1. Der Grundsatz der gleichen Wahl ist ein Anwendungsfall des allgemeinen Gleichheitssatzes, der als Grundrecht des einzelnen in Art. 3 Abs. 1 GG garantiert ist, aber darüber hinaus als selbstverständlicher ungeschriebener Verfassungsgrundsatz in allen Bereichen und für alle Personengemeinschaften gilt.
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2. Ob und in welchem Ausmaß der Gleichheitssatz bei der Ordnung bestimmter Materien dem Gesetzgeber Differenzierungen erlaubt, richtet sich nach der Natur des jeweils in Frage stehenden Sachbereichs.
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3. Die Bevorzugung der Parteien mit drei Direktmandaten beim Verhältnisausgleich ist aus den Grundlagen des Wahlsystems des Bundeswahlgesetzes - der mit der Personenwahl verbundenen Verhältniswahl - heraus zu rechtfertigen und verstößt darum nicht gegen den Grundsatz der gleichen Wahl.
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4. Dadurch, daß der Bundesgesetzgeber diesen Sonderstatus nur den "Schwerpunktparteien", die drei Direktmandate gewonnen haben, und den Parteien nationaler Minderheiten gewährt hat, nicht aber "Landesparteien", hat er nicht den Gleichheitssatz verletzt. Der Bundesgesetzgeber ist nicht verpflichtet, bei der Gestaltung des Wahlrechts zum Bundestag föderative Gesichtspunkte zu berücksichtigen.
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Urteil | |
des Zweiten Senats vom 23. Januar 1957
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-- 2 BvE 2/56 -- | |
in dem Verfassungsrechtsstreit betreffend die Gültigkeit des § 6 Abs. 4 Bundeswahlgesetzes vom 7. Mai 1956 (BGBl. I S. 383), Antragsteller: Bayernpartei München, Antragsgegner: Der Deutsche Bundestag.
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Entscheidungsformel:
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Der Antrag wird abgewiesen.
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Der Bundestag hat durch Erlaß des § 6 Abs. 4 des Bundeswahlgesetzes vom 7. Mai 1956 (BGBl. I S. 383) nicht gegen die Artikel 3, 21 und 38 des Grundgesetzes verstoßen.
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Gründe: | |
A. -- I. | |
Nach § 10 Abs. 4 und 5 des Wahlgesetzes zum ersten Bundestag in der Fassung vom 5. August 1949 (BGBI. S. 25) nahmen an dem Verhältnisausgleich auf Landesebene nur die Parteien teil, für die in mindestens einem Wahlkreis des betreffenden Landes ein Abgeordneter gewählt worden war oder die zumindest 5 v.H. der im Lande abgegebenen gültigen Stimmen erzielt hatten.
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Das Wahlgesetz zum zweiten Bundestag vom 8. Juli 1953 (BGBI. I S. 470) machte die Zulassung zum Verhältnisausgleich von einem auf das gesamte Bundesgebiet bezogenen Quorum abhängig und bestimmte im § 9 Abs. 4 im einzelnen:
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"Bei Verteilung der Sitze auf die Landeslisten werden nur Parteien berücksichtigt, die mindestens 5 v.H. der im Bundesgebiet abgegebenen gültigen Zweitstimmen erhalten oder in mindestens einem Wahlkreis einen Sitz errungen haben."
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Diese Vorschrift fand auf die von nationalen Minderheiten eingereichten Listen keine Anwendung (§ 9 Abs. 5).
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"Bei der Verteilung der Sitze auf die Landeslisten werden nur Parteien berücksichtigt, die mindestens 5 vom Hundert der im Wahlgebiet abgegebenen gültigen Zweitstimmen erhalten oder in mindestens drei Wahlkreisen einen Sitz errungen haben. Satz 1 findet auf die von nationalen Minderheiten eingereichten Listen keine Anwendung."
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Der § 6 Abs. 4 des Bundeswahlgesetzes unterscheidet sich mithin vom § 9 Abs. 4 des Wahlgesetzes zum zweiten Bundestag vom 8. Juli 1953 lediglich dadurch, daß nunmehr nicht mehr ein, sondern drei Direktmandate erforderlich sind, um die 5 v.H. Klausel zu überspringen.
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Das Bundeswahlgesetz ist am 7. Mai 1956 ausgefertigt und am 9. Mai 1956 verkündet worden.
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Die Bayernpartei hatte bei der Bundestagswahl am 14.August 1949 elf Direktmandate (Statistik der Bundesrepublik Deutschland Bd. 10 [1952]: Die Bundestagswahl am 14. August 1949, S. 10 Tabelle 3) und mit 986 478 gültigen Stimmen 4,2 v.H. der abgegebenen gültigen Stimmen im Bundesgebiet und 20,9 v.H. der abgegebenen gültigen Stimmen im Lande Bayern erhalten. Bei der Bundestagswahl am 6. September 1953 erhielt sie jedoch kein Direktmandat mehr. Sie konnte mit 465 641 gültigen Zweitstimmen nur noch 1,7 v.H. der abgegebenen gültigen Zweitstimmen im Bundesgebiet und 9,2 v.H. der abgegebenen gültigen Zweitstimmen im Lande Bayern auf sich vereinigen (Statistisches Jahrbuch für die Bundesrepublik Deutschland 1954 S. 109). Sie wurde deshalb zum Verhältnisausgleich nicht mehr zugelassen.
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II.
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Die Bayernpartei ist der Auffassung, daß der § 6 Abs. 4 des Bundeswahlgesetzes vom 7. Mai 1956 gegen das Grundgesetz, insbesondere gegen den im Art. 38 Abs. 1 enthaltenen Grundsatz der Wahlrechtsgleichheit verstoße.
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Sie hält zwar die Ausschaltung der Splitterparteien durch eine Sperrklausel für ein legitimes Anliegen des Gesetzgebers. Sie meint aber, der Gesetzgeber habe den Gleichheitsgrundsatz auf dem Gebiet des Wahlrechts durch den § 6 Abs. 4 des Bundeswahlgesetzes vom 7. Mai 1956 deshalb verletzt, weil im Gegensatz zum ersten Bundestagswahlgesetz das in dieser Bestimmung enthaltene Quorum nicht mehr auf die Länder, sondern auf das Bundesgebiet bezogen sei. Bei der Bayernpartei handle es sich nicht um eine Splitterpartei, sondern um eine auf Landesebene organisierte politisch bedeutsame Regionalpartei. Da ihre Anhänger über das ganze Land Bayern in mehr oder minder gleichmaßiger Streuung verteilt seien, habe sie nicht die Möglichkeit, ohne sachfremde Manipulationen mit Hilfe von drei Direktmandaten die Hürde der auf das ganze Bundesgebiet bezogenen 5 v.H.-Klausel zu überspringen. Eine solche Partei durch die Sperrklausel von der parlamentarischen Vertretung auszuschließen, widerspreche der föderalistischen Struktur des Grundgesetzes. Sie hat deshalb das Bundesverfassungsgericht durch einen am 4. Juli 1956 eingegangenen Schriftsatz gegen den Bundestag angerufen und beantragt,
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§ 6 Abs. 4 des Bundeswahlgesetzes vom 7 Mai 1956 (BGBl. I S. 383 ff.) mit dem Grundgesetz, insbesondere mit Art. 38 Abs. I des Grundgesetzes, für unvereinbar und daher nichtig zu erklären.
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Der Bundestag hat in der mündlichen Verhandlung beantragt,
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den Antrag der Bayernpartei abzuweisen.
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Das Gericht hat der Bundesregierung Gelegenheit zur Äußerung gegeben.
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Die Bundesregierung hat durch einen Vertreter des Bundesinnenministeriums in der mündlichen Verhandlung allgemein zur Frage der Sperrklauseln im Verhältniswahlrecht Stellung genommen. Sie hat darauf hingewiesen, daß den Verhältniswahlsystemen, denen eine Einteilung des Wahlgebietes in Listenwahlkreise zugrunde liegt, trotz ihrer weitgehenden Berücksichtigung der Minderheiten eine gewisse Sperrwirkung gegen kleine Parteien innewohne. Diese steigere sich, je kleiner der Listenwahlkreis sei. Die dadurch bedingten Ungleichheiten zwischen großen Wahlkreisen, wie z. B. Nordrhein-Westfalen, und kleinen Wahlkreisen, wie z. B. Bremen und Rheinland-Pfalz, ließen sich am zweckmäßigsten durch ein der konkreten Wahlkreiseinteilung angepaßtes und auf das ganze Wahlgebiet bezogenes Quorum vermeiden. Die im § 6 Abs. 4 des Bundeswahlgesetzes vom 7. Mai 1956 erfolgte Verschärfung des Erfordernisses zum Überspringen der 5 v.H.-Klausel von einem auf drei Direktmandate sichere dieses Quorum wirksamer als bisher gegen sachfremde Manipulationen.
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Der Antrag der Bayernpartei ist gemäß Art. 93 Abs. I Nr. 1 GG (= § 13 Nr. 5 BVerfGG) zulässig.nur im Wege des Organstreites geltend machen können. Der Senat hält an dieser Rechtsauffassung fest.
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Die Antragstellerin behauptet, der Bundesgesetzgeber habe sie durch die im § 6 Abs. 4 des Bundeswahlgesetzes getroffene Regelung in den ihr durch das Grundgesetz übertragenen Rechten verletzt, indem er in unzulässiger Weise den ihr durch Art. 21 und 3 8 GG eingeräumten verfassungsrechtlichen Status beschränkt habe. Es ist ständige Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, daß auch der Erlaß eines Gesetzes eine "Maßnahme" im Sinne der §§ 64, 69, 72 BVerfGG sein kann, die durch Nichtbeachtung einer höheren Norm Rechte eines "Beteiligten" verletzt. Mithin liegt eine verfassungsrechtliche Streitigkeit im Sinne des Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG und des § 13 Nr. 5 BVerfGG vor.
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Der Bundestag ist passiv legitimiert, weil er durch die Beschlußfassung über das Bundeswahlgesetz die angefochtene "Maßnahme" getroffen hat.
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Demnach bestehen weder gegen die Zuständigkeit des Bundesverfassungsgerichts noch gegen die Aktivlegitimation der Antragstellerin oder die Passivlegitimation des Antragsgegners Bedenken.
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Der Antrag ist schließlich auch innerhalb der im § 64 Abs. 3 BVerfGG gesetzten Frist ordnungsmäßig gestellt worden.
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1. Nach Art. 38 Abs. 1 des Grundgesetzes werden die Abgeordneten des Deutschen Bundestages in "allgemeiner, unmittelbarer, freier, gleicher und geheimer Wahl" gewählt. Das Grundgesetz sagt nichts über das Wahlsystem, in dem diese Wahlrechtsgrundsätze zur Geltung kommen müssen. Der Bundesgesetzgeber hat sich in dem Bundeswahlgesetz für eine "mit der Personenwahl verbundene Verhältniswahl" (§ 1 Abs. 1 BWG) entschieden. Jeder Wähler hat eine Erststimme für die Wahl eines Abgeordneten im Wahlkreis; gewählt ist, wer die meisten Stimmen auf sich vereinigt. Eine Zweitstimme kann der Wähler für eine Landesliste abgeben. Landeslisten können nur von politischen Parteien aufgestellt werden. Die zur Verfügung stehenden Sitze werden auf die Landeslisten im Verhältnis der Summen der zu berücksichtigenden Zweitstimmen im Höchstzahlverfahren d'Hondt verteilt. Da aber nicht alle Parteien, für die Landeslisten zugelassen sind, bei dieser Sitzverteilung gleichmäßig berücksichtigt werden, vielmehr Parteien, die nicht mindestens 5 v.H. der im ganzen Geltungsgebiet des Grundgesetzes abgegebenen gültigen Zweitstimmen oder in mindestens drei Wahlkreisen einen Sitz errungen haben, ausgeschlossen werden, fragt es sich, ob diese unterschiedliche Behandlung der politischen Parteien vor dem Grundsatz der gleichen Wahl Bestand haben kann.
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2. Die Verhältniswahl setzt Wahllisten voraus, die von den politischen Parteien als den Repräsentanten der im Volke vorhandenen politischen Meinungen aufgestellt werden. Bezogen auf diese Mitwirkung der Parteien bei der Verhältniswahl bedeutet der Grundsatz der gleichen Wahl, daß die Gestaltung des Wahlverfahrens den politischen Parteien gleiche Wettbewerbschancen eröffnen muß (vgl. BVerfGE 1, 242, 255; 3, 26; 3, 393). Diese Deutung des Art. 38 GG wird bestätigt durch den der politischen Partei in Art. 21 Abs. 1 GG zuerkannten verfassungsrechtlichen Status. Die für die verschiedenen Parteien abgegebenen Stimmen müssen also grundsätzlich für deren Wahlerfolg das gleiche Gewicht haben.
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Dieser Grundsatz gilt auch dann, wenn die Verhältniswahl mit Elementen der Mehrheitswahl verbunden wird, wie dies im Bundeswahlgesetz der Fall ist. Daraus, daß der Gesetzgeber die Freiheit hat, die reine Mehrheitswahl einzuführen oder eine Kombination von Verhältniswahl und Mehrheitswahl zu schaffen, kann nicht gefolgert werden, daß der Verhältnisausgleich, der hinter eine Mehrheitswahl im Wahlkreis gesetzt wird, beliebig beschränkt werden kann, weil bei der Mehrheitswahl die für die unterlegenen Parteien abgegebenen Stimmen überhaupt nicht zum Zuge kommen. Wenn der Gesetzgeber sich für einen Teil des Wahlverfahrens für das Verhältniswahlsystem entscheidet, so stellt er sich damit zugleich unter das Gesetz der Verhältniswahl und unterwirft sich damit der spezifischen Ausprägung, die die Wahlrechtsgleichheit unter dem Verhältniswahlsystem erfahren hat (vgl. BVerfGE 1, 208 [246 f.]).
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3. Wie der Senat bereits in seinem Urteil vom 5. April 1952 (BVerfGE 1, 208 ff.) ausgeführt hat, bedeutet der Verfassungsgrundsatz der Gleichheit der Wahl aber nicht, daß jede Differenzierung des Erfolgswertes der Stimmen ausgeschlossen ist, daß also alle Parteien, die Listen aufgestellt haben, ohne jeden Unterschied gleich behandelt werden müßten. Der Grundsatz der gleichen Wahl ist ein Anwendungsfall des allgemeinen Gleichheitssatzes (vgl. BVerfGE 1, 2.42; 3, 391; 4, 39), der als Grundrecht des Einzelnen in Art. 3 Abs. 1 GG garantiert ist, aber darüber hinaus als selbstverständlicher ungeschriebener Verfassungsgrundsatz in allen Bereichen und für alle Personengemeinschaften gilt (vgl. BVerfGE 1, 233, 242; 3, 391 f.).
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Der Gleichheitssatz fordert nicht, daß der Gesetzgeber die Einzelnen und ihre relevanten gesellschaftlichen Gruppen unbedingt gleichmäßig behandelt; er läßt Differenzierungen zu, die durch sachliche Erwägungen gerechtfertigt sind. Ob und in welchem Ausmaß der Gleichheitssatz bei der Ordnung bestimmter Materien dem Gesetzgeber Differenzierungen erlaubt, richtet sich nach der Natur des jeweils in Frage stehenden Sachbereichs. Für den Sachbereich der Wahlen ist nach der geschichtlichen Entwicklung und der demokratisch-egalitären Grundlage des Grundgesetzes davon auszugehen, daß jeder Staatsbürger, der eine in derselben Weise wie der andere, nach seinem individuellen Willen soll bestimmen können, wen er als Volksvertreter wünscht, so daß grundsätzlich die eine Stimme auf das Wahlergebnis rechtlich denselben Einfluß ausüben muß wie die andere. Für eine freiheitlich-demokratische Grundordnung, wie das Grundgesetz sie geschaffen hat, ist die Gleichbewertung aller Staatsbürger bei der Ausübung des Wahlrechts eine der wesentlichen Grundlagen der Staatsordnung. Es darf darum das Stimmgewicht nach Zähl- und Erfolgswert sicher nicht differenziert werden nach Bildung, Religion, Vermögen, Klasse, Rasse oder Geschlecht (vgl. auch Art. 3 Abs. 2, 3 GG). Es darf auch nicht der Erfolgswert der Stimmen unterschiedlich gestaltet werden, je nach der Art der politischen Meinung, für die der Wähler sich entschieden hat. Da die Aufgabe der politischen Parteien nach Art. 21 Abs. 1 GG gerade darin besteht, bei der politischen Willensbildung des Volkes mitzuwirken, ist mit der verfassungsrechtlich gesicherten Freiheit der Gründung im Grundsatz auch die freie Auswirkung bei der Wahl, d. h. die volle Gleichberechtigung aller Parteien notwendig verbunden (vgl. BVerfGE 1, 255). Für das Staatsleben "gefährliche" Parteien können nur nach Art. 21 Abs. 2 GG ausgeschieden werden.
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Die Wahl hat aber nicht nur das Ziel, den politischen Willen der Wähler als einzelner zur Geltung zu bringen, also eine Volksrepräsentation zu schaffen, die ein Spiegelbild der im Volk vorhandenen politischen Meinungen darstellt, sondern sie soll auch ein Parlament als funktionsfähiges Staatsorgan hervorbringen. Würde der Grundsatz der getreuen verhältnismäßigen Abbildung der politischen Meinungsschichtung im Volk bis zur letzten Konsequenz durchgeführt, so könnte sich eine Aufspaltung der Volksvertretung in viele kleine Gruppen ergeben, die die Mehrheitsbildung erschweren oder verhindern würde. Große Parteien erleichtern die Zusammenarbeit innerhalb des Parlaments, weil sie in sich bereits einen Ausgleich zwischen verschiedenen Volkskreisen und deren Anliegen vollziehen. Der unbegrenzte Proporz würde die Möglichkeit schaffen, daß auch solche kleinen Gruppen eine parlamentarische Vertretung erlangen, die nicht ein am Gesamtwohl orientiertes politisches Programm vertreten, sondern im wesentlichen nur einseitige Interessen verfechten. Klare und ihrer Verantwortung für das Gesamtwohl bewußte Mehrheiten im Parlament sind aber für die Bildung einer nach innen und außen aktionsfähigen Regierung und zur Bewältigung der sachlichen gesetzgeberischen Arbeit erforderlich. Es ist also ein aus der Natur des Sachbereichs "Wahl der Volksvertretung" sich ergebendes und darum eine unterschiedliche Bewertung des Erfolgswertes der Stimmen rechtfertigendes Kriterium, nach der größeren Eignung der Parteien für die Erfüllung der Aufgaben der Volksvertretung zu differenzieren. Mit dieser Begründung dürfen daher sogenannte "Splitterparteien" bei der Zuteilung von Sitzen in der Verhältniswahl ausgeschaltet werden, um Störungen des Verfassungslebens vorzubeugen.
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Der Gesetzgeber darf Differenzierungen in dem Erfolgswert der Stimmen bei der Verhältniswahl vornehmen und demgemäß die politischen Parteien unterschiedlich behandeln, soweit dies zur Sicherung des Charakters der Wahl als eines Integrationsvorganges bei der politischen Willensbildung des Volkes, im Interesse der Einheitlichkeit des ganzen Wahlsystems und zur Sicherung der mit der Parlamentswahl verfolgten staatspolitischen Ziele unbedingt erforderlich ist (vgl. die Entscheidung des Staatsgerichtshofs für das Deutsche Reich vom 17. 2. 1930 bei Lammers-Simons, Band 4 S. 136 [137, 139]). Zu diesen zulässigen Sicherungen gehören die Sperrklauseln, die Parteien benachteiligen, die einen bestimmten Hundertsatz der Gesamtstimmenzahl nicht erreicht haben.
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An dieser seiner grundsätzlichen Auffassung, die der Senat bereits in der Entscheidung vom 5. April 1952 (vgl. BVerfGE 1, 248 [256]) vertreten hat, die er in den Entscheidungen vom 11. August 1954 (BVerfGE 4, 40) und vom 6. Februar 1956 (BVerfGE 4, 380) aufrechterhalten hat, und der sich der Erste Senat in den Entscheidungen vom 3. Juni 1954 (BVerfGE 3, 394), 21. Januar 1955 (BVerfGE 4, 143) und vom 13. Juni 1956 (BVerfGE 5, 83) angeschlossen hat, und die auch von Landesverfassungsgerichten vertreten wird (Urteil des Bayerischen Verfassungsgerichtshofs vom 10. Juni 1949, BayVGHE n. F. Bd. 2 Teil II S. 45; Urteil des Vorläufigen Staatsgerichtshofs Baden-Württemberg vom 28. Oktober 1953, Nr. 1/52) hält der Senat auch nach erneuter Prüfung fest. Insbesondere hat auch der Hinweis auf das sogenannte konstruktive Mißtrauensvotum des Art. 67 GG den Senat nicht davon überzeugt, daß nach der besonderen Gestaltung des Grundgesetzes die aus einer Parteizersplitterung möglicherweise resultierenden Gefahren für den Staat als behoben betrachtet werden können. Hat die Wahl nicht die Grundlagen für eine klare Mehrheitsbildung geschaffen, so kann es sich ergeben, daß bei Beginn der Wahlperiode oder bei einer aus besonderen Gründen während der Wahlperiode eintretenden Vakanz ein Bundeskanzler nur mit relativer Mehrheit gewählt wird. Wenn ein solcher Kanzler auch nur dadurch gestürzt werden könnte, daß der Bundestag mit der Mehrheit seiner Mitglieder einen Nachfolger wählt, so bleibt doch bestehen, daß eine Bundesregierung, die sich nicht auf das Vertrauen der Mehrheit der Mitglieder des Parlaments stützen kann, nicht voll aktionsfähig ist. Die umfangreiche Gesetzgebungsarbeit im sozialen Rechtsstaat erfordert im besonderen Maße ein Zusammenwirken von Regierung und Parlament. Die Regierung muß möglichst fortlaufend durch das Vertrauen der Mehrheit des Parlaments unterstützt werden, um bei der Verabschiedung von dringlichen Gesetzen nicht ständig Gefahr zu laufen, ihre Gefolgschaft zu verlieren. Diese Voraussetzung ist aber trotz des konstruktiven Mißtrauensvotums nicht gesichert, wenn das Parlament eine größere Anzahl von kleineren Gruppen aufweist, die das permanente Votum einer Regierungsmehrheit bei der Regierungsbildung, Regierungsneubildung oder bei der laufenden parlamentarischen Arbeit in Frage stellen würde.
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4. Angesichts des Ausgangspunktes von der demokratischen Gleichberechtigung der Staatsbürger und von der Gleichbewertung der politischen Parteien im System des Grundgesetzes ist festzuhalten, daß der dem Gesetzgeber bei der Gestaltung des Verhältniswahlrechtes nach dem Grundsatz der gleichen Wahl belassene Ermessensspielraum eng bemessen ist (vgl. BVerfGE 1, 249; 4, 382 f.). Aber in diesen Grenzen bleibt die Pflicht des Bundesverfassungsgerichts bestehen, die Ausübung des gesetzgeberischen Ermessens zu achten. Das Gericht hat nicht zu prüfen, ob die innerhalb dieses Rahmens vom Gesetzgeber gefundene Lösung ihm zweckmäßig oder rechtspolitisch erwünscht erscheint. Es kann die Bestimmung eines Wahlgesetzes wegen Verstoßes gegen den Grundsatz der Wahlgleichheit vielmehr nur dann für nichtig erklären, wenn die Regelung nicht an dem Ziel orientiert ist, Störungen des Staatslebens zu verhindern, oder wenn sie das Maß des zur Erreichung dieses Zieles Erforderlichen überschreitet. Daß ein Quorum von 5 % nach der allgemeinen Rechtsüberzeugung zur Verhütung der Parteienzersplitterung im Parlament und damit zur Bewahrung der integrierenden Funktion der Wahlen gerechtfertigt ist, hat der Senat bereits in seinem Urteil vom 5. April 1952 (BVerfGE 1, 256) entschieden. Er hält daran fest. Ob der Gesetzgeber ein solches Quorum einführt und ob er den Hundertsatz auf das gesamte Wahlgebiet oder nur auf den Listenwahlkreis bezieht, bleibt seinem Ermessen überlassen. Daraus, daß ein Wahlgesetz keine Verrechnung der Stimmen auf eine Liste für das gesamte Wahlgebiet kennt, folgt insbesondere nicht, daß das Quorum nur auf den Listenwahlkreis bezogen werden dürfte (vgl. BVerfGE 4, 380). § 6 Abs. 4 BWG hält sich demnach im Rahmen der vom Grundgesetz garantierten Wahlgleichheit.
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5. Die Erringung von drei Sitzen in Wahlkreisen als Voraussetzung für die Teilnahme am Verhältnisausgleich steht alternativ neben dem Quorum von 5 v.H. Sie bedeutet gegenüber dem Erfordernis von 5 v.H. der Gesamtstimmenzahl eine Erleichterung für die kleinen Parteien. Sie kann deshalb die dargelegten Grenzen, die dem Gesetzgeber durch den Satz der Wahlgleichheit bei der allgemeinen Beschränkung des Verhältnisausgleichs gesetzt sind, nicht überschreiten.
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Diese Klausel kommt allerdings nur solchen Parteien zugute, die örtliche Schwerpunkte besitzen. Es fragt sich deshalb, ob die unterschiedliche Behandlung der Parteien, die 5 v.H. der Gesamtstimmenzahl nicht erreicht haben, je nachdem, ob sie drei Direktmandate errungen haben oder nicht, mit dem Grundsatz der Gleichheit der Wahl vereinbar ist.
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Diese Bedingung konnte nur gesetzt werden, weil das Wahlsystem des Bundeswahlgesetzes insofern von dem üblichen reinen Verhältniswahlrecht abweicht, als es vor den Verhältnisausgleich eine Personenwahl nach Mehrheit in Wahlkreisen setzt. Der Bundesgesetzgeber hat sich für eine "mit der Personenwahl verbundene Verhältniswahl" entschieden und legt besonderes Gewicht auf die Wahl von Abgeordneten in Wahlkreisen. Der Charakter der Volksvertretung soll auch durch die Anwesenheit von Abgeordneten bestimmt werden, die eine persönliche Beziehung zu ihrem Wahlkreis haben. Diese Beimischung von Elementen des Mehrheitswahlrechts rechtfertigt es, bei dem grundsätzlich beschränkten Verhältnisausgleich Parteien, die sich in der Mehrheitswahl im Wahlkreis durchgesetzt haben, gegenüber solchen Parteien zu bevorzugen, die dieses Ziel des Bundeswahlgesetzes nicht erreicht haben. Während grundsätzlich die Parteien, die nicht 5 v.H. der Gesamtstimmenzahl erreicht haben, vom Parlament ferngehalten werden, weil ihre Vertretung im Parlament die Erfüllung der parlamentarischen Aufgabe beeinträchtigen könnte, werden die Parteien, die drei Direktmandate erzielt haben, trotzdem für parlamentswürdig gehalten, weil sie sich in lokalen Schwerpunkten als politisch bedeutsam erwiesen und zugleich in besonderer Weise dem Anliegen der personalisierten Verhältniswahl entsprochen haben. Mit Recht hat der Erste Senat in dem Urteil vom 3. Juni 1954 (BVerfGE 3, 397) ausgeführt, daß es in einem Wahlsystem, das die Wahl in den Wahlkreisen bevorzugt, nur folgerichtig ist, daß eine Schwerpunktpartei auf eine gewisse Stimmenzahl Mandate erhält, während eine verstreute Partei unter Umständen auch mit einer erheblich größeren Stimmenzahl leer ausgeht. Mit dieser Gestaltung des Wahlverfahrens hat der Bundesgesetzgeber also die Grenzen seines Ermessens bei der Konkretisierung des Grundsatzes der gleichen Wahl nicht überschritten. Die Bevorzugung der Parteien mit drei Direktmandaten beim Verhältniswahlausgleich ist gerade aus den Grundlagen des eigenartig gestalteten Wahlsystems des Bundeswahlgesetzes heraus zu rechtfertigen und verstößt darum nicht gegen den Grundsatz der gleichen Wahl. Ob der Gesetzgeber als Voraussetzung für die Teilnahme am Verhältnisausgleich ein Direktmandat oder mehrere Direktmandate fordert, steht in seinem Ermessen. Die Erhöhung von einem auf drei Mandate im Bundeswahlgesetz gegenüber dem Wahlgesetz zum zweiten Bundestag erscheint schon deshalb gerechtfertigt, weil dadurch die Spanne zwischen den für die Beteiligung am Verhältnisausgleich alternativ erforderlichen Stimmenzahlen erheblich vermindert wird. Außerdem erschwert sie Manipulationen, die dem Grundgedanken der Privilegierung von Schwerpunktparteien zuwiderlaufen.
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6. Die Benachteiligung von politischen Parteien beim Verhältnisausgleich durch § 6 Abs. 4 kann auch nicht dadurch verfassungswidrig werden, daß § 6 Abs. 4 Satz 2 eine Ausnahme für die Parteien nationaler Minderheiten statuiert. Wäre diese Ausnahme unzulässig, so würde daraus höchstens folgern, daß § 6 Abs. 4 Satz 2 ungültig sein würde, nicht aber könnte daraus gefolgert werden, daß § 6 Abs. 4 Satz 1 ungültig ist, oder daß Ausnahmen für weitere Parteien gemacht werden müßten. Bei den Parteien nationaler Minderheiten liegen besondere Verhältnisse vor, die mit der Situation anderer kleiner Parteien nicht zu vergleichen sind. Die Merkmale der großen Stimmenzahl oder der Direktmandate erlangt eine Partei erst im und durch den Wahlvorgang, während das Merkmal, das die Parteien nationaler Minderheiten von allen anderen Parteien unterscheidet, außerhalb des Wahlvorgangs liegt. Es handelt sich also um nicht vergleichbare Tatbestände. Der Gleichheitssatz verbietet nicht, Parteien wegen eines Kriteriums, das in einem anderen Bereich liegt zum Verhältnisausgleich zuzulassen, wenn Parteien mit geringer Stimmenzahl und Parteien ohne örtliche Schwerpunkte davon ausgeschlossen werden. Der Gleichheitssatz gebietet andererseits auch nicht, daß für alle Parteien, die sich durch Merkmale charakterisieren lassen, die außerhalb des Wahlvorganges liegen, eine Ausnahme gemacht wird, wenn eine Partei ausnahmsweise zum Verhältnisausgleich zugelassen wird, weil sie eine nationale Minderheit repräsentiert. Es liegt im Ermessen des Gesetzgebers, ob er eine Partei ohne Rücksicht auf die erzielte Stimmenzahl und die Erringung von Direktmandaten wegen politischer Umstände, die eine besondere Regelung gerade im Wahlverfahren rechtfertigen, für parlamentswürdig erachtet oder nicht. Ein Verstoß gegen den Grundsatz der gleichen Wahl könnte in einer solchen Ausnahme nur dann gefunden werden, wenn die Kriterien, die den Anlaß für die besondere Regelung geben, auch für andere Parteien zutreffen würden. Das ist im Verhältnis der Parteien nationaler Minderheiten zu anderen politischen Parteien nicht der Fall. Die Lage der nationalen Minderheit, die deutsche Staatsangehörigkeit mit fremder Volkszugehörigkeit verbindet, ist innerstaatlich einzigartig, da das Völkerrecht und unter Umständen ein fremder Staat, dessen Volkstum die Minderheit zugehört, Interesse an ihrem Status nimmt. Es ist darum ein die wahlrechtliche Sonderregelung hinreichend rechtfertigendes Anliegen des Gesetzgebers, der nationalen Minderheit zur Vertretung ihrer spezifischen Belange die Tribüne des Parlaments zu eröffnen, wenn sie nur die für ein Mandat erforderliche Stimmenzahl aufbringt. Auch die Rücksicht auf die Behandlung deutscher nationaler Minderheiten in fremden Staaten durch den ausländischen Gesetzgeber kann es sehr wohl rechtfertigen, Parteien nationaler Minderheiten von der Sperrklausel beim Verhältniswahlrecht auszunehmen (vgl. BVerfGE 5, 83).
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7. Der Umstand, daß das Bundeswahlgesetz in § 21 Abs. 2 und § 28 Abs. 1 Zulassungsbeschränkungen für Wahlvorschläge enthält, indem ein bestimmtes Unterschriftenquorum vorgeschrieben wird, macht die Sperrklausel des § 6 Abs. 4 nicht unzulässig. Das Unterschriftenquorum dient dem legitimen Ziel, nur solche Vorschläge zuzulassen, für die die Vermutung besteht, daß hinter dem Vorschlag eine ernstzunehmende Gruppe steht, die sich mit diesem Vorschlag am Wahlkampf beteiligen will (vgl. BVerfGE 4, 381 f.). Das Unterschriftenquorum wirkt allerdings auch schon der Stimmenzersplitterung entgegen und verfolgt insofern auch den Zweck, die Bildung handlungsfähiger und wahrhaft repräsentativer Verfassungsorgane zu ermöglichen. So wenig wie Zulassungsbeschränkungen durch Sperrklauseln überflüssig werden (vgl. BVerfGE 3, 394), werden Sperrklauseln durch Zulassungsbeschränkungen überflüssig. Zulassungsbeschränkungen (Unterschriftenquorum) werden vor der Stimmabgabe der Wähler angewendet und müssen in einem engen Rahmen bleiben, um der Wählerentscheidung möglichst wenig vorzugreifen. Sie können also nicht verhindern, daß Parteien, die die Zulassungserfordernisse erfüllen, immer noch Splitterparteien bleiben. Ihnen entgegenzutreten, dient dann die Sperrklausel.
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8. Schließlich war der Gesetzgeber nicht - wie die Antragstellerin meint - mit Rücksicht auf den föderativen Charakter der Bundesrepublik gehalten, der besonderen Struktur der Antragstellerin als "Landespartei" durch die Eröffnung einer weiteren Ausnahme von der 5 v.H.-Klausel Rechnung zu tragen. Wie im einzelnen dargelegt, hat der Gesetzgeber in gewissen Grenzen das Recht, bestimmten Parteien wegen ihrer spezifischen politischen Bedeutsamkeit gegenüber dem allgemeinen Quorum potentiell einen repräsentativen Sonderstatus zu verleihen. Dadurch, daß der Bundesgesetzgeber diesen Sonderstatus nur den "Schwerpunktparteien", die drei Direktmandate gewonnen haben, und den Parteien nationaler Minderheiten gewährt hat nicht aber Parteien von der Art der Antragstellerin, hat er nicht den Gleichheitssatz verletzt. Denn das Kriterium, nach dem die Antragstellerin ihren Sonderstatus bestimmt sehen möchte, liegt auf einer anderen Ebene als bei den vorbezeichneten Parteien. Die Antragstellerin beruft sich auf ihr Stimmgewicht in einem Land und glaubt, daraus einen Anspruch auf besondere Berücksichtigung bei der Formierung des Bundesparlaments herleiten zu können. Der Bundesgesetzgeber braucht aber bei der Wahl zum Bundestag als dem unitarischen Verfassungsorgan des Bundes föderative Gesichtspunkte nicht zu berücksichtigen. Die Nichtberücksichtigung von regionalen Landesparteien durch den Gesetzgeber erscheint unter diesem Blickpunkt daher als sachlich motiviert und nicht willkürlich.
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