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Bearbeitung, zuletzt am 15.03.2020, durch: A. Tschentscher | |||
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Beschluß |
des Zweiten Senats vom 16. Januar 1996 |
-- 2 BvL 4/95 -- |
in dem Verfahren zur verfassungsrechtlichen Prüfung, ob § 29 Absatz 2 Satz 1 in Verbindung mit § 18 Absatz 1 Nummer 1 der Gemeindeordnung für Baden-Württemberg insoweit mit Artikel 28 Absatz 1 Satz 2 des Grundgesetzes vereinbar ist, als danach in Gemeinden mit nicht mehr als 20.000 Einwohnern frühere Ehegatten nicht gleichzeitig Gemeinderäte sein können - Aussetzungs- und Vorlagebeschluß des Verwaltungsgerichts Karlsruhe vom 25.04.1995 (1 K 3231/94) - |
Entscheidungsformel: |
§ 29 Absatz 2 Satz 1 in Verbindung mit § 18 Absatz 1 Nummer 1 der Gemeindeordnung des Landes Baden-Württemberg (Gesetzbl. 1983 S. 578) ist insoweit mit Artikel 28 Absatz 1 Satz 2 des Grundgesetzes unvereinbar und nichtig, als danach in Gemeinden mit nicht mehr als 20.000 Einwohnern frühere Ehegatten nicht gleichzeitig Gemeinderäte sein können. |
Gründe: | |
A. -- I. | |
§ 29 Abs. 2 der Gemeindeordnung für Baden-Württemberg (GemO BW) in der Fassung der Bekanntmachung vom 3. Oktober 1983 (GBl. S. 578), zuletzt geändert durch Art. 1 des Gesetzes zur Änderung des Kommunalwahlrechts und des Kommunalrechts vom 8. November 1993 (GBl. S. 657), lautet:
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"Personen, die als persönlich haftende Gesellschafter an derselben Handelsgesellschaft beteiligt sind, und in Gemeinden mit nicht mehr als 20.000 Einwohnern auch Personen, die zueinander in einem die Befangenheit begründenden Verhältnis nach § 18 Abs. 1 Nr. 1 bis 3 stehen, können nicht gleichzeitig Gemeinderäte sein. Werden solche Personen ![]() ![]() | 2 |
In § 18 Abs. 1 Nr. 1 bis 3 GemO BW ist bestimmt:
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"Der ehrenamtlich tätige Bürger darf weder beratend noch entscheidend mitwirken, wenn die Entscheidung einer Angelegenheit ihm selbst oder folgenden Personen einen unmittelbaren Vorteil oder Nachteil bringen kann:
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1. dem Ehegatten, früheren Ehegatten oder dem Verlobten,
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2. einem in gerader Linie oder in der Seitenlinie bis zum dritten Grade Verwandten,
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3. einem in gerader Linie oder in der Seitenlinie bis zum zweiten Grade Verschwägerten."
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Das hiernach bestehende Verbot gleichzeitiger Ratsmitgliedschaft geschiedener Ehegatten findet in den Kommunalverfassungen der übrigen Bundesländer keine Entsprechung. Das bayerische Kommunalrecht schließt - in Gemeinden bis zu 10.000 Einwohnern - die gemeinsame Zugehörigkeit von Ehegatten zum Gemeinderat lediglich während bestehender Ehe aus. Die Gemeindeordnungen der übrigen Länder begnügen sich damit, ein Ratsmitglied im Einzelfall von der Mitwirkung in Angelegenheiten auszuschließen, die für seinen Ehegatten von unmittelbarem Vor- oder Nachteil sind; in Hessen, Mecklenburg-Vorpommern, Rheinland-Pfalz, dem Saarland, Sachsen und Schleswig-Holstein trifft dieses konkrete Mitwirkungsverbot auch den früheren Ehegatten.
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II. | |
Bei den am 12. Juni 1994 in Baden-Württemberg durchgeführten Kommunalwahlen wurden in der im Ausgangsverfahren beklagten Gemeinde Ketsch (12.451 Einwohner) die Klägerin des Ausgangsverfahrens als Bewerberin der Grün-Bunten Liste mit 1.380 Stimmen und deren geschiedener Ehemann als Bewerber der SPD mit 2.278 Stimmen in den Gemeinderat gewählt. Mit Beschluß vom 22. August 1994 stellte der Rat fest, daß bei der Klägerin wegen ihrer früheren Ehe ein Hinderungsgrund bestehe und darum an ihrer Stelle ein Ersatzmann in den Rat eintrete.
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Nach erfolglosem Widerspruchsverfahren erhob die Klägerin ![]() ![]() | 10 |
III. | |
Durch Beschluß vom 25. April 1995 hat das Verwaltungsgericht Karlsruhe das Verfahren ausgesetzt und dem Bundesverfassungsgericht die Frage vorgelegt, ob § 29 Abs. 2 Satz 1 in Verbindung mit § 18 Abs. 1 Nr. 1 GemO BW insoweit mit Art. 28 Abs. 1 Satz 2 GG vereinbar sei, als das Gesetz dazu führe, daß in Gemeinden mit nicht mehr als 20.000 Einwohnern frühere Ehegatten nicht gleichzeitig Gemeinderäte sein könnten.
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Die Vorlagefrage sei entscheidungserheblich. Der Klägerin, die weniger Stimmen erreicht habe als ihr geschiedener Ehemann sei es nach § 29 Abs. 2 Satz 1 GemO BW verwehrt, in den Gemeinderat einzutreten. Bei Verfassungsmäßigkeit des § 29 Abs. 2 Satz 1 i.V.m. § 18 Abs. 1 Nr. 1 GemO BW seien daher die angefochtenen Bescheide rechtmäßig, und die Klage sei abzuweisen. Sei dagegen die zur Prüfung gestellte Regelung mit Art. 28 Abs. 1 Satz 2 GG unvereinbar und nichtig, so fehle den Bescheiden die Rechtsgrundlage, und die Klage müsse Erfolg haben.
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§ 29 Abs. 2 Satz 1 i.V.m. § 18 Abs. 1 Nr. 1 GemO BW sei in dem in der Beschlußformel bezeichneten Umfang verfassungswidrig. Der formale Charakter der durch Art. 28 Abs. 1 Satz 2 GG gewährleisteten Wahlgleichheit lasse dem Gesetzgeber bei der Ordnung des Wahlrechts nur einen geringen Spielraum für Differenzierungen; solche bedürften stets besonderer, rechtfertigender und zwingender Gründe. Solche Gründe seien nicht gegeben. Die Gefahr einer "Vettern- und Cliquenwirtschaft", der § 29 Abs. 2 Satz 1 GemO BW begegnen solle, sei bei aufgelösten Ehen ungleich geringer als bei bestehenden. Jedenfalls in Gemeinden, deren Einwohnerzahl knapp unter 20.000 liege und deren Gemeinderat immerhin 22 Mitglieder ![]() ![]() | 13 |
Zu der Vorlage hat die Landesregierung von Baden-Württemberg Stellung genommen. Sie hält die zur Prüfung gestellte Regelung für verfassungsmäßig. Die Beteiligten des Ausgangsverfahrens haben sich nicht geäußert.
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B. -- I. | |
Die Vorlage ist zulässig. Das Verwaltungsgericht hat in einer den Anforderungen des Art. 100 Abs. 1 GG und des § 80 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG genügenden Weise dargetan, daß es für seine Entscheidung auf die Wirksamkeit von § 29 Abs. 2 Satz 1 i.V.m. § 18 Abs. 1 Nr. 1 GemO BW ankommt. Es hat auch seine Überzeugung von der Verfassungswidrigkeit dieser Regelung hinreichend dargelegt und begründet.
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II. | |
§ 29 Abs. 2 Satz 1 GemO BW in Verbindung mit 18 Abs. 1 Nr. 1 GemO BW ist mit Art. 28 Abs. 1 Satz 2 GG unvereinbar und nichtig, soweit danach in Gemeinden mit nicht mehr als 20.000 Einwohnern frühere Ehegatten nicht gleichzeitig Gemeinderäte sein können.
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1. Der Grundsatz der gleichen Wahl ist in den Gemeinden durch Art. 28 Abs. 1 Satz 2 GG gewährleistet. Er gilt gleichermaßen für das aktive und das passive Wahlrecht (vgl. BVerfGE 11, 266 [272]; 48, 64 [81]; 57, 43 [56]). Er besagt, daß jedermann sein Wahlrecht in formal möglichst gleicher Weise ausüben können soll (vgl. BVerfGE 11, 266 [272]; 41, 399 [413]; 69, 92 [105 f.]; 71, 81 [94]; 82, 322 [337]; 85, 148 [157]; zuletzt 89, 266 [270]). Zwar sind Differenzierungen, bei denen insbesondere die in der jeweiligen Rechtsgemein ![]() ![]() | 17 |
Der Grundsatz, daß jedermann von seinen staatsbürgerlichen Rechten in formal möglichst gleicher Weise soll Gebrauch machen können, gilt nicht nur für die Ausübung des aktiven und passiven Wahlrechts im engeren Sinn, sondern in gleichem Maße für die Annahme und die Ausübung eines errungenen Mandats (vgl. BVerfGE 38, 326 [338]; 40, 296 [317]; 48, 64 [88]; 57, 43 [67]; BayVerfGHE n.F. 29, 143 [147]). Er schließt es - auch auf kommunaler Ebene (Art. 28 Abs. 1 Satz 2 GG) - aus, einem gewählten Bewerber die Annahme und die Ausübung des errungenen Mandats zu verwehren, sofern hierfür kein zwingender Grund vorliegt.
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2. Für die Benachteiligung geschiedener Ehegatten gemäß § 29 Abs. 2 Satz 1 in Verbindung mit § 18 Abs. 1 Nr. 1 GemO BW besteht kein zwingender Grund.
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a) Mit der Untersagung einer gleichzeitigen Ratsmitgliedschaft von Personen, die durch Ehe oder Verwandtschaft verbunden sind, soll nach allgemeiner Auffassung der Gefahr einer unlauteren Protektionswirtschaft als Folge übermäßigen Einflusses einzelner Familien ("Vettern- und Cliquenwirtschaft") entgegengewirkt und so von vornherein Mißtrauen der Einwohner gegenüber der Arbeit des Gemeinderats verhütet werden (vgl. StGH Baden-Württemberg, ESVGH 31, 167 [168 f.]; Urteil des VG Karlsruhe vom 15. Januar 1982, - 5 K 248/80 -, S. 8; Kunze/Bronner/Katz/von Rotberg, Gemeindeordnung für Baden-Württemberg, 4. Aufl. [Loseblatt], § 29 Rn. 8; ebenso für die insoweit vergleichbare Bestimmung des Art. 31 Abs. 3 BayGemO: BayVerfGHE n.F. 14, 77 [83 f.]; 29, 143 [148]; 36, 83 [90]; Hölzl/Hien, Gemeindeordnung mit Verwaltungsgemeinschaftsordnung, Landkreisordnung und Bezirksordnung für den Freistaat Bayern, 1994, § 31, Anm. 6; Widtmann/Grasser, Baye ![]() ![]() | 20 |
b) Ob das Anliegen, diesen Gefahren in Gemeinden mit weniger als 20.000 Einwohnern durch einen generellen Ausschlußtatbestand vorzubeugen, einen zwingenden Grund für ein Verbot gemeinsamer Ratszugehörigkeit verheirateter, verlobter oder eng verwandter Personen darstellt, bedarf hier nicht der Entscheidung. Jedenfalls bei geschiedenen Eheleuten sind diese Gefahren, die insoweit auch im Gesetzgebungsverfahren nicht besonders erörtert wurden (vgl. LTDrucks. Beilage 1060 vom 4. Dezember 1954, S. 1376, sowie die Verhandlungen des Landtags von Baden-Württemberg 1/3203 ff. [3212 f.]), so gering, daß sie - auch bei Berücksichtigung eines gewissen Einschätzungsspielraums, den die Grundsätze der formalen Wahlrechtsgleichheit einem Gesetzgeber belassen - sich nicht als zwingender Grund für ein generelles Verbot gleichzeitiger Ratsmitgliedschaft darstellen können.
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aa) Nach einer Scheidung verfolgen Ehegatten erfahrungsgemäß nicht mehr in nennenswertem Umfang gemeinsame persönliche Interessen, da die eheliche Lebensgemeinschaft, die Anlaß zu vereintem Handeln im Gemeinderat bieten kann, beendet ist. Jedenfalls ist die Gefahr einer sachfremden gemeinschaftlichen Förderung von Eigen- oder Drittinteressen hier weit geringer einzuschätzen als bei Gemeinderatsmitgliedern, zwischen denen enge persönliche oder berufliche Beziehungen bestehen. Solche Interessengemeinschaften werden darum den Gemeindebürgern eher Anlaß zu Mißtrauen ![]() ![]() | 22 |
bb) Auch die Gefahr, daß ein Ratsmitglied um seiner persönlichen Bindungen willen im Gemeinderat gegen seine politische Überzeugung stimmen könnte, ist bei geschiedenen Ehegatten als gering zu veranschlagen. Typischerweise kommt es zur Scheidung einer Ehe gerade darum, weil derartige persönliche Bindungen nicht mehr bestehen. Sollten im Einzelfall "menschliche Beziehungen mit negativen Vorzeichen" fortbestehen (vgl. Masson/Samper, a.a.O., § 31, Rn. 7), so ist gleichwohl die Vorstellung eher fernliegend, ein geschiedener Ehegatte werde entgegen seiner Überzeugung Entschließungen, die der andere Ehegatte befürwortet, aus Abneigung diesem gegenüber im Rat ablehnen. Eine solche Ausnahmelage, in der das Gemeinderatsmitglied in besonderer Weise seine ihm gemäß § 32 Abs. 3 GemO BW auferlegte Bindung an das öffentliche Wohl verletzen würde, kann nicht Anlaß sein, einen zwingenden Grund zur Durchbrechung der Wahlrechtsgleichheit anzunehmen.
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cc) Eine überkommene, im Bewußtsein der Bevölkerung lebendige Rechtsanschauung, die geeignet sein könnte, eine abweichende Beurteilung zu rechtfertigen, besteht hinsichtlich geschiedener Eheleute auch in Baden-Württemberg nicht. Eine derartige Tradition ist nur für das Verbot gleichzeitiger Ratsmitgliedschaft eng verwandter Personen und wohl auch der Ehegatten während bestehender Ehe festzustellen.
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Bereits § 6 Abs. 3 und 4 des Württembergischen Verwaltungsedikts für die Gemeinden, Oberämter und Stiftungen vom 1. März 1822 sowie § 13 Nr. 4 Satz 1 und 2 des (badischen) Gesetzes über die Verfassung und Verwaltung der Gemeinden vom 31. Dezember 1831 hatten die gleichzeitige Mitgliedschaft naher Verwandter im Gemeinderat untersagt (vgl. Engeli/Haus, Quellen zum modernen Gemeindeverfassungsrecht in Deutschland, 1975, S. 164 [165]; S. 208 [210]); § 20 Abs. 2 der Badischen Gemeindeordnung vom 5. Oktober 1921 (GVBl. S. 183 ff.), Art. 59 Abs. 1 der Gemeindeordnung vom 19. März 1930 (Regierungs ![]() ![]() | 25 |
Für geschiedene Ehegatten ist eine vergleichbare Rechtstradition auch in Baden-Württemberg nicht erkennbar. Vor der Gemeindeordnung vom 25. Juli 1955 hat im badischen und württembergischen Kommunalrecht ein Verbot gleichzeitiger Ratsmitgliedschaft geschiedener Ehegatten nie bestanden. Noch bei der Schaffung des "Gesetzes zur vorläufigen Angleichung des Kommunalrechts" im Jahr 1953 hatte die Verfassunggebende Landesversammlung einer derartigen, im Gesetzesentwurf vorgesehenen Erstreckung des Verbots (s. die Beilage Nr. 852 vom 13. Juni 1953 zu den Sitzungsprotokollen der Verfassunggebenden Landesversammlung) wegen verfassungsrechtlicher Bedenken mit Blick auf Art. 3 Abs. 1 GG ausdrücklich eine Absage erteilt (vgl. Bd. III der Protokolle der Verhandlungen der Verfassunggebenden Landesversammlung von Baden-Württemberg, 47. Sitzung vom 7. Juli 1953, S. 2152 f.).
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Schließlich hat sich der Gesetzgeber auch bei der Einbeziehung der geschiedenen Ehegatten in das Verbot im Jahr 1955 nicht etwa von in der Öffentlichkeit erhobenen rechtspolitischen Forderungen, sondern allein von rechtssystematischen Erwägungen leiten lassen.
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Da schon nach damals geltendem Recht (Art. 10 Abs. 1 Nr. 3 des Gesetzes zur vorläufigen Angleichung des Kommunalrechts) Verschwägerte kraft entsprechender Anwendung des § 1590 Abs. 2 BGB ungeachtet der Auflösung der die Schwägerschaft vermittelnden Ehe weiterhin als befangen im Sinn von § 18 Abs. 1 GemO BW galten, erschien es dem Gesetzgeber aus Gründen der Folgerichtigkeit geboten, daß für geschiedene Ehegatten als die "unmittelbar Beteiligten" nichts anderes gelten konnte (vgl. dazu LTDrucks. Baden-Württemberg, Beilage 1060 vom 4. De ![]() ![]() | 28 |
Limbach, Böckenförde, Klein, Graßhof, Kruis, Kirchhof, Winter, Sommer![]() | |
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