des Zweiten Senats vom 17. Oktober 1990
| |
– 2 BvE 6, 7/90 – | |
in den Verfahren über die Anträge I. festzustellen: § 27 Abs. 1 Satz 2, 2. Halbsatz des Bundeswahlgesetzes ist verfassungswidrig und verletzt die Antragstellerin in ihrem Recht auf Chancengleichheit aus Art. 21 Abs. 1 und Art. 38 Abs. 1 des Grundgesetzes, soweit seine Geltung sich auch auf die erste gesamtdeutsche Wahl des Deutschen Bundestages erstreckt, Antragstellerin: Ökologisch-Demokratische Partei, (ÖDP), vertreten durch den Bundesvorstand, Kaiserplatz 17, Bonn l – Bevollmächtigter: Prof. Dr. Dietrich Murswiek, Hainbundstraße 12, Göttingen –, Antragsgegner: Deutscher Bundestag, vertreten durch die Präsidentin, Bundeshaus, Bonn l – Bevollmächtigter: Prof. Dr. Peter Lerche, Junkersstraße 13, Gauting – 2 BvE 7/90 –; II. festzustellen: 1. a) Der Deutsche Bundestag hat dadurch gegen die Rechte der Antragstellerin aus Art. 38 Abs. 1 des Grundgesetzes in Verbindung mit Art. 21 des Grundgesetzes verstoßen, daß er in Art. 1 des Gesetzes zu dem Vertrag vom 3. August 1990 zur Vorbereitung und Durchführung der ersten gesamtdeutschen Wahl des Bundestages zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik sowie zu dem Änderungsvertrag vom 20. August 1990 diesem Vertrag sowie dem Änderungsvertrag zugestimmt hat und in Art. 2 Nr. 2 des oben genannten Gesetzes § 5 Abs. 1 des Parteiengesetzes unverändert übernommen hat, in dem der verankerte Grundsatz der abgestuften Chancengleichheit festgehalten ist. Durch die Übernahme des § 5 Abs. 1 Parteiengesetz auf den Bereich der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik ist diese Norm nichtig geworden. Gleichzeitig wurde hierdurch Art. 3 des Grundgesetzes verletzt; b) Der Bundesrat hat durch die von ihm erklärte Zustimmung zu dem unter Ziffer 1 a) genannten Gesetz die Antragstellerin in dem aus Ziffer 1 a) des Tenors ersichtlichen Umfang in ihren Rechten auf Chancengleichheit nach Art. 21 Abs. 1 und Art. 38 Abs. 1 sowie Art. 3 des Grundgesetzes verletzt, c) die Bundesregierung hat durch die Ausführung der unter Ziffer 1 a) genannten Gesetze die Rechte der Antragstellerin auf Chancengleichheit nach Art. 21 Abs. 1 und Art. 38 Abs. 1 sowie Art. 3 des Grundgesetzes verletzt; 2. a) Der Deutsche Bundestag hat dadurch gegen die Rechte der Antragstellerin aus Art. 38 Abs. 1 des Grundgesetzes in Verbindung mit Art. 21 in Verbindung mit Art. 3 des Grundgesetzes verstoßen, daß er in Art. 1 des Gesetzes zu dem Vertrag vom 3. August 1990 zur Vorbereitung und Durchführung der ersten ge ![]() ![]() | |
Entscheidungsformel: | |
§ 20 Absatz 2 Satz 2 und § 27 Absatz 1 Satz 2 des Bundeswahlgesetzes sind bei der Wahl zum 12. Deutschen Bundestag mit der Maßgabe anzuwenden, daß auch
| |
a) Parteien, ihnen gleichgestellte politische Vereinigungen und Listenvereinigungen in den Ländern Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen,
| |
b) Parteien, die bei der Wahl zum 11. Deutschen Bundestag mindestens 75 000 Zweitstimmen erhalten haben, in den Ländern Baden-Württemberg, Bayern, Berlin, Bremen, Hamburg, Hessen, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz, Saarland und Schleswig-Holstein, für die Einreichung von Kreiswahlvorschlägen und von Landeslisten von der Pflicht zur Beibringung von Unterstützungsunterschriften befreit sind. ![]() | |
Die zur gemeinsamen Entscheidung verbundenen Verfahren betreffen die Frage, ob die Beibehaltung der Bestimmungen des Bundeswahlgesetzes, nach denen parlamentarisch nicht vertretene Parteien Wahlvorschläge nur einreichen können, wenn sie eine bestimmte Zahl von Unterstützungsunterschriften beibringen, die Antragstellerinnen unter den besonderen Bedingungen der ersten gesamtdeutschen Wahl in ihrem Recht auf Chancengleichheit bei der Wahl verletzt.
| |
I.
| |
1. § 18 Abs. 2 Satz 1 Bundeswahlgesetz – BWahlG – in der Fassung der Bekanntmachung vom 21. September 1990 (BGBl. I S. 2059), zuletzt geändert durch das Zehnte Gesetz zur Änderung des Bundeswahlgesetzes sowie zur Änderung des Parteiengesetzes vom 8. Oktober 1990 (BGBl. I S. 2141) bestimmt, daß parlamentarisch nicht vertretene Parteien dem Bundeswahlleiter ihre Beteiligung an der Wahl anzeigen müssen und legt für diese Anzeige eine Frist fest. Die Vorschrift lautet:
| |
Parteien, die im Deutschen Bundestag oder einem Landtag seit deren letzter Wahl nicht aufgrund eigener Wahlvorschläge ununterbrochen mit mindestens fünf Abgeordneten vertreten waren, können als solche einen Wahlvorschlag nur einreichen, wenn sie spätestens am 40. Tage vor der Wahl dem Bundeswahlleiter ihre Beteiligung an der Wahl schriftlich angezeigt haben und der Bundeswahlausschuß ihre Parteieigenschaft festgestellt hat.
| |
Wahlvorschläge können diese Parteien nur bei Vorlage von Unterstützungsunterschriften einreichen. Für die Einreichung von Kreiswahlvorschlägen ist in § 20 Abs. 2 Satz 2 BWahlG insoweit bestimmt:
| |
Kreiswahlvorschläge der in § 18 Abs. 2 genannten Parteien müssen außerdem von mindestens 200 Wahlberechtigten des Wahlkreises persönlich und handschriftlich unterzeichnet sein; die Wahlberechtigung muß im Zeitpunkt der Unterzeichnung gegeben sein und ist bei Einreichung des Kreiswahlvorschlages nachzuweisen.
| |
Für Landeslistenvorschläge findet sich die entsprechende Vorschrift in § 27 Abs. 1 S. 2 BWahlG. Sie lautet: ![]() | |
![]() | |
Durch den am 3. August 1990 unterzeichneten Vertrag zur Vorbereitung und Durchführung der ersten gesamtdeutschen Wahl des Deutschen Bundestages wurde der Geltungsbereich des Bundeswahlgesetzes für die erste gesamtdeutsche Wahl mit Wirkung vom 3. September 1990 auf das Gebiet der Länder Mecklenburg-Vorpommern, Brandenburg, Sachsen-Anhalt, Sachsen und Thüringen sowie Berlin (Ost) erstreckt (vgl. BGBl. II S. 868). Art. 2 Nr. 2 des Gesetzes vom 29. August 1990 zu dem Vertrag vom 3. August 1990 sowie dem Änderungsvertrag vom 20. August 1990 (BGBl. II S. 813 – Gesetz zum Wahlrechtsvertrag) trifft in § 53 eine Übergangsregelung für die Wahl zum 12. Deutschen Bundestag; Absatz 4 lautet:
| |
(4) § 18 Abs. 2 Satz 1 gilt mit der Maßgabe, daß auch die Vertretung in der Volkskammer zu berücksichtigen ist und die Wörter "mit mindestens fünf Abgeordneten" entfallen.
| |
Art. 3 Nr. 7 des vorgenannten Gesetzes regelt:
| |
§ 27 Abs. 1 Satz 2 gilt in den Ländern Mecklenburg-Vorpommern, Brandenburg, Sachsen-Anhalt, Sachsen und Thüringen mit der Maßgabe, daß die Zahl der Wahlberechtigten bei der Volkskammerwahl am 18. März 1990 zugrunde zu legen ist. In Berlin sind 2000 Unterschriften beizubringen. | |
Art. 1 Nr. 3 des Zehnten Gesetzes zur Änderung des Bundeswahlgesetzes sowie zur Änderung des Parteiengesetzes vom 8. Oktober 1990 (BGBl. I S. 2141) läßt im Anschluß an die Entscheidung des Senats vom 29. September 1990 in den Verfahren 2 BvE 1/90, 3/90, 4/90 und 2 BvR 1247/90 Listenvereinigungen für Parteien und andere politische Vereinigungen zu, die am 3. Oktober 1990 ihren Sitz in der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik hatten. Art. 1 Nr. 5 dieses Gesetzes sieht vor: ![]() | |
![]() | |
Die Unterstützungsunterschriften für die Kreiswahlvorschläge und Landeslisten sind auf amtlichen Formblättern zu leisten, die auf Anforderung vom Kreiswahlleiter oder Landeswahlleiter geliefert werden (§§ 34 Abs. 4; 39 Abs. 3 Satz 2 Bundeswahlordnung – BWO–).
| |
Der Landeswahlleiter, sein Stellvertreter sowie die Kreiswahlleiter werden gemäß § 9 Abs. 1 BWahlG von der vom Bundesminister des Innern bestimmten Stelle ernannt. Diese teilt die Namen sowie die Anschriften der Dienststelle mit Fernsprech- und Fernschreibanschluß dem Bundeswahlleiter mit und macht sie öffentlich bekannt. Der Landeswahlleiter und sein Stellvertreter werden gemäß § 2 BWO auf unbestimmte Zeit ernannt. Die Ernennung der Kreiswahlleiter und ihrer Stellvertreter hat gemäß § 3 BWO spätestens alsbald nach der Bestimmung des Tages der Hauptwahl zu erfolgen.
| |
Hinsichtlich der Aufforderung zur Einreichung von Wahlvorschlägen bestimmt § 32 Abs. 1 BWO, daß die Kreis- und Landeswahlleiter nach Bestimmung des Wahltages durch öffentliche Bekanntmachung zur möglichst frühzeitigen Einreichung aufzufordern und auf die Voraussetzungen für die Einreichung von Wahlvorschlägen nach § 18 Abs. 2 BWahlG hinzuweisen haben.
| |
Gemäß Art. 3 Nr. 1b des Gesetzes vom 29. August 1990 zu dem Vertrag vom 3. August 1990 wurden die in § 9 Abs. 1 BWahlG festgelegten Zuständigkeiten der Landesregierungen bei der Bildung der Wahlorgane in den östlichen Bundesländern bis zum 3. Oktober 1990 vom Minister des Innern der Deutschen Demokratischen Republik oder der von ihm bestimmten Stelle wahrgenommen.
| |
2. Die Antragstellerinnen sind Bundesparteien, die in der Vergangenheit an Kommunal-, Landtags- und Bundestagswahlen im bisherigen Gebiet der Bundesrepublik Deutschland, dagegen noch nicht an solchen im Bereich der früheren Deutschen Demokrati ![]() ![]() ![]() ![]() | |
Die fristgerechte Beibringung der Unterstützungsunterschriften sei auch aus technischen Gründen nicht möglich. Die vorgeschriebenen Formulare für die Unterstützungsunterschriften seien teilweise mit großer Verspätung – erst ab Anfang Oktober 1990 – ausgehändigt worden. Die rechtzeitige Einreichung der erforderlichen Anzahl von Unterschriften bei den Wahlämtern sei auch deshalb nicht möglich, weil in den östlichen Bundesländern der Aufbau der Wahlorganisation nach wie vor noch nicht abgeschlossen sei. Da ein erheblicher Teil der Kreiswahlleiter noch nicht ernannt sei, fehle häufig ein Ansprechpartner für die Anforderung der amtlichen Formblätter für die Unterstützungsunterschriften. Bei der erforderlichen Überprüfung der Wahlberechtigung der den Wahlvorschlag Unterstützenden komme es ebenfalls zu Verzögerungen, die in den bisherigen Ländern der Bundesrepublik nicht aufträten. Die Unterschriftenblätter für das Land Sachsen seien der Antragstellerin des Verfahrens zu 1) erst am 5. Oktober 1990, der Antragstellerin des Verfahrens zu 2) erst am 12. Oktober 1990 ausgehändigt worden. Diese habe für das Land Thüringen am 9. Oktober 1990 800 Unterschriftsformulare erhalten, d.h. noch nicht einmal die für die erforderliche Anzahl von 2000 Unterschriften notwendige Mindestmenge; im übrigen sei aus organisatorischen Gründen ein gewisser Überhang nötig. Hinzu komme als Erschwernis das für sie in der früheren Deutschen Demokratischen Republik bis zum April 1990 geltende politische Betätigungsverbot sowie das seit 20 Jahren durch die Alliierte Kommandatura auferlegte öffentliche Betätigungsverbot in Berlin (West).
| |
Die Antragstellerinnen stellen die aus dem Rubrum ersichtlichen Anträge in der Hauptsache und beantragen, sie im Wege der einst ![]() ![]() | |
3. Der Deutsche Bundestag und die Bundesregierung sind den Anträgen entgegengetreten. Die Bundesregierung hat indessen angeregt, eine etwa zu erlassende einstweilige Anordnung möge so beschaffen sein, daß sie rechtzeitg vor dem 40. Tag vor der Wahl unmittelbar anwendbares Recht schaffe und andererseits ausschließe, daß es trotz der Durchführung der Wahl auf der Grundlage dieser gerichtlichen Maßnahme aus verfassungsprozessualen Gründen später gleichwohl – etwa nach einer Hauptsacheentscheidung – zu Neuwahlen kommen müsse.
| |
4. Der Senat hat bei dem Bundesminister des Innern und dem Bundeswahlleiter eine Auskunft u.a. dazu eingeholt, wann in den fünf neuen Bundesländern die Landes- und Kreiswahlleiter bestellt worden seien, wann die Mitteilung ihrer Ernennung an den Bundes- bzw. Landeswahlleiter erfolgt und die Ernennung öffentlich bekannt gemacht worden sei. Ferner hat der Senat erfragt, wieviele Formblätter den in § 18 Abs. 2 BWahlG genannten Parteien auf Anforderung zur Verfügung gestellt worden seien und ob es Defizite bei der Erfüllung der Anforderung gegeben habe oder gebe. Schließlich wurde auch um Auskunft darüber gebeten, ob es den Parteien gestattet sei, etwa fehlende amtliche Formblätter durch Ablichtung zu ersetzen und ob ihnen dies gegebenenfalls bekannt gewesen sei.
| |
Die Fragen wurden am 16. Oktober 1990 im wesentlichen wie folgt beantwortet:
| |
Die Landeswahlleiter seien mit Verfügung des Ministers des Innern der Deutschen Demokratischen Republik vom 6. September 1990, ihre Stellvertreter ebenfalls durch diesen mit Verfügung vom 17. September 1990 ernannt worden. Die Mitteilung der Namen sowie der Anschriften der Dienststellen mit Fernsprech- und Fernschreibanschluß an den Bundeswahlleiter sei am 18. September 1990 erfolgt. Die entsprechenden Angaben seien an den Ausgabetagen 14. September 1990 (Landeswahlleiter) und 21. September ![]() ![]() | |
Dem Bundeswahlleiter seien Mitteilungen über die Ernennung der Kreiswahlleiter bisher erst aus zwei der fünf neuen Bundesländer zugegangen. Nach einer Meldung vom 5. Oktober 1990 seien die Kreiswahlleiter in Sachsen-Anhalt bestellt und zugleich die Kreiswahlausschüsse berufen worden. Die öffentliche Bekanntmachung sei am 8. Oktober 1990 in der Zeitung "Volksstimme" erfolgt. Für das Land Mecklenburg-Vorpommern sei die Bestellung der Kreiswahlleiter und die Berufung der Kreiswahlausschüsse fernschriftlich am 5. Oktober 1990 mitgeteilt worden. Es sei nicht bekannt, wo die öffentliche Bekanntmachung erfolgt sei. In einer an das Bundesministerium des Innern gerichteten, dem Senat von dort übersandten Mitteilung des Wahlbüros Berlin vom 16. Oktober 1990 werden die vorbezeichneten Angaben dahin ergänzt, daß die Bestellung der Kreiswahlleiter in Sachsen-Anhalt sowie in Mecklenburg-Vorpommern am 1. Oktober 1990 erfolgt sei. Die öffentliche Bekanntmachung in Mecklenburg-Vorpommern sei durch Übergabe an die Nachrichtenagentur ADN am 2. Oktober 1990 erfolgt; die Angaben seien auf den Lokalseiten der Presse abgedruckt worden.
| |
Der Bundesminister des Innern hat mitgeteilt, nach Auskunft des Wahlbüros in Berlin vom 16. Oktober 1990 seien inzwischen alle Kreiswahlleiter ernannt, die Angaben hätten jedoch dem Bundeswahlleiter noch nicht übermittelt werden können. In Thüringen sei die Liste der Kreiswahlleiter in der Bezirksverwaltungsbehörde ausgehängt und am 16. Oktober 1990 den Parteien schriftlich mitgeteilt worden; eine öffentliche Bekanntmachung in einer Zeitung sei eingeleitet. Diese Angaben werden durch die Auskunft des Wahlbüros vom 16. Oktober 1990 dahin ergänzt, daß die Ernennung der Kreiswahlleiter in Thüringen am 9. Oktober 1990 erfolgt sei. Der Aushang bei der Bezirksverwaltung bestehe seit dem 13. Oktober 1990. Eine Bekanntmachung in der Presse sei "noch ![]() ![]() | |
Die Formblätter für die Unterstützungsunterschriften hätten weitgehend erst "ab Anfang Oktober" zur Verfügung gestanden. Mit der Aushändigung von amtlichen Formularen für Unterstützungsunterschriften betr. Landeslisten in insgesamt jeweils mehr als 10000 Exemplaren (Mecklenburg-Vorpommern: 10000; Brandenburg: 12000; Sachsen-Anhalt: 13000; Sachsen: 21000 und Thüringen: 12000) habe den Anforderungen entsprochen werden können. Formblätter für Unterstützungsunterschriften zu Kreiswahlvorschlägen seien den Landeswahlleitern in gleicher Zahl wie zu Listenwahlvorschlägen zur Verfügung gestellt, Beschwerden über Defizite bei der Versorgung seien insoweit nicht bekannt geworden. Über die Anzahl der von den einzelnen Parteien angeforderten Formblätter für Landeslisten und Kreiswahlvorschläge lägen mit Ausnahme der NPD keine Angaben vor. Die NPD habe im Land Thüringen für die Landesliste 10 000 Unterschriftenblätter beantragt und 2000 erhalten, davon zunächst 850 sowie später – nach Behebung technischer Schwierigkeiten – den Rest.
| |
In der Staatspraxis werde die Verwendung von Fotokopien des amtlichen Formulars für Unterstützungsunterschriften betr. Landeslisten und Kreiswahlvorschläge zugelassen. Darauf werde in dem Kommentar zum Wahlrecht von Schreiber ausdrücklich hingewiesen. Es sei davon auszugehen, daß dies den bereits seit ![]() ![]() | |
1. Nach § 32 Abs. 1 BVerfGG kann das Bundesverfassungsgericht im Streitfall einen Zustand durch einstweilige Anordnung vorläufig regeln, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile oder aus einem anderen wichtigen Grund zum gemeinen Wohl dringend geboten ist.
| |
Wegen der meist weittragenden Folgen, die eine einstweilige Anordnung in einem verfassungsrechtlichen Verfahren auslöst, ist bei der Prüfung der Voraussetzungen des § 32 Abs. 1 BVerfGG ein strenger Maßstab anzulegen; das gilt besonders, wenn mit der einstweiligen Anordnung ein Gesetz außer Vollzug gesetzt werden soll (BVerfGE 3, 41 [44]; 81, 53 [54]). Dabei müssen die Gründe, welche für die Verfassungswidrigkeit der angegriffenen Vorschriften sprechen, außer Betracht bleiben, es sei denn, die in der Hauptsache begehrte Feststellung erwiese sich von vornherein als unzulässig oder offensichtlich unbegründet. Das Bundesverfassungsgericht muß vielmehr die Folgen, die eintreten würden, wenn die einstweilige Anordnung nicht ergeht, die angegriffene Regelung in dem Hauptsacheverfahren sich jedoch später als verfassungswidrig erwiese, gegen die Nachteile abwägen, die entstehen würden, wenn diese Regelung vorläufig außer Anwendung gesetzt würde, sie aber später als verfassungsgemäß erkannt würde (BVerfGE 3, 41 [44]; 81,53 [54 f.].
| |
2. Es bedarf keiner Entscheidung, ob sämtliche Anträge in den Organstreitverfahren zulässig sind und die Antragstellerinnen mit ihrem gesamten Vorbringen gehört werden können. Eine einstweilige Anordnung kann auch dann ergehen, wenn nur ein Teil der Anträge in der Hauptsache weder unzulässig noch offensichtlich unbegründet ist und es insofern einer vorläufigen Regelung des Streitfalles bedarf. Das ist hier der Fall. ![]() | |
![]() ![]() ![]() | |
b) Etwas anderes gilt jedoch, soweit die Antragstellerinnen gegen den Deutschen Bundestag streiten und rügen, daß die Unterschriftenquoren nach §§ 20 Abs. 2 Satz 2,27 Abs. 1 Satz 2 BWahlG ihr Recht auf Chancengleichheit im Blick auf die in § 18 Abs. 1 in Verbindung mit § 53 Abs. 4 BWahlG getroffene Regelung verletzen. Diese Anträge sind in der Hauptsache zulässig und nicht offensichtlich unbegründet. Die beanstandete Gesetzesänderung bewirkt eine nicht unerhebliche Verschärfung der Differenzierung zwischen den Parteien, die vom Unterschriftenquorum befreit sind, und solchen, die Unterschriften beibringen müssen. Vom Unterschriftsquorum befreit sind danach alle Parteien, die im Deutschen Bundestag, in der Volkskammer der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik oder in einem Landtag mit mindestens einem Mandat vertreten (gewesen) sind. Da die Wahlen zur Volkskammer am 18. März 1990 ohne Sperrklausel – und ohne Unterschriftsquoren für die Einreichung von Wahlvorschlägen – durchgeführt wurden, bedeutet dies, daß alle Parteien in der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik , die gerade so viele Stimmen erreicht haben, daß ihnen ein Mandat zugefallen war, von dem Unterschriftsquorum befreit sind. Demgegenüber mußten Parteien in der Bundesrepublik, da für Bundestags- und Landtagswahlen die 5 v.H.-Klausel gilt, sieht man von der Sondersituation in Bremen/ Bremerhaven ab, mindestens 5 v.H. der abgegebenen Stimmen im Wahlgebiet erhalten, um zu einem Mandat – und dadurch zur Befreiung vom Unterschriftsquorum – zu gelangen. Damit werden Rechtsfragen aufgeworfen, die in der bisherigen Rechtsprechung noch nicht geklärt sind.
| |
c) Keine Zulässigkeitsbedenken bestehen auch, soweit die Antragstellerinnen sich zur Begründung ihrer Anträge gegen den Deutschen Bundestag auf Schwierigkeiten berufen, die sich aus der ![]() ![]() | |
Mit dieser Rüge sind die Anträge auch nicht offensichtlich unbegründet. Es erscheint jedenfalls möglich, daß den Deutschen Bundestag bezüglich der Wahlvorbereitung in den Ländern der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik eine Überwachungspflicht trifft, deren Wahrnehmung ihm Anlaß gegeben haben könnte, von dem Erfordernis des Unterschriftenquorums dort abzusehen oder es zu modifizieren.
| |
Mit den Vorschriften der Art. 2 und 3 des Gesetzes zum Wahlrechtsvertrag hat der Deutsche Bundestag Übergangsregelungen für eine einmalige, so nicht wiederkehrende Situation getroffen. Er hat drei Monate vor dem Termin für die erste gesamtdeutsche Bundestagswahl das Bundeswahlgesetz auf das Gebiet der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik ausgedehnt und dessen Ausführung, soweit für sie nicht der Bundeswahlleiter zuständig ist, ![]() ![]() | |
Geht man davon aus, daß im vorliegenden Fall der Gesetzgeber angesichts der von ihm in den §§ 20 Abs. 2 Satz 2 und 27 Abs. 1 Satz 2 BWahlG getroffenen rechtlichen Regelungen eine solche Kontrollaufgabe für den Bereich der fünf Länder auf dem Gebiet der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik hatte, so hätten ihm in Wahrnehmung der damit verbundenen Pflicht die mit der fristgerechten Beibringung von Unterstützungsunterschriften verbundenen Schwierigkeiten nicht verborgen bleiben können, auf die die Antragstellerinnen hinweisen.
| |
Das erhellt schon daraus, daß die vom Senat erbetene Auskunft des Bundesministers des Innern über den Stand der Wahlvorbereitungen in den Ländern der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik diese faktischen Schwierigkeiten eindrucksvoll belegt. Danach standen die Vordrucke für die Unterschriften zur Unterstützung von Landeslisten und Kreiswahlvorschlägen in den fünf ![]() ![]() | |
Diese Schwierigkeiten hätte der Gesetzgeber schon zu einem Zeitpunkt feststellen können, als ihm sachgerechte Reaktionen, gegebenenfalls auch durch Verzicht auf das Unterschriftenquorum für die erste gesamtdeutsche Wahl, möglich waren. Dann aber wäre er zu diesen Maßnahmen möglicherweise auch verfassungsrechtlich verpflichtet gewesen.
| |
3. Die danach gebotene Abwägung ergibt folgendes: ![]() | |
![]() | |
Hinzu kommt, daß der Wahl zum 12. Deutschen Bundestag eine herausgehobene staatspolitische Bedeutung zukommt. Sie ist die erste gesamtdeutsche Wahl; für sie ist daher besonders wesentlich, daß ihre Durchführung auf einer rechtlichen Grundlage erfolgt, die mit den demokratischen Wahlgrundsätzen in vollem Umfang vereinbar ist.
| |
b) Ergeht die einstweilige Anordnung, ergibt die Entscheidung in der Hauptsache aber, daß die für die 12. Deutsche Bundestagswahl in den §§ 20 Abs. 2 Satz 2 und 27 Abs. 1 Satz 2 BWahlG getroffene Regelung die Chancengleichheit der Parteien nicht beeinträchtigt, so wögen die damit verbundenen Nachteile weniger schwer. In diesem Fall wäre die einstweilige Anordnung zwar mit einem Eingriff in die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers verbunden; es hätten sich dann womöglich an der Wahl Parteien mit Wahlvorschlägen beteiligt, die der Gesetzgeber im Hinblick auf deren Mangel an Ernsthaftigkeit ausschließen durfte. Dieser Eingriff ist jedoch, ![]() ![]() | |
Im übrigen ist hier zu bedenken: Auch wenn den Gesetzgeber keine Pflicht zur Vollzugskontrolle des von ihm beschlossenen Wahlgesetzes für die hier in Rede stehenden gesetzlichen Regelungen träfe, müßte gleichwohl im Hinblick auf den tatsächlichen Stand der administrativen Wahlvorbereitung in einem Teil der Länder auf dem Gebiet der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik davon ausgegangen werden, daß die außer Vollzug gesetzten Vorschriften ihre Funktion, Kriterium für die Ernsthaftigkeit von Wahlvorschlägen zu sein, ohnehin nur eingeschränkt erfüllen könnten. Von daher wäre in großem Umfang mit – mutmaßlich aussichtsreichen – Wahlanfechtungen zu rechnen. Unter diesen Umständen hat es besonderes Gewicht, daß durch den Erlaß der einstweiligen Anordnung eine verfassungsrechtlich unangreifbare Rechtsgrundlage für die erste gesamtdeutsche Wahl herbeigeführt wird. Dem steht nicht entgegen, daß die Legitimationswirkung der einstweiligen Anordnung nicht über den Zeitraum bis zur Entscheidung der Hauptsache hinausreicht; denn eine während der Geltung der einstweiligen Anordnung durchgeführte Wahl behält auf ihrer Grundlage – unbeschadet der Entscheidung in der Hauptsache – rechtlichen Bestand. Nichts anderes besagt das Urteil des Senats vom 12. Oktober 1989 ((BVerfGE 81, 53 [56 ff.]).
| |
4. Die im Tenor genannte Stimmenzahl entspricht annähernd der bei der Wahl zum 11. Deutschen Bundestag für die Zuteilung eines Sitzes notwendigen Zahl von Zweitstimmen. Damit werden die hierdurch begünstigten denjenigen Parteien gleichgestellt, die bei der Wahl zur Volkskammer am 18. März 1990 ein Mandat errungen haben und deshalb von der Beibringung von Unterschriften für Wahlvorschläge befreit sind. ![]() | |
Die Entscheidungsformel ist im Bundesgesetzblatt zu veröffentlichen.
| |
(gez.) Mahrenholz Böckenförde Klein Graßhof Kruis Franßen Winter
| |
Die Entscheidung der Senatsmehrheit beruht auf einer unzutreffenden Beurteilung der Voraussetzungen und der Wirkungen der einstweiligen Anordnung. Ich kann ihr darum nicht zustimmen.
| |
1. a) Wie schon der Wortlaut des § 32 Abs. 1 BVerfGG ergibt, kann das Bundesverfassungsgericht im Streitfall einen Zustand durch einstweilige Anordnung nur vorläufig regeln. Dem entspricht die ständige Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, daß eine einstweilige Anordnung die Entscheidung der Hauptsache grundsätzlich nicht vorwegnehmen darf (vgl. BVerfGE 3, 41 [43]; 12, 276 [279]; 34,160 [162]; 67,149 [151] u.ö.). Davon weicht die hier getroffene Entscheidung ab, insbesondere wenn man die Auffassung der Senatsmehrheit über die Legitimationswirkung der einstweiligen Anordnung (Abschnitt II 3 b der Beschlußgründe) zugrunde legt. Die Entscheidung läßt zwar offen, ob die Vorschriften des Bundeswahlgesetzes über das Unterschriftenquorum unter den rechtlichen und tatsächlichen Verhältnissen, die bei der Wahl des 12. Deutschen Bundestages obwalten, die Antragstellerinnen in ihrem verfassungsrechtlichen Anspruch auf Chancengleichheit bei der Wahl verletzen. Sie trifft aber bereits eine Regelung, die allenfalls die Folge einer den Anträgen in der Hauptsache stattgebenden Entscheidung sein dürfte. Sie setzt nämlich die angegriffenen Vorschriften über die bevorstehende Wahl außer Kraft und ersetzt sie durch andere, die nach Auffassung der Senatsmehrheit selbst dann ![]() ![]() | |
b) Eine Vorwegnahme der Hauptsache hat das Bundesverfassungsgericht nur ganz ausnahmsweise für zulässig erachtet, wenn unter den gegebenen Umständen eine Entscheidung in der Hauptsache zu spät gekommen wäre und dem Antragsteller in anderer Weise ausreichender Rechtsschutz nicht mehr hätte gewährt werden können (vgl. BVerfGE 34, 160 [162 f.]; 67, 149 [151]). Von diesen Voraussetzungen ist im vorliegenden Fall nur die erste erfüllt, das Vorliegen der zweiten nicht festgestellt. Regelmäßig gewährleisten die Vorschriften über die Wahlprüfung (Art. 41 GG; Wahlprüfungsgesetz; § 13 Nr. 3, § 48 BVerfGG) einen ausreichenden Rechtsschutz auch nach Durchführung einer Wahl (vgl. BVerfGE 34, 81 [94 f.]). Das verständliche Anliegen, Wahlanfechtungen wegen der besonderen staatspolitischen Bedeutung der bevorstehenden Bundestagswahl möglichst zu verhindern, kann es nicht rechtfertigen, über den in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts anerkannten Ausnahmefall – dem Fehlen anderer Rechtsschutzmöglichkeiten – hinaus entgegen § 32 Abs. 1 BVerfGG endgültige Regelungen durch einstweilige Anordnung zu treffen.
| |
Das gilt um so mehr, als die Entscheidung hier unmittelbar in ein Gesetz eingreift. Wie auch die Senatsmehrheit anerkennt, sind bei Eingriffen in den Gesetzesvollzug besonders strenge Maßstäbe an die Prüfung der Voraussetzungen des § 32 Abs. 1 BVerfGG anzulegen. Die Entscheidungen, in denen das Bundesverfassungsgericht ausnahmsweise eine Vorwegnahme der Hauptsache für zulässig erachtet hat, betrafen überwiegend Verfahren gegen einzelne Maßnahmen der vollziehenden Gewalt. Unmittelbare Eingriffe in gesetzliche Regelungen wurden regelmäßig so gestaltet, daß sie keinen endgültigen Rechtszustand schufen. So wurde in dem Senatsbeschluß vom 5. Oktober 1960 – 2 BvR 536/60 – (BVerfGE 11, 306 ff.), der einen Streit über die Verfassungsmäßigkeit des Unterschriftenquorums in einem Kommunalwahlgesetz betraf, lediglich ![]() ![]() | |
2. Soweit nach dem vorstehend Gesagten ausnahmsweise eine einstweilige Anordnung in Betracht kommt, durch die die Hauptsache vorweggenommen wird, ist für ihren Erlaß mehr zu fordern als die Feststellung, die in der Hauptsache gestellten Anträge seien nicht offensichtlich unzulässig oder unbegründet, sowie eine Folgenabwägung. Diese von der Senatsmehrheit herangezogenen Kriterien genügen nur, wenn eine vorläufige Regelung getroffen werden soll. Soll dagegen – wie hier – die Hauptsache vorweggenommen werden, so sind nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts die Erfolgsaussichten der in der Hauptsache gestellten Anträge stärker in den Blick zu nehmen; es müssen dann erheblich überwiegende Gründe für die Annahme sprechen, die angegriffene Maßnahme werde sich als verfassungswidrig erweisen (vgl. BVerfGE 46,160 [164]; 63, 254; 67,149 [152]; siehe auch BVerfGE 77, 130 [135]). Eine dahingehende Feststellung ist im vorliegenden Fall nicht getroffen worden.
| |
a) Ich teile die Ansicht der Senatsmehrheit, daß eine einstweilige Anordnung nicht im Hinblick auf die Rüge der Antragstellerinnen in Betracht kommt, die Erstreckung des Unterschriftenquorums auf das Gebiet der Länder der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik verletze in der besonderen Situation der ersten gesamtdeutschen Wahl ihre verfassungsmäßigen Rechte schon deswegen, weil es ihnen aufgrund der kurzfristig vollzogenen Ausdehnung des Wahlgebiets nicht möglich sei, in dem neuen Teil des Wahlgebiets die erforderliche Organisation aufzubauen (Abschnitt II 2 a der Beschlußgründe). Insoweit kann ich auf die Beschlußbegründung und die dazu zitierte Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts verweisen.
| |
b) Die Grundsätze, nach denen das Bundesverfassungsgericht die Zulässigkeit eines Unterschriftenquorums beurteilt hat, sprechen auch gegen die Begründetheit der von den Antragstellerinnen erhobenen Rüge, die Unterschriftenquoren nach §§ 20 Abs. 2 Satz 2, 27 Abs. 1 Satz 2 BWahlG verletzten das Recht der Antragstellerinnen auf Chancengleichheit im Blick auf die in § 18 Abs. 2 in Verbindung mit § 53 Abs. 4 BWahlG getroffene Regelung (vgl. dazu Abschnitt II 2 b der Beschlußgründe).
| |
aa) Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist ein Unterschriftenquorum grundsätzlich erlaubt, weil der Gesetzgeber die Zulassung von Parteien zur Wahl von dem Nachweis abhängig machen darf, daß eine ernstzunehmende Wahlbewerbung vorliegt, die in der Wählerschaft hinreichende Unterstützung findet. Bei Parteien, die in einem Parlament vertreten sind, liegt es nahe, bereits dadurch diesen Nachweis als erbracht anzusehen (vgl. BVerfGE 3, 19 [27]). Der Gesetzgeber kann sie daher von einem weiteren Nachweis befreien. Für Parteien, die nicht in einem Parlament vertreten sind, gilt diese Überlegung nicht. Sie befinden sich in ![]() ![]() | |
bb) Die danach grundsätzlich zulässige Differenzierung in den Zulassungsanforderungen an die im Parlament vertretenen und an die "neuen" Parteien darf allerdings ein gewisses Maß nicht überschreiten (vgl. BVerfGE 3, 19 [27]). Das zwingt indessen nicht dazu, die unterschiedlichen Zulassungsvoraussetzungen einem rein quantitativen Vergleich nach Stimmen- oder Unterschriftenzahlen zu unterziehen, der die qualitativen Unterschiede der Vergleichsgrößen außer Betracht läßt. Absolute Stimmenzahlen sind kein geeigneter Vergleichsmaßstab, wenn sie bei verschiedenen Wahlen in unterschiedlichen Wahlgebieten erzielt wurden; sie haben ein ganz unterschiedliches Gewicht je nach dem Verhältnis, in dem sie zur Gesamtzahl der Wahlberechtigten sowie zur Zahl der insgesamt abgegebenen gültigen Stimmen stehen. Darüber hinaus wirken Stimmen, die zum Erwerb eines Parlamentsmandats geführt haben, während der Dauer der Wahlperiode weiter; die politischen Rückwirkungen der parlamentarischen Tätigkeit einer Partei stabilisieren regelmäßig deren Wählerstamm. Stimmen, die für eine nicht in ein Parlament gelangte und somit bei Wahlen erfolglose Partei abgegeben wurden, haben diese Wirkungen nicht und sind deshalb weniger geeignet, als Nachweis der Ernsthaftigkeit einer neuen Kandidatur zu dienen. Es ist grundsätzlich Sache des Gesetzgebers zu entscheiden, welches Gewicht diesen qualitativen Unterschieden für die Regelung der Wahlzulassung zukommen soll. Das Bundesverfassungsgericht kann hier nur eingreifen, wenn die Zulässigkeitshürden für die nicht in einem Parlament vertretenen Parteien unzumutbar hoch sind.
| |
Das trifft auf die Unterschriftenquoren, die das Bundeswahlgesetz für Wahlvorschläge von "neuen" Parteien vorsieht, nicht zu. Wer als Wahlkreisbewerber einer Partei in einem Wahlkreis mit weit über einhunderttausend Wahlberechtigten nicht einmal 200 Anhänger nachweisen kann, die bereit sind, seine Kandidatur mit ![]() ![]() | |
Stellt das gesetzliche Unterschriftenerfordernis somit in einem Wahlkreis oder in einem Bundesland kein unzumutbares Zulassungshindernis dar, welches das Prinzip der gleichen Wahlchancen verletzt, dann kann es auch nicht dadurch grundgesetzwidrig werden, daß sich für eine Partei, die in mehreren oder gar allen Wahlkreisen oder Bundesländern Wahlvorschläge aufstellt, die Gesamtzahl der notwendigen Unterschriften entsprechend vervielfacht (vgl. BVerfGE 3, 383 [397]). Das Wahlsystem des Bundeswahlgesetzes ist durch eine Regionalisierung des Wahlvorgangs gekennzeichnet. Die Hälfte der Abgeordneten des Deutschen Bundestages wird nach den Grundsätzen der Persönlichkeitswahl in Wahlkreisen gewählt, die andere Hälfte aufgrund von Landeslisten der Parteien in den Bundesländern. Dem entspricht es, daß der Nachweis der Ernsthaftigkeit einer Kandidatur auf die jeweilige Wahlregion bezogen ist. Das Mitwirkungsrecht der Parteien an der politischen Willensbildung des Volkes (Art. 21 GG) setzt insoweit voraus, daß die Parteien in der jeweils in Betracht kommenden Wahlregion bereits als gesellschaftliche Gruppe existieren und sich hier nicht erst mit Hilfe des Wahlkampfes als ernsthafte politische Gruppe durchsetzen wollen (vgl. BVerfGE 3, 383 [393]).
| |
cc) Die Senatsmehrheit zieht eine Verfassungswidrigkeit der Unterschriftenquoren des Bundeswahlgesetzes in Betracht, weil für die Wahl zum 12. Deutschen Bundestag auch alle Parteien in der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik vom Unterschriftenquorum befreit sind, die bei den Volkskammerwahlen vom 18. März 1990 ein Mandat gewonnen haben. Dabei wird darauf abgestellt, daß die Volkskammerwahlen ohne Sperrklausel und ohne Unterschriftenquoren für Wahlvorschläge durchgeführt wurden, während die Parteien in der Bundesrepublik Deutschland die 5 v.H.-Sperrklausel überwinden mußten, um zu einem Bundestags- ![]() ![]() | |
Sieht man nur auf die unterschiedlichen Wahlgesetze, so erscheint freilich die Auffassung plausibel, den Parteien, die in der Volkskammer vertreten waren, werde im Vergleich zu den Parteien, die sich in der Bundesrepublik vergeblich um ein Bundestags- oder Landtagsmandat beworben haben, die Befreiung von den Unterschriftenquoren des Bundeswahlgesetzes unverhältnismäßig erleichtert. In eine vergleichende Bewertung der Zulassungsvoraussetzungen muß aber auch einbezogen werden, unter welchen politischen Rahmenbedingungen die Volkskammermandate errungen wurden. Die Volkskammerwahlen vom 18. März 1990 waren seit Jahrzehnten die ersten freien Wahlen in der früheren Deutschen Demokratischen Republik. Die dabei kandidierenden Parteien und politischen Vereinigungen hatten sich zum überwiegenden Teil erst wenige Monate vorher bilden können. Ihnen fehlten aufgrund langjähriger Unterdrückung freier Parteien nahezu alle Voraussetzungen zum kurzfristigen Aufbau einer gefestigten Organisation. Während der Wahlvorbereitungszeit, in der die alten Herrschaftsstrukturen im Bereich von Regierung und Verwaltung noch weiterwirkten, mußten in einer Bevölkerung, die freier politischer Betätigung entwöhnt war, Wähler gewonnen werden. Dabei hatten neu gegründete Parteien und politische Vereinigungen im Vergleich zu früheren Blockparteien auch erhebliche materielle Startnachteile zu überwinden.
| |
Berücksichtigt man dies, so durfte der Gesetzgeber im Rahmen des ihm verfassungsrechtlich zukommenden Gestaltungsermessens davon ausgehen, daß die höheren wahlrechtlichen Hürden, die Parteien auf dem früheren Gebiet der Bundesrepublik Deutschland zum Gewinn eines Parlamentsmandats zu überwinden hatten, aufgewogen werden durch die schwierigen politischen Rahmenbedingungen, die die Parteien in der früheren Deutschen Demokratischen Republik für den Gewinn eines Volkskammermandats bewäl ![]() ![]() | |
c) Die Senatsmehrheit hält es ferner für möglich, daß der Deutsche Bundestag durch Unterlassen gesetzgeberischer Maßnahmen das Recht der Antragstellerinnen auf Chancengleichheit bei der Wahlzulassung verletzt hat (Abschnitt II 2 c der Beschlußgründe). Die dazu angeführten Gründe überzeugen ebenfalls nicht.
| |
aa) Nach den Feststellungen des Senats haben sich in den fünf neuen Bundesländern die Auslieferung der amtlichen Vordrucke für die Unterschriften zur Unterstützung von Wahlvorschlägen sowie die Bestellung von Kreiswahlleitern und deren öffentliche Bekanntmachung bis in den Oktober 1990 hinein verzögert. Ob und gegebenenfalls in welchem Umfange es den Antragstellerinen infolge dieser Versäumnisse der Wahlbehörden unmöglich gemacht worden ist, die vom Bundeswahlgesetz geforderten Unterschriftenquoren für Wahlvorschläge in den fünf neuen Bundesländern zu erfüllen, ist indessen nicht hinreichend aufgeklärt worden. Nach den bisherigen Feststellungen standen zur Sammlung von Unterschriften für Landeslisten rund drei Wochen zur Verfügung. Dieser Zeitraum war zu knapp bemessen; den Nachweis, daß er nicht ausgereicht hätte, hat die Senatsmehrheit indessen den Antragstellerinnen durch Erlaß der einstweiligen Anordnung erspart. Da das Unterschriftenquorum nur dem Nachweis einer bereits vorhandenen Anhängerschaft der kandidierenden Partei dienen soll, nicht aber deren Werbung, kommt es nur auf die Zeit an, die zur technischen Abwicklung der Unterschriftensammlung benötigt worden wäre. Daß die verfügbare Zeit dafür nicht ausgereicht hätte, drängt sich jedenfalls nicht auf. Das gilt vor allem im Blick darauf, daß die Parteien spätestens seit Abschluß des Wahlvertrags mit der Deutschen Demokratischen Republik im ![]() ![]() | |
Nicht aufgeklärt ist auch, wann und für welche Gebiete die Antragstellerinnen Wahlvorschläge in den fünf neuen Bundesländern aufgestellt hatten. Da sie mit der Sammlung von Unterschriften für die verschiedenen Wahlvorschläge jeweils erst nach deren Aufstellung beginnen konnten (vgl. § 34 Abs. 4 Nrn. 1 und 5, § 39 Abs. 3 BWahlO), hängt von entsprechenden Feststellungen die Beurteilung der Frage ab, inwieweit die Antragstellerinnen durch Versäumnisse der Wahlbehörden in ihren Wahlvorbereitungen beeinträchtigt sein können. Das gilt vor allem im Blick auf die verspätete Bestellung von Kreiswahlleitern. Die ÖDP hat das Unterschriftenquorum für Kreiswahlvorschläge nicht angegriffen; das läßt darauf schließen, daß sie in den fünf neuen Bundesländern keine Kreiswahlvorschläge aufgestellt hatte. Der Vortrag der NPD läßt ebenfalls keine konkreten Beeinträchtigungen in bezug auf beschlossene Kreiswahlvorschläge erkennen.
| |
Die Entscheidung der Senatsmehrheit beruht daher in diesem Punkt auf einer nach meiner Ansicht ungenügenden Tatsachengrundlage. Sie begnügt sich im Ergebnis mit einer nur vermuteten Rechtsbeeinträchtigung.
| |
bb) Grundsätzliche Bedenken begegnet die Auffassung, die festgestellten Versäumnisse von Wahlbehörden könnten dem Deutschen Bundestag als Wahlgesetzgeber zugerechnet werden. Es handelt sich um bloße Mängel im Gesetzesvollzug, die nach den §§ 13 Nr. 5, 63, 64 BVerfGG nicht im Organstreit geltend gemacht werden können, sondern nur durch Wahlanfechtung.
| |
Die Senatsmehrheit gelangt zur Zulässigkeit des Organstreits aufgrund der Annahme, der Deutsche Bundestag könne aufgrund der besonderen Verhältnisse, die bei der bevorstehenden Bundestagswahl obwalten, verfassungsrechtlich verpflichtet sein, die Wahlvorbereitung in den Ländern der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik fortlaufend zu überwachen und auf dabei hervortretende Mängel, soweit erforderlich, mit gesetzgeberischen Maßnahmen zu reagieren. Damit würden indessen die verfassungs ![]() ![]() | |
Das Bundesverfassungsgericht hat eine Pflicht des Gesetzgebers, die Wirkungen einer gesetzlichen Regelung zu überprüfen und das Gesetz erforderlichenfalls zu ändern, dann bejaht, wenn der Inhalt des Gesetzes selbst infolge einer bei seinem Erlaß nicht zuverlässig vorauszusehenden Entwicklung der tatsächlichen Verhältnisse verfassungswidrig werden konnte. Dabei handelt es sich um eine Auswirkung der Grundrechtsbindung (Art. 1 Abs.3 GG; vgl. z.B. BVerfGE 25, 1 [12 f.]; 49, 89 [130 ff.]; 50, 290 [335, 352]; 56, 54 [78 f.]) oder einer anderen verfassungsrechtlichen Bindung des Gesetzgebers, etwa an den Grundsatz der Wahlrechtsgleichheit bei der Wahlkreiseinteilung (vgl. BVerfGE 16, 130 [141 ff.]), an das Prinzip der Chancengleichheit der Parteien bei der Ordnung der Parteienfinanzierung (vgl. BVerfGE 73, 40 [94]) oder an die Finanzverfassung des Grundgesetzes (vgl. Senatsbeschluß vom 31. Mai 1990 – 2 BvL 12/88, 2 BvL 13/88, 2 BvR 1436/87 –, EuGRZ 1990, S. 377 [383]).
| |
Darum geht es indessen im vorliegenden Falle nicht. Die rechtzeitige Beschaffung von amtlichen Vordrucken, die für die Wahlvorbereitung erforderlich sind, sowie die rechtzeitige Bestellung der Kreiswahlleiter und die Bekanntgabe ihrer Anschriften sind eindeutig Aufgaben des Gesetzesvollzuges. Fehlleistungen der dafür zuständigen Behörden können nicht zur Verfassungswidrigkeit des Wahlgesetzes führen. Auch unter den besonderen Voraussetzungen der ersten gesamtdeutschen Wahl durfte der Deutsche Bundestag davon ausgehen, daß die im Gesetz mit der Wahlvorbereitung und -durchführung betrauten Behörden zur Lösung der genannten Aufgaben in der Lage sein würden. Ein Anlaß, geschweige denn eine verfassungsrechtliche Pflicht, die Behörden beim Vollzug derart elementarer Verwaltungsvorgänge einer laufenden parlamentarischen Kontrolle zu unterwerfen, bestand nicht. Dabei kommt es nicht darauf an, ob der Deutsche Bundestag das Recht zu einer ![]() ![]() | |
4. Auch die Folgenabwägung der Senatsmehrheit beruht auf einer unzutreffenden Anschauung von den Folgen und Wirkungen der vorliegenden einstweiligen Anordnung. Die Nachteile, die bei einem Ergehen der einstweiligen Anordnung entstehen, falls die Entscheidung in der Hauptsache die Verfassungsmäßigkeit der angegriffenen Unterschriftenquoren ergibt, werden zu gering eingeschätzt.
| |
An der Wahl beteiligen sich dann Parteien mit Wahlvorschlägen, die nach dem Gesetz nicht zugelassen werden dürften. Entfallen Stimmen auf diese Wahlvorschläge, so wird dadurch das Wahlergebnis insgesamt verändert. Selbst wenn diese Parteien kein Mandat erringen, kann das Auswirkungen auf die Zusammensetzung des Deutschen Bundestages in allen den Fällen haben, in denen die für diese Wahlvorschläge abgegebenen Stimmen einer anderen Partei zur Erlangung eines Mandats fehlen. Das kann der Fall sein, wenn diese Stimmen ihrer Zahl nach ausreichen würden, einem anderen Wahlkreiskandidaten die Mehrheit zu verschaffen; ebenso kann es liegen, wenn diese Stimmen einer anderen Partei zur Überwindung der 5 v.H.-Sperrklausel oder zum Gewinn eines weiteren Sitzes verhelfen könnten. Davon kann unter Umständen selbst die Entscheidung über die parlamentarische Mehrheit abhängen. Grün ![]() ![]() | |
Die Senatsmehrheit entgeht diesen Konsequenzen aufgrund ihrer Auffassung, eine während der Geltung der einstweiligen Anordnung durchgeführte Wahl behalte auf ihrer Grundlage – unbeschadet der Entscheidung in der Hauptsache – rechtlichen Bestand. Damit wird einer einstweiligen Anordnung die Kraft beigelegt, ein formell und materiell verfassungsmäßiges Gesetz – sei es auch nur für einen begrenzten Zeitraum – endgültig außer Kraft zu setzen und durch eine verfassungsgerichtliche Regelung zu ersetzen. Eine solche dauernde Legitimationswirkung kann jedoch einer einstweiligen Anordnung nach meiner Ansicht nicht zukommen.
| |
Nach dem Grundsatz der Gewaltenteilung darf das Bundesverfassungsgericht in die Gesetzgebung nur insoweit eingreifen, als dies zur Erfüllung der ihm durch das Grundgesetz zugewiesenen Aufgaben gerechtfertigt ist. Zu diesen Aufgaben gehört es nicht, verfassungsmäßige Gesetze endgültig außer Kraft zu setzen. Ist die Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes umstritten und eine Entscheidung darüber nicht sofort möglich, so kann es freilich geboten sein, den Vollzug der Endentscheidung durch eine vorläufige Maßregel zu sichern. Dementsprechend ermächtigt § 32 BVerfGG das Bundesverfassungsgericht zu vorläufigen Regelungen auch in bezug auf Gesetze. Diese einstweiligen Anordnungen müssen jedoch so beschaffen sein, daß sich das in der Endentscheidung für verfassungsgemäß erkannte Gesetz letztlich durchzusetzen vermag. Auch wenn sich möglicherweise nicht mehr alle Wirkungen nachträglich beseitigen lassen, die von einer einstweiligen Anordnung ausgehen, so darf es doch nicht erklärtes Ziel der Anordnung sein, auch solche dem Gesetz widersprechende Rechtswirkungen fortdauern zu lassen, die nachträglich beseitigt werden könnten. Zur Sicherung der Rechtsprechungsaufgabe des Bundes ![]() ![]() | |
Deshalb kann die vorliegende einstweilige Anordnung von Rechts wegen nicht die Wirkung äußern, eine Wahlanfechtung auch für den Fall auszuschließen, daß sich die angegriffenen Vorschriften des Bundeswahlgesetzes als verfassungsmäßig erweisen und die Zusammensetzung des 12. Deutschen Bundestages durch das abweichend vom Gesetz durchgeführte Wahlverfahren beeinflußt sein kann.
| |