Beschluß | |
des Ersten Senats vom 22. Juni 1977
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- 1 BvR 799/76 - | |
in dem Verfahren über die Verfassungsbeschwerden 1. a) der Eheleute Dr. Günther und Dr. Ortrun D .., b) des Schülers Sven D .., gesetzlich vertreten durch seine Eltern, die Beschwerdeführer zu a); 2. a) der Eheleute Dr. Marcel und Ursula K .., b) der Schülerin Astrid K .., gesetzlich vertreten durch ihre Eltern, die Beschwerdeführer zu a); 3. a) der Eheleute Norbert H .. und Annemarie Sch .., b) des Schülers Stefan Sch .., gesetzlich vertreten durch seine Eltern, die Beschwerdeführer zu a); 4. a) der Eheleute Rudolf und Hannelore Sch .., b) der Schülerin Susanne Sch .., gesetzlich vertreten durch ihre Eltern, die Beschwerdeführer zu a); 5. a) der Eheleute Prof. Dr. Wilhelm S .. und Ursula S .., b) der Schülerin Melanie S .., gesetzlich vertreten durch ihre Eltern, die Beschwerdeführer zu a); 6. a) der Eheleute Hans-Sigismund Frh. W .. und Christa Frfr. W .., b) des Schülers Friedrich Frhr. W .., gesetzlich vertreten durch seine Eltern, die Beschwerdeführer zu a); 7. a) der Eheleute Gerhard und Hilde W .., b) des Schülers Norbert W .., gesetzlich vertreten durch seine Eltern, die Beschwerdeführer zu a), - Bevollmächtigter: Rechtsanwalt Gerhard Wenderoth, Hammarskjöldring 166, Frankfurt a. M. -- gegen das hessische Gesetz über die Neuordnung der gymnasialen Oberstufe vom 26. Oktober 1976 (GVBl. I S. 433) -.
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ENTSCHEIDUNGSFORMEL:
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Die Verfassungsbeschwerden der Beschwerdeführer zu 1), 4), 6) und 7) werden verworfen.
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Im übrigen werden die Verfassungsbeschwerden zurückgewiesen.
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Gründe: | |
A. | |
Die Verfassungsbeschwerden betreffen die Frage, ob das hessische Gesetz über die Neuordnung der gymnasialen Oberstufe vom 26. Oktober 1976 (GVBl. I S 433; im folgenden: Vorschaltgesetz) mit dem Grundgesetz vereinbar ist.
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I.
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Die Neuordnung der gymnasialen Oberstufe (Jahrgangsstufen 11 bis 13), die in Hessen zum 1. August 1976 eingeführt worden ist, beruht auf der Vereinbarung zur Neugestaltung der gymnasialen Oberstufe in der Sekundarstufe II vom 7. Juli 1972 der ständigen Konferenz der Kultusminister in der Bundesrepublik Deutschland (Amtsblatt des Hessischen Kultusministers 1972, S 771). Ihr liegt der Gedanke zugrunde, daß eine Konzentration des Bildungsstoffs im Schulunterricht notwendig sei. In Abkehr vom bisherigen "Universalabitur" sollen in der Oberstufe verschiedene Ausbildungsgänge mit Schwerpunkten angeboten werden. Zugleich wird die Unterrichtsform geändert; an die Stelle des Klassenverbands tritt das Kurssystem.
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Der wesentliche Inhalt der Vereinbarung kann wie folgt charakterisiert werden: Gleichwertigkeit aller Fächer, Zuordnung der Fächer zu Aufgabenfeldern, Organisation des Unterrichts nach Grundkursen und Leistungskursen, Gliederung des Unterrichtsangebots in einen Pflichtbereich und einen Wahlbereich (Verhältnis 2:1) und Ersetzung der Noten als Leistungsbewertung durch ein Punktesystem unter Anrechnung in der Gesamtqualifikation. Dabei soll gesichert werden, daß die Oberstufe ihre gemeinsame Gestalt in den Ländern der Bundesrepublik behält.
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Die Kultusministerkonferenz bestätigte auf einer auf Initiative des Landes Hessen einberufenen Sondersitzung im September 1976 noch einmal, daß alle Länder am Vollzug der Neuordnung der gymnasialen Oberstufe festhalten.
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II.
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1. In Hessen beruhte die Ausführung dieser Vereinbarung zunächst im wesentlichen auf Erlassen des hessischen Kultusministers (vgl. BVerfGE 43, 198).
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Der Hessische Verwaltungsgerichtshof sah diese Erlasse jedoch nicht als hinreichende Rechtsgrundlagen für die Neugestaltung der gymnasialen Oberstufe an, da nach dem Rechtsstaatsprinzip und dem Demokratieprinzip wesentliche Entscheidungen hinsichtlich der Unterrichtsinhalte und Unterrichtsziele sowie der Schulorganisation vom Gesetzgeber selbst festgelegt werden müßten (Beschluß vom 18. August 1976 - NJW 1976, S 1856).
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2. Da Hessen nicht auf die bereits begonnene Einführung der reformierten Oberstufe verzichten wollte, erließ der Landesgesetzgeber das Gesetz zur Neuordnung der gymnasialen Oberstufe vom 26. Oktober 1976, das nachträglich die vom Hessischen Verwaltungsgerichtshof vermißten gesetzlichen Grundlagen des Reformvorhabens schaffen sollte. Die wesentlichen Bestimmungen dieses Gesetzes lauten:
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§ 1
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(1) Die gymnasiale Oberstufe umfaßt die Jahrgangsstufen 11 bis 13 der öffentlichen Gymnasien einschließlich der diese Stufe umfassenden selbständigen Schulen (§ 8 Abs 10 des Schulverwaltungsgesetzes in der Fassung vom 30. Mai 1969 [GVBl. I S 88], zuletzt geändert durch Gesetz vom 15. Dezember 1975 (GVBl. I S 300), sowie die diesen entsprechenden Jahrgangsstufen an Gesamtschulen.
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(2) Die gymnasiale Oberstufe gliedert sich in eine Einführungsphase und das nachfolgende Kurssystem. Das Kurssystem soll dem Schüler Gelegenheit geben, in Kombination von verbindlichen und frei gewählten Grundkursen und Leistungskursen die allgemeine Hochschulreife zu erwerben oder sich auf eine berufliche Ausbildung vorzubereiten. Unter den Leistungskursen muß entweder eine Fremdsprache, Mathematik oder eine Naturwissenschaft gewählt werden. Die Unterrichtsfächer mit Ausnahme des Faches Sport werden folgenden drei Aufgabenfeldern zugeordnet: dem sprachlich-literarisch-künstlerischen Aufgabenfeld, dem gesellschaftswissenschaftlichen Aufgabenfeld, dem mathematisch-naturwissenschaftlich-technischen Aufgabenfeld.
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(3) Die Leistungsbewertung in der gymnasialen Oberstufe erfolgt nach einem Punktsystem, das die bisherige Bewertung nach Noten ersetzt und Grundlage für die Feststellung der Gesamtqualifikation und der damit verbundenen Berechtigungen bildet; die Gesamtqualifikation setzt sich aus den in Grundkursen und Leistungskursen sowie den in der Abiturprüfung erreichten Punkten zusammen.
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§ 2
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(1) Die gymnasiale Oberstufe schließt mit der Abiturprüfung ab. Prüfungsinhalt und Prüfungsverfahren werden durch den Kultusminister auf Grund des § 44 des Schulverwaltungsgesetzes in der Fassung vom 30. Mai 1969 (GVBl. I S 88), zuletzt geändert durch Gesetz vom 15. Dezember 1975 (GVBl. I S 300), geregelt.
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(2) Der Besuch der gymnasialen Oberstufe dauert mindestens zwei und höchstens vier Jahre. In Ausnahmefällen, insbesondere bei längerem Unterrichtsversäumnis infolge nicht vom Schüler zu vertretender Umstände, kann die Dauer des Besuchs der gymnasialen Oberstufe durch den Regierungspräsidenten angemessen verlängert werden.
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§ 3
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(1) Das Nähere zur Ausführung dieses Gesetzes regelt der Kultusminister. Dabei ist auf die Bundeseinheitlichkeit in der Organisation, der Struktur und den Lernzielen Bedacht zu nehmen. Insbesondere ist zu gewährleisten, daß die Abiturprüfung auch in den anderen Länder der Bundesrepublik Deutschland zur Aufnahme eines Hochschulstudiums in den jeweiligen Studiengängen berechtigt.
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(2) Bisher erlassene Vorschriften bleiben bis zu einer Neuregelung in Kraft.
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§ 4
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(1) Die neugestaltete gymnasiale Oberstufe wird an den in § 1 genannten Schulen im Schuljahr 1976/77 mit Jahrgangsstufe 11 beginnend eingeführt.
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(2) Der Kultusminister kann von diesem Einführungstermin in Einzelfällen Ausnahmen zulassen.
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Gemäß § 7 tritt das Gesetz mit Wirkung vom 1. August 1976 in Kraft und gilt bis zu einer gesetzlichen Neuregelung; es tritt spätestens am 31. Juli 1977 außer Kraft. Inzwischen ist ein endgültiges Gesetz zur Neuordnung der gymnasialen Oberstufe, das das Vorschaltgesetz ablösen soll, vom Hessischen Landtag verabschiedet worden und wird demnächst verkündet werden.
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III.
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Gegen das Vorschaltgesetz als Ganzes richten sich die Verfassungsbeschwerden.
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Alle beschwerdeführenden Schüler besuchen öffentliche Gymnasien in Hessen, und zwar der Beschwerdeführer zu 1b) die Klasse 9, die Beschwerdeführer zu 4b) und 7b) die Klasse 10, die Beschwerdeführer zu 2b), 3b) und 5b) die Jahrgangsstufe 11; der Beschwerdeführer zu 6b) hat keine Angaben darüber gemacht, welche Klasse er besucht. Die Beschwerdeführer zu 1a), 2a), 3a), 4a), 5a), 6a) und 7a) sind Eltern dieser Schüler.
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Mit ihren Verfassungsbeschwerden rügen die Beschwerdeführer Verletzungen der Art 6 Abs 2 Satz 1 GG, Art 2 Abs 1 GG, Art 11 Abs 1 GG sowie des Art 12 Abs 1 GG. Sie begründen dies zunächst damit, daß das Vorschaltgesetz in keiner Weise dem rechtsstaatlichen Grundsatz der Bestimmtheit Rechnung trage; es verwende "kautschukartige" Begriffe wie "Einführungsphase" und "Kurssystem", ohne deren Bedeutung zu regeln oder genaue Unterscheidungsmerkmale festzulegen. Mangels eines bestimmten verbindlichen Fächerkanons könne beim Abitur von Allgemeinbildung und Hochschulreife keine Rede mehr sein. Vollends unbestimmt werde das Gesetz durch den pauschalen Hinweis gemäß § 3 Abs 2 auf verschiedene Erlasse des Kultusministers, deren Inhalt noch dazu rückwirkend in das Gesetz aufgenommen werde. Unbestimmt sei auch die Ermächtigung an den Kultusminister in § 3 Abs 1 des Gesetzes.
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Im übrigen richten sich die Angriffe der Beschwerdeführer nicht grundsätzlich gegen eine Reform des Gymnasiums, wohl aber dagegen, daß sie allgemeine und bereits gymnasiale Bildung beseitigt und durch ein vorzeitiges und extremes Spezialistentum ersetzt werde.
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Schüler, die diesem System der Oberstufenreform unterworfen würden, verlören endgültig die Chance einer allgemeinen gymnasialen Bildung. Die Unterrichtsinhalte würden völlig umstrukturiert. Dieser Vorgang sei gekennzeichnet durch die Beseitigung allgemein gültiger und einheitlicher Bildungsmaßstäbe. Statt dessen würden die Wissensgebiete unabhängig von ihrer Wertigkeit individuell festgelegt, was verfrühte Spezialisierung, Einengung von Wissensbreite und entsprechend eingeschränkte Allgemeinbildung - "Fachidiotismus" - zur Folge habe. Diese Änderung der Unterrichtsinhalte werde durch ein Bündel von Maßnahmen herbeigeführt, die beispielhaft sichtbar würden in der Beseitigung der Gliederung der bisherigen Gymnasialtypen (altsprachlich, neusprachlich, naturwissenschaftlich-mathematisch) sowie in der Auflösung des bislang geltenden traditionellen und auf eine breite Allgemeinbildung hinzielenden Fächerkanons, der zugleich eine unterschiedliche Wertigkeit der Fächer zum Inhalt gehabt habe. Wesentlich sei auch, daß die Unterrichtsstoffe in den Kursen nicht aufeinander aufbauten, der Schüler vielmehr sich völlig zusammenhanglos seine Kurse wählen könne.
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Kennzeichnend für die Oberstufenreform in Hessen sei ferner die Tendenz, die gymnasiale Oberstufe mit der beruflichen Bildung zu verbinden. Sie weiche im übrigen entscheidend von der Kultusministerkonferenz-Vereinbarung ab, indem sie die organisatorische Verselbständigung der Oberstufe vorsehe. Damit würden die Gymnasien zerschlagen. Hierauf seien die Schulentwicklungspläne der Schulträger ausgerichtet.
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Die Leistungsbewertung nach dem Punktesystem verstärke noch die in der hessischen Oberstufenreform extrem ausgebildete Tendenz, die gymnasiale Oberstufe zu einem allein auf die Hochschulzulassung gerichteten Siebsystem und Durchlaufsystem zu verengen.
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Die Oberstufenreform erfordere schließlich durch die Einführung des Kurssystems ein Mehr an Lehrern und Räumen, auf der anderen Seite drohe aber die Auflösung des Klassenverbandes eine Vereinsamung des Schülers herbeizuführen, da die notwendige Sozialisation vereitelt werde. Das Punktesammeln im Hinblick auf den numerus clausus schaffe vorzeitig ein gnadenloses Konkurrenzdenken, so daß gewachsene Freundschaften zerstört würden.
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Das Elternrecht und die Grundrechte der Schüler seien außerdem dadurch verletzt, daß die Neugestaltung der gymnasialen Oberstufe gegen Art 59 der hessischen Verfassung verstoße. Diese Bestimmung der Landesverfassung gewährleiste die Organisationsformen der "Grundschulen, Mittelschulen, höheren und Hochschulen". Die Beschwerdeführer hätten ein Recht auf die Beibehaltung einer im Prinzip bewährten, wenn auch vielleicht reformbedürftigen Schulform. Das Elternrecht könne im übrigen nur eingeschränkt werden durch das "öffentliche Bedürfnis". Daran fehle es jedoch, wenn die Grundlagen einer Reform wie im vorliegenden Fall unsicher und zweifelhaft seien. Da es sich bei der Reform der gymnasialen Oberstufe letztlich um einen weitgehend unerprobten Schulversuch handele, in dem inhaltliche Grundvorstellungen des gymnasialen Abschlusses umstrukturiert werden sollten, müsse die Möglichkeit offenbleiben, statt dessen eine herkömmliche Ausbildung wählen zu können.
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Weiterhin sei davon auszugehen, daß der verfassungsrechtlich relevante Grundsatz des "Zugang nur nach Eignung" lediglich in der Schulform des herkömmlichen Gymnasiums verwirklicht werden könne. Die neugestaltete gymnasiale Oberstufe in Hessen stehe demgegenüber auch Schülern offen, die eine integrierte Gesamtschule ohne Zugangsvoraussetzung durchlaufen hätten.
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Schließlich habe das Land Hessen auch gegen die Pflicht zum bundestreuen Verhalten verstoßen, indem es in verschiedener Hinsicht von den Vereinbarungen der Kultusministerkonferenz abgewichen sei (zB völlige Auflösung des gymnasialen Fächerkanons, Gleichwertigkeit aller Hauptfächer und Nebenfächer, Möglichkeit der sinnlosen und zusammenhanglosen Wahl der Kurse einschließlich der Abwahl unbequemer Fächer, organisatorische Abtrennung der Oberstufe usw).
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Auch werde die Bundeseinheitlichkeit durch die Beseitigung des selbständigen Unterrichtsfachs "Geschichte" verletzt. Der Art 56 Abs 5 der hessischen Verfassung gebe diesem Unterrichtsfach eine in mehrfacher Hinsicht herausragende Bedeutung, so daß die faktische Beseitigung des Geschichtsunterrichts durch dessen Integration in das Fach "Gemeinschaftskunde" (= Gesellschaftslehre) einen Mißbrauch darstelle. Durch solche Maßnahmen werde auch das Grundrecht der Beschwerdeführer auf Freizügigkeit im Bundesgebiet (Art 11 Abs 1 GG) verletzt.
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IV.
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Für die Hessische Landesregierung hat der Hessische Ministerpräsident Stellung genommen.
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Da das angegriffene Gesetz den Charakter eines Vorschaltgesetzes habe und bis zum 31. Juli 1977 befristet sei, erstrecke es seine Wirkung nur auf die Schüler, die bis zu diesem Zeitpunkt die Jahrgangsstufe 11 der gymnasialen Oberstufe besuchten. Die Verfassungsbeschwerden der Schüler und Eltern zu 1), 4), 6) und 7) seien deshalb mangels unmittelbarer und gegenwärtiger Beschwer unzulässig. Die Verfassungsbeschwerden seien ferner unzulässig, soweit Verletzung der hessischen Verfassung gerügt werde. Für die Prüfung eines solchen Verstoßes sei ausschließlich der Staatsgerichtshof des Landes Hessen zuständig.
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Das Vorschaltgesetz verletze das Elternrecht nicht. Der Landesgesetzgeber könne ohne Eingriff in dieses Recht der beschwerdeführenden Eltern den Übergang in die neugeordnete gymnasiale Oberstufe vorschreiben. Auch das Recht der beschwerdeführenden Schüler auf freie Entfaltung der Persönlichkeit gemäß Art 2 Abs 1 GG werde nicht verletzt. Vielmehr gebe das neue Schulsystem dem Schüler erheblich größere Möglichkeiten zur Selbstgestaltung seines Bildungswegs als die bisherige Schulform.
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Das Gesetz genüge rechtsstaatlichen Anforderungen. Es enthalte die rechtsstaatlich gebotenen Mindestregelungen und besitze die erforderliche Bestimmtheit. Es treffe alle nach dem Stand der Diskussion zum Gesetzesvorbehalt im Schulwesen erforderlichen Regelungen. Den Anforderungen, die der Hessische Verwaltungsgerichtshof in seinen Entscheidungen aufgestellt habe, sei genügt.
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Auch die von den Beschwerdeführern besonders beanstandete Vorschrift des § 3 des Vorschaltgesetzes sei mit dem Rechtsstaatsprinzip vereinbar. Dies gelte sowohl für die Ermächtigung in § 3 Abs 1 als auch hinsichtlich der Weitergeltungsanordnung im zweiten Absatz. Das pauschal wirkende Aufrechterhalten der bisher erlassenen Vorschriften finde seine Rechtfertigung in der Zwangslage, in die der Gesetzgeber durch die überraschenden Entscheidungen des Verwaltungsgerichtshofs versetzt worden sei. Gleichwohl sei der Inhalt der Regelung eindeutig, da alle Vorschriften erfaßt würden, die bisher zur Einführung und Ausgestaltung der neuen gymnasialen Oberstufe erlassen worden seien.
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Auch der Grundsatz der Bundestreue werde durch das Vorschaltgesetz nicht angetastet. Die hessische Regelung der reformierten Oberstufe stimme voll mit der Vereinbarung der Kultusministerkonferenz zur Neugestaltung der gymnasialen Oberstufe in der Sekundarstufe II vom 7. Juli 1972 überein. Es brauche daher nicht untersucht zu werden, welche Bedeutung es für die Pflicht zur Bundestreue habe, daß die Beschlüsse der Kultusministerkonferenz keine unmittelbare, die Länder verpflichtende rechtliche Wirkung hätten.
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V.
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Zu den Verfassungsbeschwerden haben ferner die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft im Deutschen Gewerkschaftsbund und der Deutsche Philologenverband Stellungnahmen abgegeben.
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1. Die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft hat sich in erster Linie zu den bildungspolitischen und pädagogischen Gesichtspunkten der in den Verfassungsbeschwerden aufgeworfenen Fragen geäußert. Die Geschichte des Gymnasiums mache deutlich, wie sehr Definition und Abgrenzung eines gymnasialen Bildungskanons selbst Gegenstand von Veränderungen gewesen seien. Die Absolventen des humanistischen Gymnasiums, die im 19. Jahrhundert das Privileg der Hochschulzulassung hatten, machten heute nur noch einen geringen Prozentsatz der Schüler aus, denen das zur Zeit bestehende Schulsystem die Hochschulreife bescheinige. Diese Entwicklung spiegle die veränderte Wertschätzung mathematisch-naturwissenschaftlicher Kenntnisse sowie lebender gegenüber toten Fremdsprachen wider und bedeute einen wesentlich radikaleren Bruch mit einem bis dahin selbstverständlichen Bildungsideal als die Einführung der reformierten Oberstufe.
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Weiter sei die idealtypische Gegenüberstellung von "Klassenverband" als Kennzeichen der traditionell organisierten gymnasialen Oberstufe und "Kurssystem" als Kennzeichen der neugestalteten gymnasialen Oberstufe unzutreffend, da sie sowohl die bereits in der bisherigen Organisation des Gymnasiums enthaltenen Momente von Kursorientierung als auch die Möglichkeit zur Organisation kontinuierlicher Lernprozesse in konstanten Lerngruppen in der neugestalteten gymnasialen Oberstufe verkenne. Im übrigen könne der Klassenverband, der eine Zwangsgemeinschaft darstelle, in der Vergangenheit durchaus nicht so einseitig idealisiert gesehen werden, wie dies die Beschwerdeführer darlegten. Das Kurssystem biete dem Schüler die Möglichkeit, Kurse, in denen er versagt habe, zu wiederholen; es gebe Entscheidungshilfen, um festzustellen, in welchen Lernbereichen spezifische Möglichkeiten oder Schwächen lägen. All dies entspreche dem Ziel, Eigenverantwortung zu stärken.
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Die organisatorische Verselbständigung gymnasialer Oberstufen werde durch die Neuordnung auf der Grundlage der Vereinbarung von 1972 weder erzwungen noch durch die bisherige Organisation verhindert. Die hessische Schulgesetzgebung habe im übrigen bereits seit 1969 die Verselbständigung gymnasialer Oberstufen ermöglicht, also geraume Zeit vor der Umstellung der Oberstufe gemäß der genannten Vereinbarung.
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Schließlich sei auch der Vorwurf einer Verletzung der Bundestreue durch das Land Hessen unbegründet.
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2. Der Deutsche Philologenverband sieht die Gefahr, daß die Oberstufe den Charakter einer Bildungseinrichtung verliert und sich zu einem technisch perfekten Siebsystem und Durchlaufsystem verengt, das dem Besuch der Hochschulen vorgeschaltet ist. Durch das Fehlen von einheitlichen Bestimmungen über Lehrinhalte und Didaktik hätten sich mittlerweile in den einzelnen Ländern die Oberstufen der Gymnasien sehr verschieden entwickelt. Weiterhin sei das Unterrichtsvolumen für die einzelnen Fächer nicht an Unterrichtszielen orientiert. Die Vereinbarung von 1972 setze sich nicht mit der Bedeutung der einzelnen Fächer bei der Gestaltung und Abrundung des Bildungsprozesses beim Schüler auseinander, sie stelle lediglich eine formale Gleichwertigkeit fest. Sie regle nicht, wie es zur Sicherung der allgemeinen Hochschulreife und nicht nur zu einem Erreichen von Unterrichtszielen in einzelnen Fächern kommen solle. Eine Ausschaltung des Geschichtsunterrichts in der Oberstufe, wie sie in Hessen möglich sei, gefährde die unterrichtliche und pädagogische Zielsetzung für das gesamte gesellschaftswissenschaftliche Aufgabenfeld.
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Mit der Abtrennung der Oberstufen schließlich werde eine Entwicklung eingeleitet, die sich pädagogisch negativ auswirken müsse, da der Kern der Ausbildung am Gymnasium in einem Unterricht in langfristig kontinuierlich aufgebauten Bildungsgängen, so z.B. in Deutsch, den Fremdsprachen und der Mathematik, bestehe. Hinsichtlich der Funktion der Stufe 11 sei festzustellen, daß Hessen im Gegensatz zu anderen Bundesländern Schüler mit verschiedenen schulischen Voraussetzungen in der Stufe 11 zusammenführe, in das Fächerangebot sogenannte Angleichkurse einbringe und damit den Lernrhythmus und die Lernweise auch für die Schüler unterbreche, die bereits die Voraussetzungen für den Oberstufenunterricht im Gymnasium besäßen. Dem Bereich des unspezialisierten Nachholens werde in Hessen in der Stufe 11 ein überstarkes Gewicht gegeben und die Weiterentwicklung des Lernens weniger stark berücksichtigt.
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VI.
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Den Antrag einiger Beschwerdeführer auf Erlaß einer einstweiligen Anordnung in dieser Sache hat das Bundesverfassungsgericht durch Beschluß vom 21. Dezember 1976 (BVerfGE 43, 198) abgelehnt. Von einer mündlichen Verhandlung ist gemäß § 94 Abs 5 BVerfGG abgesehen worden, weil von ihr keine weitere Förderung des Verfahrens zu erwarten ist.
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Die Verfassungsbeschwerden sind nur zum Teil zulässig.
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I.
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Voraussetzung für die Zulässigkeit der unmittelbar gegen ein Gesetz gerichteten Verfassungsbeschwerden ist die Darlegung, daß die Beschwerdeführer durch die angegriffenen Vorschriften selbst, gegenwärtig und unmittelbar in einem Grundrecht oder in einem anderen verfassungsmäßigen Recht im Sinne von § 90 Abs 1 BVerfGG betroffen sind (BVerfGE 29, 83 [93]; 30, 1 [16]; 35, 79 [107] und ständige Rechtsprechung).
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1. Die Verfassungsbeschwerden der Beschwerdeführer zu 1), 4), 6) und 7) sind unzulässig.
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Die Bestimmungen des Vorschaltgesetzes betreffen unmittelbar und gegenwärtig lediglich Schüler, die der reformierten Oberstufe in der Zeit vom 1. August 1976 bis spätestens 31. Juli 1977 angehören. Das trifft nur für die Beschwerdeführer zu 2b), 3b) und 5b) zu. Sie besuchen die Jahrgangsstufe 11. Die Beschwerdeführer zu 1b), 4b) und 7b) besuchen nach ihren eigenen Angaben die Klassen 9 und 10. Der Beschwerdeführer zu 6b) hat keine Angaben darüber gemacht, welcher Schulklasse er angehört, also nicht dargelegt, daß er der Jahrgangsstufe 11 angehöre. Auch diese Beschwerdeführer müssen zwar damit rechnen, daß sie in absehbarer Zeit in der reformierten Oberstufe unterrichtet werden. Dies wird jedoch frühestens im nächsten Schuljahr der Fall sein. Das angegriffene Vorschaltgesetz tritt aber spätestens am 31. Juli 1977 außer Kraft (§ 7 Abs 1). Die vier zuletzt genannten Beschwerdeführer sind daher durch die angegriffenen gesetzlichen Bestimmungen weder unmittelbar noch gegenwärtig betroffen.
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2. Unmittelbar und gegenwärtig betroffen sind die Beschwerdeführer zu 2), 3) und 5) von den Bestimmungen des Vorschaltgesetzes bei der strikten zeitlichen Begrenzung dieses Gesetzes nur insoweit, als diese die Gestaltung, insbesondere Form und Inhalt des Unterrichts in der Stufe 11, in einer vom herkömmlichen Schulsystem abweichenden Weise regeln und als es eines weiteren Vollzugsaktes nicht bedarf. Deshalb sind die Verfassungsbeschwerden unzulässig, soweit sie sich gegen § 3 des Gesetzes richten. § 3 Abs 1 enthält lediglich eine Ermächtigung an den Kultusminister. Hinsichtlich § 3 Abs 2, den die Beschwerdeführer an sich mit Recht wegen seiner pauschalen Fassung unter rechtsstaatlichen Gesichtspunkten als bedenklich bezeichnen (vgl. BVerfGE 5, 25 - Apothekenstoppgesetz -), fehlt die Darlegung der unmittelbaren und gegenwärtigen Betroffenheit.
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II.
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Unzulässig ist schließlich auch die Rüge der Beschwerdeführer, das Elternrecht (Art 6 Abs 2 Satz 1 GG) und die Grundrechte der Schüler aus Art 2 Abs 1 GG seien dadurch verletzt, daß die Neugestaltung der gymnasialen Oberstufe durch das Vorschaltgesetz gegen Art 56 und 59 der hessischen Landesverfassung verstoße. Zwar kann im Wege der Verfassungsbeschwerde geltend gemacht werden, ein die Handlungsfreiheit beschränkendes Gesetz gehöre nicht zur verfassungsmäßigen Ordnung (Art 2 Abs 1 GG), weil es formell oder materiell gegen einzelne Verfassungsbestimmungen oder allgemeine Verfassungsgrundsätze verstoße (BVerfGE 6, 32 [41]; 21, 54 [59]; 23, 288 [300]).
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Das Bundesverfassungsgericht ist jedoch, soweit in einem Verfassungsbeschwerdeverfahren eine Verletzung des Art 2 Abs 1 GG oder des Art 6 Abs 2 GG durch eine landesrechtliche Norm gerügt wird, darauf beschränkt, die landesrechtliche Norm auf ihre Übereinstimmung mit bundesrechtlichen Normen zu überprüfen (vgl. BVerfGE 41, 88 [118 ff.]).
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Soweit die Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerden zu bejahen ist, sind diese unbegründet.
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Die Beschwerdeführer wenden sich - im ganzen gesehen - gegen die Einführung der reformierten Oberstufe als einer Schulform, die die Schüler zu einem vorzeitigen und extremen Spezialistentum führe, und gegen den Verlust der herkömmlichen gymnasialen Oberstufe, die eine allgemeine und breite Bildung vermittelt habe.
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1. Hierzu muß zunächst darauf hingewiesen werden, daß es sich bei dem Vorschaltgesetz lediglich um eine Übergangsregelung handelt, deren Geltung eng begrenzt ist. Das angegriffene Gesetz hat - wie bereits dargelegt wurde - unmittelbare Auswirkungen nur für die bis zum Ende des laufenden Schuljahres in der Jahrgangsstufe 11 befindlichen Schüler. Erst das endgültige Gesetz wird die verbindliche Rechtsgrundlage für die Einführung der reformierten Oberstufe nach dem 31. Juli 1977 bilden und damit auch für die Jahrgangsstufen 12 und 13 unmittelbar wirksam sein. Schon dieser Umstand schließt es aus, im vorliegenden Verfahren in eine Gesamtwürdigung des Systems der reformierten Oberstufe einzutreten.
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2. Es ist weiter zu berücksichtigen, daß die pädagogische Eignung und die bildungspolitischen Zielsetzungen der reformierten Oberstufe nicht der Prüfungszuständigkeit des Bundesverfassungsgerichts unterliegen. Die Einführung eines Punktesystems (anstelle der bisher üblichen Notenskala), die Gleichbewertung aller Fächer (Aufhebung der überkommenen Einteilung in Hauptfächer und Nebenfächer), die Ausgestaltung und Gewichtung der Fächer Gemeinschaftskunde, Geschichte, Deutsch sowie die Auflösung des überkommenen Klassenverbands und dessen Ersatz durch ein Kurssystem betreffen weitgehend bildungspolitische, pädagogische und didaktische Fragestellungen, die grundsätzlich der verfassungsgerichtlichen Nachprüfung entzogen sind. Das gleiche gilt, soweit der Deutsche Philologenverband beanstandet, daß die Einbringung von sogenannten Angleichkursen in die Jahrgangsstufe 11 den Lernrhythmus und die Lernweise von Schülern unterbreche, die bereits die Voraussetzungen für den Oberstufenunterricht in Gymnasien besäßen. Im Förderstufenurteil (BVerfGE 34, 165 [185]) hat das Bundesverfassungsgericht ausgeführt: "Das Grundgesetz gibt keinen Maßstab für die pädagogische Beurteilung von Schulsystemen. Es mag auch hier äußerste Grenzen geben, deren Überschreitung verfassungsrechtlich relevant wäre. ... ". Solche Grenzen sind jedenfalls durch die Gestaltung der Jahrgangsstufe 11 der reformierten Oberstufe nicht überschritten worden. Auch die Beschwerdeführer behaupten nicht, daß die tradierte gymnasiale Oberstufe keiner Reform bedürfe.
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II.
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Berücksichtigt man diese Gesichtspunkte bei der verfassungsrechtlichen Würdigung, so ergibt sich, daß die von den Beschwerdeführern zulässigerweise angegriffenen Bestimmungen des Vorschaltgesetzes mit dem Grundgesetz vereinbar sind.
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1. Die Rechte der beschwerdeführenden Eltern aus Art 6 Abs 2 Satz 1 GG (Elternrecht) sind nicht verletzt.
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Ausgehend von der Gestaltungsfreiheit der Länder im Schulwesen liegt es grundsätzlich in der demokratischen Mehrheitsentscheidung des Landesparlaments, welche Schulform eingeführt werden soll (BVerfGE 41, 46 [107]). Die organisatorische Gliederung der Schule und die strukturellen Festlegungen des Ausbildungssystems, das inhaltliche und didaktische Programm der Lernvorgänge und das Setzen der Lernziele sowie die Entscheidung darüber, ob und wieweit diese Ziele von dem Schüler erreicht worden sind, gehören zu dem der elterlichen Bestimmung grundsätzlich entzogenen staatlichen Gestaltungsbereich (BVerfGE 34, 165 [182] - Förderstufe -). Zwar darf - wie das Bundesverfassungsgericht in diesem Urteil weiter ausgeführt hat - das Wahlrecht der Eltern zwischen den vom Staat zur Verfügung gestellten Schulformen nicht mehr als zulässig begrenzt werden. Daraus kann jedoch kein Recht der Eltern abgeleitet werden, daß der Staat eine bestimmte, an den Wünschen der Eltern orientierte Schulform zur Verfügung stellen muß. Dies wäre angesichts der Vielfalt elterlicher Bildungsvorstellungen auch nicht durchführbar (aaO [185]). Allerdings kann die Grenze des verfassungsrechtlich Zulässigen dort liegen, wo das Wahlrecht und Bestimmungsrecht der Eltern angesichts nur noch einer einzigen vorhandenen obligatorischen Schulform mit einem vom Staat einseitig festgelegten Bildungsziel obsolet wird und leerläuft.
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Dies trifft jedoch auf die Jahrgangsstufe 11 der reformierten Oberstufe nicht zu. Zwar machen die beschwerdeführenden Eltern mit dem Hinweis auf die "Zerschlagung" des herkömmlichen Gymnasiums als einer allgemeinen Bildungseinrichtung und auf die Vernachlässigung der Allgemeinbildung in der reformierten Oberstufe zugunsten einer verfrühten Spezialisierung eine Beeinträchtigung ihres Elternrechts geltend. Die Jahrgangsklasse 11 stellt jedoch gemäß § 1 Abs 2 des Vorschaltgesetzes lediglich eine "Einführungsphase" dar, in der die Schüler auf die Arbeit in den nachfolgenden Jahrgangsstufen und die Wahl von Kursen und Fächern vorbereitet werden. Sie hält sich im übrigen noch im Rahmen der herkömmlichen Schulform. Es kann auch angesichts der Vielfalt der im Kurssystem angebotenen Fächer und Kombinationsmöglichkeiten wohl schwerlich von einer Einschränkung des elterlichen Rechts auf ein differenziertes Bildungsangebot gesprochen werden. Die beschwerdeführenden Eltern argumentieren in diesem Zusammenhang insofern widersprüchlich, als sie sich hinsichtlich der Schulform gegen die Entziehung der Wahlmöglichkeit wenden, zugleich jedoch beanstanden, daß durch die neue Schulform vorher nicht vorhandene Wahlfreiheiten eröffnet würden.
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Die Oberstufenreform stellt entgegen der Meinung der Beschwerdeführer in Hessen auch keinen weitgehend unerprobten Schulversuch dar. Wie der Hessisches Ministerpräsident dargelegt hat, verfügten im Zeitpunkt der Umstellung (1. August 1976) sämtliche hessischen Schulen über - verschieden langen - Erfahrungen mit dem neuen Unterrichtsmodell. Während der Erprobungsphase wurden eine ständig zunehmende Zahl von Schülern nach diesem Muster unterrichtet.
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2. Auch die Rechte der beschwerdeführenden Schüler aus Art 2 Abs 1 GG sind nicht verletzt.
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Das einzelne Kind hat aufgrund des Art 2 Abs 1 GG ein Recht auf eine möglichst ungehinderte Entfaltung seiner Persönlichkeit und damit seiner Anlagen und Befähigungen. Allerdings steht dieses Recht unter dem Vorbehalt der in dieser Verfassungsbestimmung genannten Eingrenzungen. Was das kindliche Entfaltungsrecht im einzelnen zum Inhalt hat (vgl. hierzu Oppermann, Gutachten C zum 51. Deutschen Juristentag, München 1976, S C 82 ff.; Ekkehart Stein, Das Recht des Kindes auf Selbstentfaltung in der Schule, Neuwied und Berlin, 1967), inwieweit es insbesondere Elemente eines "Rechts auf Bildung" enthält (vgl. BVerwGE 47, 201 [206]), braucht hier nicht näher untersucht zu werden. Denn einer der Grundgedanken der neugestalteten gymnasialen Oberstufe ist es, dem Schüler eine größere Entfaltungsmöglichkeit bei der Verwirklichung seiner Bildungsbestrebungen zu gewährleisten, als dies im tradierten Gymnasium möglich gewesen sei. Der von den Beschwerdeführern behauptete größere und unzumutbare Leistungsstreß in der neugestalteten gymnasialen Oberstufe - eine Behauptung, die in einem gewissen Widerspruch steht zu dem angeblich gesenkten Anspruchsniveau - könnte, wenn überhaupt, dann allenfalls in den Jahrgangsstufen 12 und 13 bestehen, in denen sich das Kurssystem erst voll entfaltet.
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3. Inwieweit die Beschwerdeführer durch die Gestaltung der Jahrgangsstufe 11 der reformierten Oberstufe in ihren Grundrechten aus Art 11 Abs 1 und Art 12 Abs 1 GG verletzt sein könnten, ist nicht ersichtlich.
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4. Die zu prüfenden Bestimmungen des Vorschaltgesetzes sind auch unter rechtsstaatlichen Gesichtspunkten nicht zu beanstanden.
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a) Das Rechtsstaatsprinzip und das Demokratieprinzip des Grundgesetzes verpflichten den Gesetzgeber, die wesentlichen Entscheidungen im Schulwesen selbst zu treffen und nicht der Schulverwaltung zu überlassen (BVerfGE 41, 251 [260]; ebenso BVerwGE 47, 201). Das gilt insbesondere für die der staatlichen Gestaltung offenliegende Rechtssphäre im Bereich der Grundrechtsausübung (BVerfGE 34, 165 [192 f.]). Was im einzelnen im Sinne dieser Rechtsprechung als "wesentlich" angesehen werden muß, ist im Schrifttum umstritten und in der höchstrichterlichen Rechtsprechung noch nicht abschließend geklärt.
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Der Hessische Verwaltungsgerichtshof hält in dem oben genannten Beschluß vom 18. August 1976, der mit seinen Parallelbeschlüssen den Anlaß zum Erlaß des Vorschaltgesetzes gegeben hat, eine gesetzliche Regelung folgender drei Punkte für erforderlich:
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1. die Auflösung des Klassenverbands und die Einführung des Kurssystems,
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2. die Wahl der Fächer durch den Schüler nach Grundkursen und Leistungskursen,
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3. die Einbeziehung der in den Grundkursen und Leistungskursen erreichten Punktzahlen in die Gesamtqualifikation.
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Der 51. Deutsche Juristentag (1976), der sich in der Abteilung "Schule im Rechtsstaat" ausführlich mit diesem Problem beschäftigte, hat noch weiter gehende Empfehlungen beschlossen (vgl. Verhandlungen des 51. Deutschen Juristentages, Bd II, Sitzungsberichte M 230). Danach müsse der "Parlamentsvorbehalt und Gesetzesvorbehalt" im Schulrecht aus Gründen des Demokratieprinzips, Sozialprinzips und Rechtsstaatsprinzips zur Konkretisierung der Grundrechte bei allen wesentlichen Schulangelegenheiten stärker als bisher verwirklicht werden. Je wesentlicher eine schulische Angelegenheit sei, um so bestimmter müsse die normative Aussage des Gesetzgebers sein. Seiner Regelung bedürften zumindest
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1. die Bildungsziele und Erziehungsziele der Schule,
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2. der allgemeine Lernzielkatalog,
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3. der Fächerkatalog,
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5. die "statusbildenden Normen", die den Schüler betreffen, die Schulaufnahme, die Schulverweisung, Schuldauer einschließlich Versetzung, Prüfungsforderungen einschließlich Prüfungsverfahren und Bewertung von Prüfungsleistungen, Disziplinarmaßnahmen.
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b) Ob es von Verfassungs wegen geboten ist, daß alle diese Fragen in einem förmlichen Gesetz geregelt werden, braucht hier nicht abschließend entschieden zu werden. Nach § 1 Abs 2 Satz 1 des Vorschaltgesetzes gliedert sich die gymnasiale Oberstufe in eine Einführungsphase und das ihr folgende Kurssystem. Damit hat der Gesetzgeber selbst die Grundentscheidung getroffen, daß nach einer Übergangsstufe der Klassenverband aufgelöst und der Unterricht in einzelnen Kursen erteilt wird. § 1 Abs 2 Satz 2 bezeichnet als Ziel der Ausbildung in der reformierten gymnasialen Oberstufe den Erwerb der allgemeinen Hochschulreife oder die Vorbereitung auf eine berufliche Ausbildung. Der Begriff "allgemeine Hochschulreife" umschreibt die Befähigung zu wissenschaftlicher Arbeit mit dem hierzu erforderlichen Kenntnisstand. Im übrigen ist, worauf der Hessische Ministerpräsident mit Recht hingewiesen hat, zu berücksichtigen, daß die neugeordnete gymnasiale Oberstufe in das gesamte Schulrecht des Landes Hessen eingebettet ist, in dessen Kontext die Bestimmungen des Vorschaltgesetzes zu sehen sind. Die in Art 56 Abs 3 bis 5 der hessischen Verfassung festgelegten Erziehungsziele und Unterrichtsgrundsätze gelten auch für die gymnasiale Oberstufe. Die Leistungsbewertung nach einem Punktesystem, das die bisherige Bewertung nach Noten ersetzt, ist in § 1 Abs 3 des Vorschaltgesetzes ausdrücklich geregelt.
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Ein rechtsstaatliches Regelungsdefizit könnte allenfalls hinsichtlich der Festlegung des Fächerkatalogs bestehen. Er wird in den oben erwähnten Erlassen des Hessischen Kultusministers näher umrissen. Deren Transformierung in Gesetzesrecht sollte offensichtlich durch § 3 Abs 2 des Vorschaltgesetzes sichergestellt werden. Auch wenn gegen diese Bestimmung rechtsstaatliche Bedenken zu erheben sind, so bestehen diese Erlasse doch als Schulordnungen fort, denen der Charakter von Rechtsverordnungen zukommt. Sollte hier unter dem Gesichtspunkt des Vorbehalts des Gesetzes noch eine Lücke bestehen, so ist zu berücksichtigen, daß das Vorschaltgesetz als vorläufiges Gesetz konzipiert wurde. Dem muß bei der verfassungsrechtlichen Überprüfung am Maßstab des Rechtsstaatsprinzips Rechnung getragen werden. Angesichts der Übergangssituation, die im Hinblick auf die Entscheidungen des Hessischen Verwaltungsgerichtshofs bei bereits laufendem Schuljahr die Schaffung einer gesetzlichen Grundlage in kürzester Frist forderte, und mit Rücksicht auf die allgemein übliche Einräumung einer gewissen "Karenz"frist, innerhalb der dem Gesetzgeber Gelegenheit zur rechtsförmigen Regelung zu geben ist (BVerfGE 41, 251 [266 f.]), kann ein solcher Mangel für eine beschränkte Zeit hingenommen werden.
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c) Die Beschwerdeführer beanstanden ferner, das Gesetz verwende "kautschukartige" Begriffe wie "Einführungsphase" und "Kurssystem". Dadurch wird jedoch das aus dem Rechtsstaatsprinzip abzuleitende Gebot der Normklarheit nicht verletzt. Dieser Grundsatz fordert zwar, daß die von einer gesetzlichen Regelung Betroffenen die Rechtslage erkennen und ihr Verhalten danach einzurichten vermögen (BVerfGE 20, 150 [158 ff.]; 31, 255 [264]). Die Notwendigkeit der Auslegung einer gesetzlichen Vorschrift nimmt ihr jedoch noch nicht die Bestimmtheit, die das Rechtsstaatsprinzip von einem Gesetz fordert (BVerfGE 21, 245 [261]; 31, 255 [264]; 37, 132 [142]). Im vorliegenden Fall ist eine hinreichend deutliche Umschreibung dieser Begriffe im Wege der Auslegung möglich, soweit diese sich nicht schon aus dem Wortlaut des § 1 Abs 2 des Vorschaltgesetzes ergibt. Als "Einführungsphase" ist eine Übergangszeit gemeint, in der noch kein volles Kurssystem besteht und im Klassenverband auf das neue System vorbereitet wird. Mit dem Begriff "Kurs" wird im Bildungsbereich die festumrissene Vorstellung einer inhaltlich und zeitlich begrenzten Unterrichtsveranstaltung verbunden.
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Ähnliches gilt für den von den Beschwerdeführern gerügten Begriff der "verbindlichen und frei gewählten Grundkurse und Leistungskurse", wie ihn § 1 Abs 2 Satz 2 verwendet. Aus dem Sinnzusammenhang ist die prinzipielle Unterscheidung von obligatorischen und fakultativen Unterrichtskursen zu entnehmen, die wiederum mit verschiedenen Leistungsanforderungen verbunden sind, nämlich in Grundkursen mit einem niedrigeren, in Leistungskursen hingegen mit einem gehobenen Leistungsniveau. Dabei ist einzuräumen, daß diese Begriffsbestimmungen einer schärferen Konturierung zugänglich sind; zumindest im Hinblick auf den Übergangscharakter des Vorschaltgesetzes erscheinen jedoch diese Begriffe ausreichend bestimmt.
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5. Die Rüge der Beschwerdeführer, das Land Hessen habe durch den Erlaß des Vorschaltgesetzes gegen den ungeschriebenen Grundsatz der Bundestreue verstoßen, ist offensichtlich unbegründet. Selbst wenn das Vorschaltgesetz mit der Vereinbarung der Kultusministerkonferenz vom 7. Juli 1972 nicht im Einklang stünde, läge darin noch kein Verstoß gegen den Grundsatz der Bundestreue; denn eine Deutung des Grundsatzes, die aus diesem eine durchgängige Bindung des Landesgesetzgebers an Vereinbarungen der Länderexekutiven herleitet, geriete in offenen Widerspruch mit der föderativen Ordnung des Grundgesetzes und - damit zusammenhängend - der demokratischen Ordnung in den Ländern.
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(gez.) Dr. Benda, Dr. Haager, Dr. Böhmer, Dr. Simon, Dr. Faller, Dr. Hesse
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Der Richter Dr. Katzenstein ist an der Unterschrift verhindert.
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