Beschluß | |
des Ersten Senats vom 19. Oktober 1971
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-- 1 BvR 387/65 -- | |
in dem Verfahren über die Verfassungsbeschwerde des Bundesbahnassistenten Walter F... - Bevollmächtigte: Rechtsanwalt Dr. Karl Bähring, Stuttgart, Am Marktplatz 6, und Rechtsanwalt Adolf Ruccius, Göppingen, Wuhlstr. 31 - gegen a) das Urteil des Oberlandesgerichts Stuttgart vom 6. Juli 1964 - 3 Ss 124/64 -, b) das Urteil des Landgerichts Ulm vom 14. Januar 1965 - I Ns 333/62 -, c) den Beschluß des Oberlandesgerichts Stutgart vom 9. Juni 1963 - 3 Ss 373/65 -.
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Entscheidungsformel:
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Das Urteil des Oberlandesgerichts Stuttgart vom 6. Juli 1964 - 3 Ss 124/64 -, das Urteil des Landgerichts Ulm vom 14. Januar 1965 - I Ns 333/62 - und der Beschluß des Oberlandesgerichts Stuttgart vom 9. Juni 1965 - 3 Ss 373/65 - verletzen das Grundrecht des Beschwerdeführers aus Artikel 4 Absatz 1 des Grundgesetzes. Sie werden aufgehoben. Die Sache wird an das Oberlandesgericht Stuttgart zurückverwiesen.
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Das Land Baden-Württemberg hat die dem Beschwerdeführer erwachsenen notwendigen Auslagen zu erstatten.
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Gründe: | |
A. -- I. | |
Der Beschwerdeführer gehört der religiösen Vereinigung des evangelischen Brüdervereins an. Seine Ehefrau war ebenfalls Mitglied dieser Gemeinschaft. Die nach der Geburt des vierten Kindes unter akutem Blutmangel leidende Ehefrau lehnte es ab, sich ärztlichem Rat gemäß in eine Krankenhausbehandlung zu begeben und insbesondere eine Bluttransfusion vornehmen zu lassen. Ihr Ehemann unterließ es, seinen Einfluß auf seine Ehefrau im Sinne der ärztlichen Ratschläge geltend zu machen. Eine Heilbehandlung unterblieb; die Ehefrau, die bis zuletzt bei klarem Bewußtsein war, verstarb.
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1. Der Beschwerdeführer wurde deswegen durch Urteil des Schöffengerichts Geislingen/Steige vom 25. September 1962 wegen eines Vergehens der fahrlässigen Tötung zu acht Monaten Gefängnis verurteilt. Auf seine Berufung hin hob das Landgericht Ulm diese Entscheidung durch Urteil vom 7. November 1963 auf und sprach ihn frei: es sei nicht mit der erforderlichen Sicherheit zu klären, daß der Tod der Ehefrau durch die unterlassene Überführung in ein Krankenhaus verursacht worden sei. Auch ein Vergehen der unterlassenen Hilfeleistung sei nicht nachweisbar, weil dem Beschwerdeführer nicht zu widerlegen sei, daß sich seine Ehefrau aus eigenem Entschluß gegen eine im Krankenhaus vorzunehmende Bluttransfusion ausgesprochen habe; über diesen in voller geistiger Klarheit und Willensfähigkeit gefaßten Entschluß habe er sich nicht hinwegsetzen dürfen.
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Auf die Revision der Staatsanwaltschaft hob das Oberlandesgericht Stuttgart dieses Urteil am 6. Juli 1964 (MDR 1964, S. 1024) auf und verwies die Sache an die Vorinstanz zurück, weil das Landgericht die Voraussetzungen des § 330 c StGB verkannt habe: der Beschwerdeführer sei aus der ehelichen Lebensgemeinschaft zu dem für ihn zumutbaren Versuch verpflichtet gewesen, seine Ehefrau zur Einwilligung in die von den behandelnden Ärzten für notwendig erachtete Krankenhausbehandlung zu bewegen. Gegen dieses Ergebnis bestünden auch keine verfassungsrechtlichen Bedenken aus Art. 2 Abs. 2 und aus Art. 4 Abs. 1 GG.
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2. In der erneuten Hauptverhandlung hat das Landgericht Ulm den Beschwerdeführer durch Urteil vom 14. Januar 1965 wegen eines Vergehens der unterlassenen Hilfeleistung zu 200 DM Geldstrafe, ersatzweise zu 10 Tagen Gefängnis, verurteilt. Die dagegen eingelegte Revision des Beschwerdeführers hat das Oberlandesgericht durch Beschluß vom 9. Juni 1965 als offensichtlich unbegründet verworfen.
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Das Landgericht hat folgenden Sachverhalt festgestellt: Der Beschwerdeführer, von Beruf Bundesbahnassistent, sei in einem christlichen Elternhaus, in dem das religiöse Leben sehr gepflegt worden sei, aufgewachsen. Seine Eltern hätten der Evangelischen Landeskirche angehört; sein Vater habe selbst religiöse Versammlungen abgehalten. Seit dem Jahre 1948 habe er sich der Glaubensgemeinschaft des evangelischen Brüdervereins eng angeschlossen. Dies sei geschehen, als er, nach seiner Überzeugung durch das Gebet in dieser Gemeinschaft, von einem angeborenen Leiden geheilt worden sei. Bei den Versammlungen habe er seine spätere Ehefrau kennengelernt, die ebenfalls überzeugte Anhängerin dieser Gemeinschaft gewesen sei. Die im Jahre 1956 geschlossene Ehe sei harmonisch verlaufen und von beiden Ehegatten getreu den Geboten ihres Glaubens geführt worden. Ein patriarchalisches Verhältnis habe nicht bestanden; Probleme seien im gegenseitigen Einvernehmen gelöst worden. Die Ehefrau sei dabei willensmäßig der stärkere und auch nach ihrer ganzen Veranlagung der tatkräftige und führende Teil gewesen.
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In der Nacht zum 25. März 1962 habe die Ehefrau des Beschwerdeführers ihr viertes Kind zu Hause in Anwesenheit der Hebamme geboren. Wegen des nicht ganz regelmäßigen Verlaufs der Geburt habe diese die Zuziehung eines Arztes empfohlen. Schon bei früheren Geburten sei ein Arzt zugezogen worden; sonst sei in die Familie des Beschwerdeführers nie ein Arzt gerufen worden. In diesem zusammenhang habe die Ehefrau des Beschwerdeführers gegenüber der Hebamme erklärt, sie würde niemals in ein Krankenhaus gehen; eine Erklärung hierfür habe sie nicht abgegeben. Der von dem Beschwerdeführer herbeigerufene Arzt habe eine bestehende Blutarmut diagnostiziert und eine entsprechende Behandlung vorgenommen. Da sich in der Folgezeit der Zustand der Patientin verschlechtert habe, habe die Hebamme dem Beschwerdeführer nahegelegt, den Arzt nochmals zu rufen. Die Ehefrau habe sich dem jedoch widersetzt und mit dem Beschwerdeführer gebetet. Bei einem zweiten Besuch kurz danach habe der behandelnde Arzt angedeutet, falls sich der Zustand der Ehefrau nicht bessere, werde eine Überweisung in das Krankenhaus notwendig. Bei einem wenig später durchgeführten dritten Besuch habe der Arzt erkannt, daß Lebensgefahr gegeben sei, und dem Beschwerdeführer sowie seiner Ehefrau eine Einweisung ins Krankenhaus vorgeschlagen, damit eine Blutübertragung vorgenommen werden könne; er habe deutlich gemacht, daß sie ohne eine derartige Behandlung sterben könnte. Der Beschwerdeführer habe daraufhin dem Arzt bedeutet, daß seine Frau auch ohne Krankenhausbehandlung wieder gesund werde, wenn man sich an Gott um Hilfe wende und wenn man stark im Glauben sei; sie seien beide gläubige Menschen, die gelehrt worden seien, das Wort Gottes zu glauben und ihm zu vertrauen. Er selbst sei deshalb gegen eine Krankenhausbehandlung. Daraufhin habe er sich an seine Frau gewandt und erklärt, er überlasse ihr die Entscheidung, sie könne in ein Krankenhaus gehen, wenn sie wolle; in der Versammlung werde jedoch ein anderer Weg gelehrt, denn in der Hl. Schrift stehe: "Ist jemand krank, der rufe zu sich die Ältesten der Gemeinde und lasse über sich beten und das Gebet des Glaubens wird dem Kranken helfen." Die Ehefrau des Beschwerdeführers habe daraufhin erklärt, sie lehne die Behandlung im Krankenhaus ab und bitte darum, einen Bruder ihrer Religionsgemeinschaft zu rufen, damit dieser mit ihnen bete; dies sei auch geschehen. Kurze Zeit darauf sei die Ehefrau verstorben.
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Es sei deshalb davon auszugehen, daß die Ehefrau sowohl allgemein als unter Berücksichtigung ihres damaligen Zustandes in der Lage gewesen sei, selbst zu entscheiden, und daß sie die Bedeutung des Rates der Ärzte sowie die Folgen eines Handelns gegen deren Vorschläge habe erkennen können; ferner daß sie ihren eigenen, unabhängig von dem Willen des Beschwerdeführers getroffenen Entschluß genügend klar und konsequent zum Ausdruck gebracht habe. Somit könne nicht festgestellt werden, sie habe es dem Beschwerdeführer überlassen, für sie zu entscheiden. Damit habe die Entscheidung darüber, ob in die von den Ärzten vorgeschlagenen Maßnahmen eingewilligt werde, die ganze Zeit über ohne Einschränkungen ihr zugestanden.
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Wenn auch nach den ärztlichen Gutachten feststehe, "daß die Einweisung ins Krankenhaus und die Vornahme einer Bluttransfusion keine mit Sicherheit das Leben der Ehefrau des Angeklagten erhaltende Maßnahmen gewesen wären", so müsse doch auf Grund der Entscheidung des Oberlandesgerichts, an die das Landgericht gemäß § 358 StPO gebunden sei, die Verletzung der Hilfeleistungspflicht darin erblickt werden, daß der Beschwerdeführer es unterlassen habe, seinen Einfluß als Ehemann im Sinne der ärztlichen Ratschläge geltend zu machen, seine Ehefrau also nicht umzustimmen versucht, sondern ihre ablehnende Haltung durch den Hinweis auf die Lehren des Brudervereins noch gefördert habe. Somit hätte der Beschwerdeführer nur für seine Person eine Bluttransfusion ablehnen dürfen. Das was er für sich - in gleicher Weise wie seine Ehefrau in ihrer Person - hätte für richtig halten dürfen, habe er aber in dem Augenblick, wo es um seine Ehefrau ging, nicht mehr für richtig halten dürfen. Vielmehr hätte er ihr - entgegen seiner inneren Einstellung - anraten müssen, die Bluttransfusion vornehmen zu lassen. Dies sei ihm auch zumutbar gewesen. Seine religiösen Anschauungen hätten der ärztlichen Heilbehandlung nicht entgegengestanden. Auf Art. 4 GG könne er sich deshalb nicht berufen. Der Beschwerdeführer habe selbst nicht geltend gemacht, daß die Anschauungen des evangelischen Brüdervereins ihm und seiner Frau die Verbringung in das Krankenhaus zur Vornahme einer Bluttransfusion verboten hätten. Daher habe er die von der Rechtsordnung geforderte menschliche Hilfe ohne zwingende Gewissensnot nicht erbracht. Der Verbotsirrtum, in dem sich der Beschwerdeführer befunden habe, sei nicht entschuldbar.
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II.
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Mit der Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer die Verletzung seiner Grundrechte aus Art. 2 Abs. 1 und Art. 4 Abs. 1 GG.
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Er ist der Auffassung, daß es jedermann freistehe, ob er sich im Krankenhaus behandeln lassen wolle. Deshalb habe er seine Ehefrau auch nicht gegen ihren Willen ins Krankenhaus bringen dürfen. Die Handlungsfreiheit dürfe nicht unter Berufung auf allgemeine Vernunftgründe eingeschränkt werden, zumal öffentliche Interessen nicht berührt seien.
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Er habe auch nicht gezwungen werden dürfen, entgegen seiner Glaubensüberzeugung zu handeln. Es sei unzulässig, die "biblische Heilmethode" grundsätzlich abzulehnen und im Beschreiten dieser Heilmethode einen Verzicht auf Hilfeleistung zu erblicken. Auch dürfe diese Heilmethode im Endergebnis nicht als sittenwidrig gebrandmarkt werden.
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Zu der Verfassungsbeschwerde haben namens der Bundesregierung der Bundesminister der Justiz und namens der baden-württembergischen Landesregierung das Justizministerium Baden-Württemberg Stellung genommen.
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1. Der Bundesminister der Justiz hält die Verfassungsbeschwerde für begründet. Der Beschwerdeführer habe sein Verhalten streng nach seinem religiösen Glauben ausgerichtet und sich damit grundsätzlich im Bereich der durch Art. 4 Abs. 1 GG gewährleisteten Glaubensfreiheit bewegt. Eine Glaubens- oder Gewissensentscheidung setze die unbedingte innere Verpflichtung zu einem bestimmten Verhalten voraus (BVerfGE 12, 45 [55]). Daran fehle es aber nicht schon deshalb, weil der Glaube des Beschwerdeführers auch Bluttransfusionen zulasse. Einmal sei die Überzeugung des Beschwerdeführers dahin gegangen, daß das Beten um Gesundheit wirksamer als medizinische Hilfe sei, zum anderen habe das Landgericht verkannt, daß eine ernstzunehmende Glaubensüberzeugung der Ehefrau selbst vorgelegen habe. Im Hinblick auf Art. 4 Abs. 1 GG könne niemandem der Vorwurf gemacht werden, er habe die erforderliche Hilfe unterlassen, weil er - entgegen seiner eigenen Glaubenshaltung - den Hilfsbedürftigen nicht von der Unrichtigkeit seiner gleichgerichteten Glaubensentscheidung zu überzeugen versucht habe.
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Zwar könne sich derjenige, der aus seiner eigenen Glaubensüberzeugung ärztliche Eingriffe ablehnt, jedenfalls dann, wenn das Leben eines anderen bedroht ist, für die Unterlassung der erforderlichen Hilfeleistung nicht auf Art. 4 Abs. 1 GG berufen. Hier habe aber die Ehefrau des Beschwerdeführers als Trägerin des Grundrechts auf Leben selbst die für sie maßgebende Glaubensentscheidung getroffen und den Glauben in voller Kenntnis der äußerst bedrohlichen Umstände über ihr eigenes Leben gestellt. Dieser von seiner Ehefrau selbst als echte Lebensentscheidung getroffene Entschluß, den sie bei vollem Bewußtsein auch in dem strafrechtlich entscheidenden Zeitraum aufrechterhalten habe, habe dem Beschwerdeführer das Recht gegeben, ebenfalls seinem Glauben zu folgen.
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2. Das Justizministerium des Landes Baden-Württemberg hält die Verfassungsbeschwerde für unbegründet.
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Das Grundrecht der Glaubensfreiheit gelte nicht schrankenlos. Eine Beschränkung der Glaubensfreiheit erscheine jedenfalls möglich, wenn ihre Ausübung in Konflikt mit einer anderen Grundentscheidung der Verfassung gerate. Hier müsse eine Abwägung stattfinden. Im Wertsystem des Grundgesetzes nehme das Leben einen hervorragenden Platz ein. Diese besondere Bedeutung lasse es gerechtfertigt erscheinen, daß ein Ehegatte bei unmittelbar bestehender Lebensgefahr des anderen verpflichtet sei, alles zu versuchen, um ihn in einem sein Leben gefährdenden Entschluß umzustimmen. Diese Forderung widerspreche um so weniger Art. 4 Abs. 1 GG, als es dem Beschwerdeführer unbenommen geblieben sei, für die Genesung seiner Ehefrau zu beten. Dies habe jedoch nicht ausgeschlossen, daß er daneben seine Ehefrau zu beeinflussen versuchte, auch auf die nach den Regeln der ärztlichen Kunst zwingend gebotene menschliche Hilfe nicht zu verzichten. Ein anderes Verhalten widerspreche den allgemeinen sittlichen Grundanschauungen; es werde daher nicht mehr von Art. 4 Abs. 1 GG gerechtfertigt.
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Die Verfassungsbeschwerde ist begründet.
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I.
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Das Bundesverfassungsgericht hat im Rahmen der Verfassungsbeschwerde Urteile der ordentlichen Gerichte nicht in vollem Umfang auf Rechtsfehler zu überprüfen (BVerfGE 7, 198 [207]; 17, 302 [304]; 18, 85 [92 f.]). Im vorliegenden Fall ist nur zu prüfen, ob die angegriffenen Entscheidungen bei der Auslegung und Anwendung der Strafbestimmung des § 330 c StGB die Auswirkungen der Grundrechte auf diese Norm verkannt haben.
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Die Überprüfung der angefochtenen Entscheidungen ergibt, daß sie in unzulässiger Weise in das dem Beschwerdeführer zustehende Grundrecht auf Glaubens- und Bekenntnisfreiheit (Art. 4 Abs. 1 GG) eingreifen.
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1. Die Glaubensfreiheit ist nicht nur den Mitgliedern anerkannter Kirchen und Religionsgemeinschaften, sondern auch den Angehörigen anderer religiöser Vereinigungen gewährleistet. Auf die zahlenmäßige Stärke einer derartigen Gemeinschaft oder ihre soziale Relevanz kommt es nicht an. Das folgt aus dem für den Staat verbindlichen Gebot weltanschaulich-religiöser Neutralität (BVerfGE 18, 385 [386]; 19, 206 [216]; 24, 236 [246]) und dem Grundsatz der Parität der Kirchen und Bekenntnisse (BVerfGE 19, 1 [8]; 24, 236 [246]).
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2. In einem Staat, in dem die menschliche Würde oberster Wert ist, und in dem der freien Selbstbestimmung des Einzelnen zugleich ein gemeinschaftsbildender Wert zuerkannt wird, gewährt die Glaubensfreiheit dem Einzelnen einen von staatlichen Eingriffen freien Rechtsraum, in dem er sich die Lebensform zu geben vermag, die seiner Überzeugung entspricht. Insofern ist die Glaubensfreiheit mehr als religiöse Toleranz, d. h. bloße Duldung religiöser Bekenntnisse oder irreligiöser Überzeugungen (BVerfGE 12, 1 [3]). Sie umfaßt daher nicht nur die (innere) Freiheit zu glauben oder nicht zu glauben, sondern auch die äußere Freiheit, den Glauben zu manifestieren, zu bekennen und zu verbreiten (vgl. BVerfGE 24, 236 [245]). Dazu gehört auch das Recht des Einzelnen, sein gesamtes Verhalten an den Lehren seines Glaubens auszurichten und seiner inneren Glaubensüberzeugung gemäß zu handeln. Dabei sind nicht nur Überzeugungen, die auf imperativen Glaubenssätzen beruhen, durch die Glaubensfreiheit geschützt. Vielmehr umspannt sie auch religiöse Überzeugungen, die für eine konkrete Lebenssituation eine ausschließlich religiöse Reaktion zwar nicht zwingend fordern, diese Reaktion aber für das beste und adäquate Mittel halten, um die Lebenslage nach der Glaubenshaltung zu bewältigen. Andernfalls würde das Grundrecht der Glaubensfreiheit sich nicht voll entfalten können.
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3. Die Glaubensfreiheit ist nicht schrankenlos gewährleistet.
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a) Sie unterliegt zwar weder den Schranken des Art. 2 Abs. 1 GG noch denen des Art. 5 Abs. 2 GG.
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Art. 4 Abs. 1 GG erklärt die Glaubens-, Gewissens- und Bekenntnisfreiheit für unverletzlich (vgl. BVerfGE 12, 1 [4]). Er ist gegenüber Art. 2 Abs. 1 GG lex specialis. Die Auffassung, daß die Glaubensfreiheit durch die Rechte anderer, die verfassungsmäßige Ordnung und durch das Sittengesetz beschränkt sei, wäre unvereinbar mit dem vom Bundesverfassungsgericht in ständiger Rechtsprechung anerkannten Verhältnis der Subsidiarität des Art. 2 Abs. 1 GG zur Spezialität der Einzelfreiheitsrechte (vgl. u. a. BVerfGE 6, 32 [36 ff.]; 23, 50 [55 f.] m. weiteren Nachweisen).
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Die Glaubensfreiheit wird auch nicht durch Art. 5 Abs. 2 GG eingeschränkt. Dagegen sprechen schon Wortlaut und Stellung des Art. 4 GG (vgl. Hamel in Bettermann-Nipperdey-Scheuner, Die Grundrechte, Bd. IV, 1. Halbband, S. 68; Maunz-Dürig-Herzog, Kommentar zum GG, Rdnr. 34 zu Art. 5 GG; Weinzierl, Arch-AfZKR 132 [1963], S. 50; Kommentar zum Bonner Grundgesetz, Zweitbearbeitung [Zippelius], Rdnr. 76 zu Art. 4 GG). Eine Meinungsäußerung ist jede Kundgabe von beliebigen subjektiven Äußerungen und Werturteilen, also eine subjektiv wertende Betrachtung von Tatsachen, Verhaltensweisen oder Verhältnissen. Demgegenüber hat die Glaubensfreiheit eine mit der Person des Menschen verknüpfte Gewißheit über den Bestand und den Inhalt bestimmter Wahrheiten zum Gegenstand. Vor allem verbieten dies die fundamentale Verschiedenheit beider Freiheitsrechte und auch der zwischen ihnen zur Anwendung kommende Grundsatz der Spezialität, soweit überhaupt Überschneidungen in Betracht kommen können.
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b) Die Freiheitsverbürgung des Art. 4 Abs. 1 GG geht wie alle Grundrechte vom Menschenbild des Grundgesetzes aus, d. h. vom Menschen als eigenverantwortliche Persönlichkeit, die sich innerhalb der sozialen Gemeinschaft frei entfaltet. Diese vom Grundgesetz anerkannte Gemeinschaftsbindung des Individuums macht auch Grundrechte, die vorbehaltlos gewährleistet sind, gewissen äußersten Grenzziehungen zugänglich. Jedoch dürfen die Grenzen der Glaubensfreiheit - wie die der Kunstfreiheit (vgl. BVerfGE 30, 173 [193]) - nur von der Verfassung selbst bestimmt werden. Da die Glaubensfreiheit keinen Vorbehalt für den einfachen Gesetzgeber enthält, darf sie weder durch die allgemeine Rechtsordnung noch durch eine unbestimmte Klausel relativiert werden, welche ohne verfassungsrechtlichen Ansatzpunkt und ohne ausreichende rechtsstaatliche Sicherung eine Gefährdung der für den Bestand der staatlichen Gemeinschaft notwendigen Güter genügen läßt. Vielmehr ist ein im Rahmen der Garantie der Glaubensfreiheit zu berücksichtigender Konflikt nach Maßgabe der grundgesetzlichen Wertordnung und unter Berücksichtigung der Einheit dieses grundlegenden Wertsystems zu lösen. Als Teil des grundrechtlichen Wertsystems ist die Glaubensfreiheit dem Gebot der Toleranz zugeordnet, insbesondere auf die in Art. 1 Abs. 1 GG garantierte Würde des Menschen bezogen, die als oberster Wert das ganze grundrechtliche Wertsystem beherrscht (BVerfGE 6, 32 [41]; 27, 1 [6]; vgl. auch BVerfGE 30, 173 [193]).
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Diese Gründe schließen es aus, Betätigungen und Verhaltensweisen, die aus einer bestimmten Glaubenshaltung fließen, ohne weiteres den Sanktionen zu unterwerfen, die der Staat für ein solches Verhalten - unabhängig von seiner glaubensmäßigen Motivierung - vorsieht. Die Ausstrahlungswirkung des Grundrechts aus Art. 4 Abs. 1 GG kommt hier in der Weise zur Geltung, daß sie Art und Maß der zulässigen staatlichen Sanktionen beeinflussen kann. Für das Strafrecht bedeutet das:
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Wer sich in einer konkreten Situation durch seine Glaubensüberzeugung zu einem Tun oder Unterlassen bestimmen läßt, kann mit den in der Gesellschaft herrschenden sittlichen Anschauungen und den auf sie begründeten Rechtspflichten in Konflikt geraten. Verwirklicht er durch dieses Verhalten nach herkömmlicher Auslegung einen Straftatbestand, so ist im Lichte des Art. 4 Abs. 1 GG zu fragen, ob unter den besonderen Umständen des Falles eine Bestrafung den Sinn staatlichen Strafens überhaupt noch erfüllen würde. Ein solcher Täter lehnt sich nicht aus mangelnder Rechtsgesinnung gegen die staatliche Rechtsordnung auf; das durch die Strafdrohung geschützte Rechtsgut will auch er wahren. Er sieht sich aber in eine Grenzsituation gestellt, in der die allgemeine Rechtsordnung mit dem persönlichen Glaubensgebot in Widerstreit tritt und er fühlt die Verpflichtung, hier dem höheren Gebot des Glaubens zu folgen. Ist diese Entscheidung auch objektiv nach den in der Gesellschaft allgemein herrschenden Wertvorstellungen zu mißbilligen, so ist sie doch nicht mehr in dem Maße vorwerfbar, daß es gerechtfertigt wäre, mit der schärfsten der Gesellschaft zu Gebote stehenden Waffe, dem Strafrecht, gegen den Täter vorzugehen. Kriminalstrafe ist - unabhängig von ihrer Höhe - bei solcher Fallgestaltung unter keinem Aspekt (Vergeltung, Prävention, Resozialisierung des Täters) eine adäquate Sanktion. Die sich aus Art. 4 Abs. 1 GG ergebende Pflicht aller öffentlichen Gewalt, die ernste Glaubensüberzeugung in weitesten Grenzen zu respektieren, muß zu einem Zurückweichen des Strafrechts jedenfalls dann führen, wenn der konkrete Konflikt zwischen einer nach allgemeinen Anschauungen bestehenden Rechtspflicht und einem Glaubensgebot den Täter in eine seelische Bedrängnis bringt, der gegenüber die kriminelle Bestrafung, die ihn zum Rechtsbrecher stempelt, sich als eine übermäßige und daher seine Menschenwürde verletzende soziale Reaktion darstellen würde.
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4. Die Anwendung dieser Grundsätze auf den vorliegenden Fall ergibt, daß das Landgericht und das Oberlandesgericht die Ausstrahlungswirkung des Art. 4 Abs. 1 GG bei der Auslegung und Anwendung des § 330 c StGB verkannt haben. Dem Beschwerdeführer kann nicht vorgeworfen werden, daß er es unterlassen hat, seine Frau entgegen seiner Glaubensüberzeugung zur Aufgabe ihrer damit übereinstimmenden Glaubensüberzeugung zu überreden. Er wußte sich mit ihr durch die Überzeugung verbunden, daß das Gebet zu Gott der "bessere Weg" sei. Sein Verhalten und das seiner Frau waren ein Bekenntnis zu dieser gemeinsamen Überzeugung. Es war getragen von dem gegenseitigen Respekt gegenüber der Einstellung des Ehepartners in einer Frage, wo es um Leben und Tod ging, und der subjektiven Gewißheit, daß diese Einstellung "richtig" sei. In Fällen der vorliegenden Art kann strafrechtlich nicht gefordert werden, daß zwei Personen gleicher Glaubensrichtung aufeinander einwirken, um sich von der Gefährlichkeit ihrer glaubensmäßigen Entscheidung zu überzeugen.
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Der Beschwerdeführer hatte auch nicht die Pflicht, seine Entscheidung an die Stelle der seiner Frau zu setzen. Dies wäre nur in Betracht gekommen, wenn sie nicht mehr für sich selbst hätte entscheiden können. Ihre Überzeugung, daß eine Krankenhausbehandlung abzulehnen sei, beruhte jedoch auf ihrer eigenen, freien und durch Art. 2 Abs. 1 GG geschützten Handlungsfreiheit; sie unterlag im strafrechtlich relevanten Zeitraum bis zuletzt ihrer freien und ungetrübten Willenskontrolle.
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5. Diese Ausstrahlungswirkung des Art. 4 Abs. 1 GG auf Auslegung und Anwendung des § 330 c StGB wird auch nicht durch die in Art. 6 GG anerkannten Pflichten der Ehegatten untereinander und gegenüber den Kindern beeinträchtigt. Bei der Frage, inwieweit ein Ehepartner verpflichtet ist, in den freien Entscheidungsbereich des anderen zu dessen Wohl einzugreifen, muß berücksichtigt werden, daß sich auch in der Ehe zwei autonome Persönlichkeiten mit dem Recht auf freie Entfaltung gegenüberstehen. Dieser grundsätzliche Freiheitsraum beider Ehepartner umfaßt vor allem die Freiheit, sich einer der eigenen Überzeugung gemäßen Glaubensrichtung anzuschließen und sein Leben diesem Glauben entsprechend einzurichten. Wieweit die Ehepartner dabei zur gegenseitigen Rücksichtnahme im einzelnen verpflichtet sind, kann hier auf sich beruhen. Teilen sie eine bestimmte religiöse Überzeugung, so kann von ihnen jedenfalls nicht verlangt werden, im Konfliktsfall entgegen ihrem gemeinsamen Glauben den anderen Partner von einer an diesem Glauben orientierten Entscheidung abzubringen.
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Die Pflichten, welche der Beschwerdeführer gegenüber seinen Kindern hat, würden selbstverständlich zu einer anderen Beurteilung führen, wenn er unter dem Vorwand der eigenen Glaubensüberzeugung es hätte darauf ankommen lassen wollen, seine Ehefrau sterben zu lassen und seinen Kindern damit die Mutter zu nehmen. Gerade das wollte der Beschwerdeführer jedoch nicht. Für ihn stand fest, daß das Gebet der wirkungsvollere Weg war, um seine Frau zu retten. Seine Pflichten gegenüber den Kindern gehen auch bei Beachtung des Art. 6 Abs. 2 GG nicht so weit, diesen für ihn mehr Erfolg versprechenden Weg zugunsten einer für ihn ohne Gottes Hilfe wirkungslosen medizinischen Heilbehandlung zu verlassen.
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Nach den in der Gesellschaft herrschenden sittlichen Anschauungen hätte zwar vom Beschwerdeführer erwartet werden können, daß er beide Wege gleichzeitig beschritt. Wenn ihm dies wegen seiner Glaubensüberzeugung nicht vollziehbar war, dann rechtfertigt dies nicht, mit den Mitteln des Strafrechts gegen ihn vorzugehen.
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6. Da die angefochtenen Entscheidungen bereits gegen Art. 4 Abs. 1 GG verstoßen, bedarf es keiner Prüfung mehr nach Art. 2 Abs. 1 GG.
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