rechtswidrigkeit ist den verfassungsmässigen Rechten der Beteiligten Rechnung zu tragen (BGE 129 IV 6 E. 3.4 mit Hinweisen).
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Aktionen und Bummelfahrten auf Autobahnen wurden vom Bundesgericht (in Bestätigung der letztinstanzlichen kantonalen Entscheide) auch schon als grobe Verkehrsregelverletzung im Sinne von Art. 90 Ziff. 2 SVG (BGE 111 IV 167; BGE 120 Ib 285) beziehungsweise als (fahrlässige) Störung des öffentlichen Verkehrs gemäss Art. 237 StGB (Urteil 6S.312/2003 vom 1. Oktober 2003) qualifiziert, wobei aus prozessualen Gründen nicht zu prüfen war, ob allenfalls (auch) Nötigung im Sinne von Art. 181 StGB hätte vorliegen können.
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4.3 Die Rechtsprechung zur Nötigung durch Blockadeaktionen findet in der Lehre teilweise, zumindest im Ergebnis, Zustimmung und stösst teilweise auf Ablehnung (siehe etwa betreffend BGE 108 IV 165 zustimmend HANS SCHULTZ, ZBJV 120/1984 S. 13; ablehnend NICCOLÒ RASELLI, Menschenteppich: Grundrecht oder Nötigung?, Plädoyer 1990 6 S. 44 ff.; betreffend BGE 119 IV 301 grundsätzlich zustimmend MARCEL A. NIGGLI, AJP 1994 S. 518 ff.; ablehnend MARC SPESCHA, Nötigung gemäss Art. 181 StGB - ![]() | 14 |
Erwägung 4.4 | |
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4.4.2 Im vorliegenden Fall wurden im Rahmen der von den Beschwerdeführern geplanten, vorbereiteten und organisierten Aktion zirka 30 Busse und zahlreiche weitere Motorfahrzeuge auf der Fahrbahn der Autobahn abgestellt und auf diese Weise ein Hindernis errichtet. Dies ist das Nötigungsmittel. Durch die Errichtung des Hindernisses wurden die übrigen Verkehrsteilnehmer genötigt, ![]() | 16 |
4.4.3 Geschütztes Rechtsgut von Art. 181 StGB ist nach der Rechtsprechung die Handlungsfreiheit beziehungsweise die Freiheit der Willensbildung und Willensbetätigung des Einzelnen (BGE 129 IV 6 E. 2.1 mit Hinweisen). Diese Freiheit der Willensbildung und Willensbetätigung ist strafrechtlich unabhängig von der Art der (legalen) Tätigkeit geschützt, welche der Betroffene nach seinem frei gebildeten Willen verrichten will. Geschützt ist damit auch die Freiheit des Einzelnen, den Willen der automobilen Fortbewegung zu betätigen. Durch die inkriminierte Aktion wurden indessen die Verkehrsteilnehmer für die Dauer von anderthalb Stunden und mehr nicht allein an dieser Fortbewegung, sondern vielmehr auch daran gehindert, ihren vielfältigen Verpflichtungen namentlich auch beruflicher Art nachzugehen.
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4.4.4 Allerdings kommt es auf den schweizerischen Strassen täglich aus verschiedenen Gründen zu Verkehrsbehinderungen und Staus. Solche können zum einen etwa wegen Verkehrsüberlastung, Baustellen, Unfällen und besonders hohem Verkehrsaufkommen bei Grossveranstaltungen entstehen. Zum andern kommt es in jüngerer Zeit vermehrt nach Sportveranstaltungen, namentlich nach wichtigen Fussballspielen, zu erheblichen Verkehrsbehinderungen, weil die Anhänger der siegreichen Mannschaft spontan gleichzeitig in grosser Zahl mit ihren Fahrzeugen etwa in den Innenstädten umherfahren und dabei gelegentlich auch anhalten, um mit den Insassen von anderen Fahrzeugen ihre Freude auszutauschen. Im erstgenannten Fall ist der Tatbestand der Nötigung offensichtlich schon deshalb nicht erfüllt, weil es keinen Täter gibt. Im zweitgenannten Fall handeln die feiernden Anhänger der siegreichen Mannschaft ![]() | 18 |
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Daran ändert die gebotene Berücksichtigung der hier in Betracht zu ziehenden verfassungsmässigen Rechte der Beteiligten, nämlich des Streikrechts, der Versammlungsfreiheit und der Meinungsäusserungsfreiheit, aus nachstehenden Gründen (siehe E. 5) nichts.
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5.1.1 Streik ist die kollektive Verweigerung der geschuldeten Arbeitsleistung zum Zwecke der Durchsetzung von Forderungen nach bestimmten Arbeitsbedingungen gegenüber einem oder mehreren Arbeitgebern (BGE 125 III 277 E. 3a). Ein Streik ist rechtmässig, wenn er von einer tariffähigen Organisation getragen ist, durch Gesamtarbeitsvertrag regelbare Ziele verfolgt, nicht gegen die Friedenspflicht verstösst und verhältnismässig ist (BGE 125 III 277 E. 3b; BGE 132 III 122 E. 4.4; Botschaft vom 20. November 1996 über eine neue Bundesverfassung, BBl BGE 1997 I 1 ff., S. 179 f.). Ein Streik wirkt sich nicht nur auf die Arbeitgeber, gegen die er sich richtet, sondern in mehr oder weniger ausgeprägtem Umfang auch auf Dritte aus. Das Ausmass dieser Auswirkungen hängt unter anderem davon ab, welcher Branche die Streikenden angehören. Ein Streik von Lokomotivführern beispielsweise wirkt sich sofort und in erheblichem Ausmass auch auf beliebige Dritte aus. Demgegenüber hat ein Streik von Bauarbeitern für Dritte weniger unmittelbar einschneidende Auswirkungen.
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Im Rahmen von Streiks werden in der Regel, aber nicht notwendigerweise auch Kundgebungen und Demonstrationen durchgeführt, die meist auf öffentlichem Grund stattfinden. Diese haben unter anderem den Zweck, eine breitere Öffentlichkeit über die Gründe und Ziele des Streiks zu informieren und auf diesem Wege auch Verständnis und gar Sympathie für die Anliegen der Streikenden zu gewinnen, wodurch zusätzlicher Druck auf den Arbeitskampfgegner, d.h. die Arbeitgeber, ausgeübt werden kann.
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Durch Demonstrationen im öffentlichen Raum werden Dritte, insbesondere Verkehrsteilnehmer, in mehr oder weniger ausgeprägtem Umfang behindert, wobei das Ausmass der Behinderung unter anderem vom Ort der Demonstration abhängt. Es ist naheliegend, dass Kundgebungen im Rahmen von Streiks an Orten durchgeführt werden, zu denen die Streikenden einen bestimmten Bezug ![]() | 25 |
5.1.2 Es kann entgegen der Meinung der Beschwerdeführer keine Rede davon sein, dass "die Aktionen", welche eine Gewerkschaft im Rahmen eines rechtmässigen Streiks "autonom" beschliesst und durchführt, "verfassungsmässig garantiert" und somit rechtmässig sind. Vielmehr ist stets zu prüfen, ob eine bei Gelegenheit eines rechtmässigen Streiks ergriffene Massnahme überhaupt ein Mittel des Arbeitskampfes und gegebenenfalls verhältnismässig und rechtmässig ist. So ist es etwa im Rahmen eines rechtmässigen Streiks den Streikposten erlaubt, arbeitswillige Arbeitnehmer auf friedliche Weise davon zu überzeugen zu versuchen, nicht zur Arbeit zu gehen (sog. "peaceful picketing"). Es ist den Streikposten aber auch im Rahmen eines rechtmässigen Streiks nicht gestattet, arbeitswilligen Arbeitnehmern, die sich nicht überzeugen lassen, den Zutritt zur Arbeit zu versperren (siehe BGE 132 III 122 E. 4.5.4 mit Hinweisen). Somit sind selbst die im Rahmen eines rechtmässigen Streiks gegen den Arbeitskampfgegner gerichteten Massnahmen nur rechtmässig, wenn sie verhältnismässig sind. Die Blockadeaktion am Bareggtunnel war nicht gegen den Arbeitskampfgegner, sondern gegen unbeteiligte Dritte gerichtet, die im Übrigen nichts zur Erfüllung der Forderung nach einem flexiblen Altersrücktritt beitragen konnten. Die Blockadeaktion stellt daher keine Arbeitskampfmassnahme dar, die unter der gebotenen Berücksichtigung des verfassungsmässigen Streikrechts rechtmässig sein könnte.
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5.2.1 Die von den Beschwerdeführern zu verantwortende Aktion am Bareggtunnel fand nicht auf dem Areal der Baustelle der dritten Röhre statt. Vielmehr wurde zielgerichtet der Verkehr auf den Fahrbahnen am Ost- und am Westportal der beiden bestehenden ![]() | 28 |
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5.3.1 Die Beschwerdeführer berufen sich nicht ausdrücklich auf dieses Grundrecht. Sie machen aber geltend, am Baregg sei den ![]() | 31 |
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6.1 Der aussergesetzliche Rechtfertigungsgrund der Wahrung berechtigter Interessen kann nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung nur angerufen werden, wenn die Tat ein notwendiges und angemessenes Mittel ist, um ein berechtigtes Ziel zu erreichen, die Tat also insoweit den einzigen möglichen Weg darstellt und offenkundig weniger schwer wiegt als die Interessen, die der Täter zu wahren sucht (BGE 127 IV 122 E. 5c, BGE 127 IV 166 E. 2b; BGE 126 IV 236 E. 4b mit Hinweisen). Diese Voraussetzungen sind hier nicht erfüllt. Die Blockadeaktion war nicht ein notwendiges Mittel und der einzige Weg, um den flexiblen Altersrücktritt ab 60 Jahren im Bauhauptgewerbe möglichst rasch durchzusetzen.
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6.2 Dass andere Schlussdemonstrationen am nationalen Streiktag nicht zu Verurteilungen geführt haben, weil überhaupt keine ![]() | 35 |
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6.5 Die Beschwerdeführer machen sinngemäss geltend, die Durchführung des nationalen Streiktages am 4. November 2002 sei eine ![]() | 38 |
6.6 Die Beschwerdeführer behaupten, gerade auch wegen der Aktion am Bareggtunnel habe wenige Tage später der Arbeitgeberverband eingelenkt. Daraus ziehen sie den Schluss, dass die Aktion notwendig und verhältnismässig gewesen sei. Der behauptete Kausalzusammenhang ist gemäss den Ausführungen im angefochtenen Entscheid mehr als zweifelhaft und nach der zutreffenden Auffassung der Vorinstanz jedenfalls rechtlich unerheblich. Eine Straftat, auch eine Nötigung, wird nicht dadurch rechtmässig, dass die Täter das damit angestrebte und grundsätzlich nachvollziehbare Fernziel erreichen.
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