Beschluß | |
des ersten Senats vom 13. November 1979
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-- BvR 1022/78 -- | |
in dem Verfahren über die Verfassungsbeschwerde des Rechtskandidaten M ... gegen a) den Beschluß des Bundesverwaltungsgerichts vom 7. August 1978 - BVerwG 7 B 144,78 -, b) das Urteil des Hamburgischen Oberverwaltungsgerichts vom 3. März 1978 - OVG Bf. 186/77 -.
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Entscheidungsformel:
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Das Urteil des Hamburgischen Oberverwaltungsgerichts vom 3. März 1978 - OVG Bf. 86/77 - verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 12 Absatz 1 des Grundgesetzes. Die Entscheidung wird aufgehoben. Die Sache wird an das Hamburgische Oberverwaltungsgericht verwiesen. Die Freie und hansestadt Hamburg hat den Beschwerdeführer die notwendigen Auslagen zu erstatten.
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Gründe: | |
A. | |
Der Beschwerdeführer wendet sich dagegen, daß seine Erste Juristische Staatsprüfung wegen seines Verhaltens im mündlichen Prüfungstermin als "nicht bestanden" beurteilt worden ist.
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I.
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Nach der hamburgischen Juristenausbildungsordnung (JAO) vom 10. Juli 1972 (GVBl I S. 133) umfaßt die Erste Juristische Staatsprüfung eine schriftliche Hausarbeit, drei Aufsichtsarbeiten und die in vier Abschnitte gegliederte mündliche Prüfung. Die einzelnen Prüfungsleistungen sind gemäß § 14 nach sieben verschiedenen Noten zu bewerten, denen Punkte von 0 bis 18 ![]() ![]() | |
"Unterbricht der Prüfling die Prüfung, ohne daß ein wichtiger Grund vorliegt, so ist die Prüfung nicht bestanden."
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II.
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1. Der 1941 geborene Beschwerdeführer, der zunächst eine Seemannsausbildung durchlaufen und das Kapitänspatent erworben hatte, studierte ab Wintersemester 1970/71 Rechtswissenschaft. 1975 scheiterte er in der Ersten Juristischen Staatsprüfung. In der Wiederholungsprüfung erzielte er für seine Hausarbeit 7 Punkte und für die Klausuren 11, 10 und 7 Punkte; nach diesem Ergebnis der schriftlichen Prüfungsarbeiten hätte er die Staatsprüfung auch dann bestanden, wenn seine Leistungen in der mündlichen Prüfung lediglich als "ungenügend" (0 Punkte) beurteilt worden wären.
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In der Niederschrift über die mündliche Prüfung wurde für ![]() ![]() | |
Nach Anhörung des Beschwerdeführers erklärte der Vorsitzende des Justizprüfungsamts durch Bescheid vom 24. September 1976, bestätigt durch Widerspruchsbescheid vom 1. November 1976, die Wiederholungsprüfung gemäß § 24 Abs. 4 JAO für nicht bestanden. Der Begriff der "Unterbrechung" werde in der Ausbildungsordnung für alle Erscheinungsformen der Nichtteilnahme an den vorgeschriebenen Prüfungsabschnitten verwendet. Aus dem Wesen der Prüfung folge, daß eine Teilnahme an der mündlichen Prüfung nur dann vorliege, wenn sich der Prüfling über eine bloße Anwesenheit hinaus aktiv beteilige. Nur dann könne eine Leistungsbewertung erfolgen; der Beschwerdeführer habe nicht etwa völlig unbrauchbare, sondern überhaupt keine bewertbaren Leistungen erbracht.
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2. Gegen diese Bescheide hat der Beschwerdeführer Klage erhoben.
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a) Das Verwaltungsgericht verurteilte das Prüfungsamt nach Durchführung einer Beweisaufnahme zur Neubescheidung. Nach seiner Auffassung kann nicht schon dann eine Unterbrechung der Prüfung im Sinne des § 24 Abs. 4 JAO angenommen wer ![]() ![]() | |
b) Das Oberverwaltungsgericht hat hingegen das erstinstanzliche Urteil aufgehoben und die Klage durch das angegriffene Urteil vom 3. März 1978 abgewiesen.
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Nach Ansicht des Oberverwaltungsgerichts hat der Beschwerdeführer die Prüfung trotz körperlicher und geistiger Anwesenheit im mündlichen Termin dadurch unterbrochen, daß er sich an dem in der Ausbildungsordnung vorgeschriebenen sachgerechten Prüfungsgespräch nicht beteiligt und infolgedessen keine bewertbare Prüfungsleistung erbracht habe. Es sei unerheblich, daß der Beschwerdeführer nicht ausdrücklich erklärt habe, die Prüfung zu unterbrechen. Entscheidend sei allein, ob der Kandidat die anstehende Prüfungsleistung - mit welchem Erfolg auch immer - erbringe. Da ein äußeres Verhalten, nämlich das Nichterbringen der anstehenden Prüfungsleistung, den Tatbestand der Unterbrechung im Sinne des § 24 Abs. 4 JAO erfülle, komme es auch nicht auf die vom Verwaltungsgericht für beweiserheblich gehaltene Frage an, ob sich der Beschwerdeführer schon vor der Prüfung entschlossen gehabt habe, sich nicht zu beteiligen. Die bloße körperliche und geistige Anwesenheit in der Prüfung sei keine Prüfungsleistung im Sinne des § 14 JAO, der die Maßstäbe für die Bewertung der einzelnen Prüfungs ![]() ![]() | |
c) Die Nichtzulassungsbeschwerde des Beschwerdeführers hat das Revisionsgericht zurückgewiesen, da die Rügen des Beschwerdeführers nicht auf eine die Verletzung von Bundesrecht betreffende Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung gerichtet seien, die einer revisionsrechtlichen Klärung zugänglich zu machen wäre. Der erkennende Senat habe bislang die Möglichkeit, daß die Auslegung irrevisiblen Landesrechts unter bestimmten Voraussetzungen gegen das Rechtsstaatsprinzip verstoßen ![]() ![]() | |
III.
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1. Mit seiner gegen die Prüfungsbescheide sowie gegen die Entscheidungen des Oberverwaltungsgerichts und des Bundesverwaltungsgerichts gerichteten Verfassungsbeschwerde macht der Beschwerdeführer eine Verletzung seiner Grundrechte aus Art. 12 Abs. 1 und Art. 3 Abs. 1 GG geltend.
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Nach Auffassung des Beschwerdeführers ist die Auslegung des § 24 Abs. 4 JAO durch das Berufungsgericht willkürlich, da nicht erkennbar sei, unter welchen Voraussetzungen ein Verhalten als Nichtleistung im Unterschied zu einer völlig unbrauchbaren Leistung anzusehen sei. Wer teilnehme, aber nichts leiste, erbringe eine "völlig unbrauchbare Leistung", keineswegs eine "Nichtleistung". Würden der Teilnahmebegriff und der Leistungsbegriff vermengt, so könne jede nach dem Gesetz bereits bestandene Prüfung unter Berufung auf eine schlechte mündliche Leistung für nicht bestanden erklärt werden. Ein solches Verfahren sei rechtsstaatswidrig. Der Prüfling könne nicht erkennen, wie lange er denkend schweigen dürfe, wie abwegig und wie häufig er abwegig antworten dürfe, um noch als Teilnehmer ![]() ![]() | |
2. Zu der Verfassungsbeschwerde haben sich die Justizbehörde der Freien und Hansestadt Hamburg namens des Senats sowie das Justizprüfungsamt geäußert.
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Beide bezweifeln die Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde. Die erst nach der Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts eingelegte Verfassungsbeschwerde müsse als verspätet angesehen werden, da die Nichtzulassungsbeschwerde des Beschwerdeführers offensichtlich aussichtslos gewesen sei.
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In beiden Stellungnahmen wird die Verfassungsbeschwerde übereinstimmend als unbegründet beurteilt. Nach Meinung der Justizbehörde sind die angegriffenen Entscheidungen als Anwendung einfachen Rechts auf den Einzelfall verfassungsgerichtlich nur begrenzt nachprüfbar. Sie verletzten weder die Grundrechte des Beschwerdeführers aus Art. 12 Abs. 1 und Art. 3 Abs. 1 GG noch sonstiges spezifisches Verfassungsrecht. Insoweit könne auf die überzeugende rechtliche Würdigung durch das Bundesverwaltungsgericht verwiesen werden. Im übrigen sei das Berufungsurteil in jeder Hinsicht frei von Rechtsfehlern.
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Auch das Justizprüfungsamt bezieht sich auf die Ausführungen des Bundesverwaltungsgerichts, das den Vorwurf willkürlicher Rechtsanwendung zutreffend zurückgewiesen habe. Der Beschwerdeführer seinerseits behaupte lediglich, das Berufungsurteil sei willkürlich, ohne sich im einzelnen mit der zutreffenden sachlichen und rechtlichen Urteilsbegründung auseinanderzusetzen. Seine Unterstellungen, die Prüfungsentscheidung beruhe auf einem insgeheim gehegten Täuschungsverdacht, seien durch nichts gerechtfertigt; nachweislich sei die Prüfungsentscheidung sowie auch ihre Verteidigung während des Rechtsstreits allein auf die ausführlich erörterte Vorschrift des § 24 Abs. 4 JAO gestützt worden.
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Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig und begründet.
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I.
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Die in den Stellungnahmen geäußerten Bedenken gegen die Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde sind nicht gerechtfertigt.
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Die Einlegung einer Verfassungsbeschwerde setzt gemäß § 90 Abs. 2, § 93 Abs. 1 BVerfGG voraus, daß sowohl der Rechtsweg zuvor erschöpft als auch die Einlegungsfrist von einem Monat gewahrt worden ist. Beide Vorschriften greifen ineinander. Einerseits führt die Einlegung eines offensichtlich unzulässigen Rechtsmittels nicht dazu, daß durch die später ergehende Entscheidung die Monatsfrist neu in Lauf gesetzt wird. Andererseits kann der Grundsatz der Subsidiarität gebieten, das Erfordernis der Rechtswegerschöpfung auch auf außerordentliche Rechtsbehelfe wie die Nichtzulassungsbeschwerde auszudehnen. Lassen sich Zulässigkeit und Erfolgsaussichten dieses Rechtsbehelfs unterschiedlich beurteilen, so ist die weitere Beschreitung des Rechtswegs in der Regel nicht unzumutbar, doch darf die damit verbundene Ungewißheit nicht zu Lasten des Beschwerdeführers gehen. Vielmehr beginnt in solchen Fällen der Fristablauf für die Einlegung der Verfassungsbeschwerde erst mit der Zurückweisung der Nichtzulassungsbeschwerde (vgl. BVerfGE 16, 1 [2f]; 19, 145 [146f]; 28, 314 [319f]).
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Im vorliegenden Fall beruhten die Entscheidungen des Prüfungsausschusses und des Oberverwaltungsgerichts zwar auf der Anwendung nicht revisiblen Landesrechts. Doch durfte der Beschwerdeführer versuchen, auf dem gesetzlich vorgesehenen Weg der Nichtzulassungsbeschwerde die Zulassung der Revision wegen grundsätzlicher Bedeutung mit der Begründung zu erreichen, die Auslegung dieses irrevisiblen Rechts verstoße gegen das Grundgesetz und verletze daher Bundesrecht. Das Bundesverwaltungsgericht selbst hat - wie in dem angegriffenen Beschluß dargelegt wird - eine solche Möglichkeit zwar als Ausnahmefall angesehen, jedoch nicht ausgeschlossen.
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Der Beschwerdeführer wird durch die angegriffene Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts in seinem Grundrecht aus Art. 12 Abs. 1 GG verletzt.
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1. Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner bisherigen Rechtsprechung schon mehrfach den engen Zusammenhang zwischen Ausbildung und späterer Berufstätigkeit hervorgehoben und demgemäß Vorschriften, die für die Aufnahme eines Berufs eine bestimmte Vorbildung und Ausbildung sowie den Nachweis der erworbenen Fähigkeiten durch Bestehen einer Prüfung verlangen, an Art. 12 Abs. 1 GG gemessen (vgl. die Nachweise BVerfGE 37, 342 [352f] und 41, 251 [261]). Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts kommt dieses Grundrecht als unmittelbarer Prüfungsmaßstab darüber hinaus auch für Regelungen über die Durchführung berufsrelevanter Prüfungen in Betracht (BVerwGE 38, 105 [113]; NJW 1979, S. 2417 [2418] für Vorschriften über die juristische Staatsprüfung). Es bestehen keine Bedenken, dieser Auffassung im vorliegenden Fall beizutreten. Zwar wird im Prüfungsrecht im allgemeinen der auf Art. 3 Abs. 1 GG beruhende Grundsatz der Chancengleichheit im Vordergrund stehen. Hängt aber das Ablegen einer Prüfung eng mit dem späteren Berufsweg zusammen und ist ihr Bestehen Zulassungsvoraussetzung für die Aufnahme eines Berufs, so kann durch Prüfungsregelungen auch der besondere Freiheitsraum berührt werden, den Art. 12 Abs. 1 GG sichern will. Das gilt jedenfalls für solche Vorschriften, die das Nichtbestehen dieser Prüfung als Sanktion für ein bestimmtes Verhalten anordnen.
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Um die Anwendung gerade einer solchen Vorschrift handelt es sich im vorliegenden Fall. Der Normgeber hat - wie bereits das Verwaltungsgericht hervorgehoben hat - nicht den Weg beschritten für die mündliche Prüfung ein Mindestniveau vorzuschreiben und das Bestehen der Staatsprüfung davon abhängig zu machen, daß der Prüfling bei diesem Prüfungsabschnitt nicht völlig versagt. In Ermangelung einer solchen Regelung, die für ![]() ![]() | |
2. Der vorliegende Fall nötigt nicht zur näheren verfassungsrechtlichen Prüfung des § 24 Abs. 4 JAO. Es kann ferner mit der Hamburgischen Justizbehörde davon ausgegangen werden, daß Entscheidungen, die diese Vorschrift auf Fälle der vorliegenden Art anwenden, als Auslegung und Anwendung einfachen Rechts nur begrenzt der verfassungsgerichtlichen Überprüfung unterliegen (vgl. BVerfGE 18, 85 [92f]; 42, 143 [148f]). Das Grundrecht des Beschwerdeführers aus Art. 12 Abs. 1 GG wird jedenfalls dadurch verletzt, daß bei den angegriffenen Entscheidungen der Einfluß dieses Grundrechts auf die Verfahrensgestaltung außer acht geblieben ist.
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Es entspricht inzwischen gefestigter Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, daß die verfassungsrechtliche Gewährleistung der Grundrechte auch im jeweiligen Verfahrensrecht Geltung beansprucht. So folgt bereits unmittelbar aus Art. 14 Abs. 1 GG die Pflicht, bei Eingriffen in dieses Grundrecht einen effektiven Rechtsschutz zu gewähren, der den Anspruch auf faire Verfahrensführung einschließt (vgl. zuletzt BVerfGE 46, 325 [334]; 49, 220 [225]; zum Gebot fairer Verfahrensführung vgl. ferner BVerfGE 46, 202 [210] m.w.N.). Eine verfassungskonforme Gestaltung und Anwendung des Verfahrensrechts gebieten ebenso die Grundrechte aus Art. 2 Abs. 2 GG (vgl. BVerfGE 51, 324 = EuGRZ 1979, S. 470; Beschluß vom 3. Oktober 1979, NJW 1979, S. 2607) und aus Art. 12 Abs. 1 GG (vgl. ![]() ![]() | |
Unter Berücksichtigung der verfahrensrechtlichen Auswirkungen des Art. 12 Abs. 1 GG hätte die Prüfungskommission es nicht unterlassen dürfen, den Beschwerdeführer bereits während der Prüfung darauf hinzuweisen, daß sein Schweigen nach der Sanktionsvorschrift des § 24 Abs. 4 JAO beurteilt werden könnte. Die Anwendung dieser Vorschrift hat zur Folge, daß die gesamte Prüfung als nicht bestanden gilt. Sie hat also - namentlich bei Wiederholungsprüfungen - schwerwiegende Auswirkungen für den weiteren beruflichen Werdegang des Prüflings. Angesichts dieser Folgen durfte die Prüfungskommission die Anwendbarkeit der Vorschrift nicht - ihrerseits schweigend - ohne weiteres voraussetzen. Mag auch ihre Anwendbarkeit selbst dann, wenn der Prüfling im Termin anwesend ist, nicht völlig ausgeschlossen sein, so liegt doch jedenfalls die Auslegung nicht nahe, daß sogar eine völlig unbrauchbare Leistung aktive Teilnahme an der Prüfung voraussetze und daß ein Schweigen des Kandidaten als Unterbrechung anzusehen sei. Normalerweise wird der im Prüfungstermin anwesende Kandidat darauf vertrauen, daß für die verschiedenen Prüfungsfächer eine der in § 14 JAO vorgesehenen Noten festgesetzt und eine völlig unbrauchbare Leistung mit "ungenügend" bewertet wird. So ist die Prüfungskommission im Falle des Beschwerdeführers zunächst auch verfahren. Hätte sie den Beschwerdeführer bereits während des Termins darauf hingewiesen, daß die Prüfung we ![]() ![]() | |
Die Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts, die diese Prüfungsentscheidung gleichwohl gebilligt hat, war daher gemäß § 95 Abs. 2 BVerfGG aufzuheben. Damit wird der Beschluß des Bundesverwaltungsgerichts gegenstandslos. Die Entscheidung über die Auslagenerstattung beruht auf § 34 Abs. 4 BVerfGG.
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