des Ersten Senats vom 11. Oktober 1962
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- 1 BvL 22/57 - | |
in dem Verfahren wegen verfassungsrechtlicher Prüfung des Artikels 2 § 4 Absatz 1 Satz 1 des Gesetzes zur Neuregelung des Rechts der Rentenversicherung der Arbeiter vom 23. Februar 1957 (BGBl. I S. 45) auf die Vorlage des Sozialgerichts München (Beschluß vom 24. Juli 1957 - S 1024/JV/57).
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Entscheidungsformel:
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Artikel 2 § 4 Absatz 1 Satz 1 des Gesetzes zur Neuregelung des Rechts der Rentenversicherung der Arbeiter vom 23. Februar 1957 (Bundesgesetzbl. I S. 45) ist, soweit er die Fortführung der nach dem 31. Dezember 1955 in der Rentenversicherung der Arbeiter begonnenen Selbstversicherungen ausschließt, mit dem Grundgesetz vereinbar.
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Gründe: | |
A. | |
Die deutsche Sozialversicherung ist gekennzeichnet durch die gesetzliche Versicherungspflicht einer Solidargemeinschaft von bestimmten Gruppen der Bevölkerung - Arbeitern und Angestellten. Doch war von Anfang an in gewissen Grenzen auch eine freiwillige Versicherung gegen Invalidität und Alter vorgesehen, und zwar in den Formen der Höherversicherung, der Weiterver ![]() ![]() | |
Die Gesetze zur Neuregelung des Rechts der Rentenversicherung der Arbeiter und der Angestellten (ArVNG und AnVNG) vom 23. Februar 1957 (BGBl. I S. 45 und S. 88) haben alle entgegenstehenden oder gleichlautenden Vorschriften des alten Rechts mit Wirkung zum 1. Januar 1957 außer Kraft gesetzt (Art. 3 §§ 2 und 8 ArVNG, ebenso Art. 3 §§ 2 und 7 AnVNG). Ein der ![]() ![]() | |
(1) Wer durch Entrichtung eines Beitrages vor dem 1. Januar 1956 die Selbstversicherung (§ 1243 der Reichsversicherungsordnung alter Fassung) begonnen oder bis zum Inkrafttreten dieses Gesetzes von dem Recht der Weiterversicherung (§ 1244 der Reichsversicherungsordnung alter Fassung) Gebrauch gemacht hat, kann die Versicherung fortsetzen,... (betr. Weiterversicherung).
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(2) ... (betr. Weiterversicherung).
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(3) Wer die Selbstversicherung nach dem 31. Dezember 1955 begonnen hat, erhält die zur Selbstversicherung entrichteten Beiträge in voller Höhe zurückgezahlt, wenn er dies bis zum 31. Dezember 1957 beantragt.
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Die Fortführung einer nach altem Recht eingegangenen Selbstversicherung ist also nur unter der Voraussetzung zugelassen, daß sie "durch Entrichtung eines Beitrages vor dem 1. Januar 1956" begonnen worden ist; eine Nachentrichtung gemäß § 1442 RVO a.F. genügt nach dem klaren Wortlaut der Bestimmung hierfür nicht. Wer - wie die Klägerin des Ausgangsverfahrens - die Selbstversicherung dadurch begonnen hat, daß er zwar vor Verkündung der Neuregelungsgesetze am 23. Februar 1957, aber nicht vor dem Stichtag, dem 1. Januar 1956, den ersten Beitrag entrichtet hat, kann sonach die Versicherung nicht fortsetzen; sein Recht, durch Leistung freiwilliger Beiträge die Voraussetzung für den künftigen Erwerb von Rentenansprüchen zu schaffen, die sogenannte "Erwerbsberechtigung", ist erloschen. Die bereits geleisteten Beiträge kann der Versicherte entweder zurückfordern oder stehenlassen; dann können sie mit etwaigen späteren Pflichtbeiträgen als Grundlage eines Rentenanspruchs dienen (§§ 1249, 1250, 1258 der Reichsversicherungsordnung, ebenso §§ 26, 27 und 35 des Angestelltenversicherungsgesetzes, jeweils in der Fassung der Neuregelungsgesetze, im folgenden RVO n.F., AnVG); auch ![]() ![]() | |
B. - I. | |
Die 1928 geborene Klägerin des Ausgangsverfahrens ist eine Hausfrau; sie erwarb 1956 zwei Wochenbeitragsmarken (Aufdruck 56), die sie, das Recht auf Nachentrichtung gebrauchend, mit der Aufschrift 1955 versah; Anfang 1957 klebte sie weitere 52 Wochenbeitragsmarken mit der Aufschrift 1956. Der Gesamtwert der verwendeten Marken beträgt 61,60 DM. Als die Versicherte ihre Quittungskarte bei der Gemeindeverwaltung zum Umtausch in eine neue Karte vorlegte, lehnte diese den Umtausch mit der Begründung ab, daß nach dem Arbeiterrentenversicherungs-Neuregelungsgesetz eine Selbstversicherung nicht mehr vorgesehen sei. Die Landesversicherungsanstalt Oberbayern bestätigte das und wies den gegen ihre Entscheidung erhobenen Widerspruch zurück. Auf die gegen den Widerspruchsbescheid erhobene Klage hat das Sozialgericht München (S 1024/JV/57) mit Beschluß vom 24. Juli 1957 das Verfahren ausgesetzt, um die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts darüber einzuholen, ob Art. 2 § 4 Abs. 1 ArVNG gegen das Grundgesetz verstößt.
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Das Sozialgericht hält diese Übergangsbestimmung für unvereinbar mit dem Rechtsstaatsprinzip und dem Gleichheitssatz.
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II.
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In dem Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht hat die Bundesregierung sich - ohne dem Verfahren beizutreten - durch den Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung geäußert; dieser hält die beanstandete Regelung für vereinbar mit dem Grundgesetz. ![]() | |
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Die zur Nachprüfung gestellte Norm ist für die Entscheidung des Sozialgerichts nur insoweit erheblich, als sie die Selbstversicherung regelt. Auf die in der Norm gleichfalls enthaltene Regelung der Weiterversicherung kommt es hier dagegen nicht an. Die Vorlagefrage geht also, richtig verstanden, dahin,
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ob die Übergangsbestimmung in Art. 2 § 4 Abs. 1 Satz 1 ArVNG mit dem Grundgesetz vereinbar ist, soweit sie die Fortführung einer nach dem 31. Dezember 1955 begonnenen Selbstversicherung nicht zuläßt.
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In dem zu prüfenden Umfang ist die Norm mit dem Grundgesetz vereinbar.
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Neben der Verletzung des Rechtsstaatsprinzips und des allgemeinen Gleichheitssatzes, die im Vorlagebeschluß genannt ist, wird auch Verletzung des Sozialstaatsprinzips sowie der Gewährleistung des Eigentums und der allgemeinen Handlungsfreiheit geltend gemacht. Ein Teil dieser verfassungsrechtlichen Argumente ist schon im Gesetzgebungsverfahren (BT II/1953 Sitz. vom 18. Januar 1957 Prot. S. 10 447 B, C, D, Begr. der Änderungsanträge von FDP - Umdr. 889 Ziff. 69, SPD - Umdr. 893 Ziff. 101, 102 - und GB/BHE - Umdr. 896 Ziff. 27, 28) und später in den Vorlagen mehrerer Sozialgerichte und den Stellungnahmen des Bundessozialgerichts sowie in der Literatur erörtert worden. Alle Bedenken reichen jedoch nicht aus, um die Unvereinbarkeit der zur Prüfung vorgelegten Norm mit dem Grundge ![]() ![]() | |
I.
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Die grundgesetzliche Gewährleistung des Eigentums ist nicht verletzt, weil die beeinträchtigte Rechtsposition der Selbstversicherten nicht "Eigentum" im Sinne von Art. 14 GG ist. Das ergibt sich aus der Zugehörigkeit der Rechtsposition zum öffentlichen Recht und aus dem besonderen Übergewicht, das hier die staatliche Gewährung gegenüber der eigenen Leistung des Versicherten hat.
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1. Das Bundesverfassungsgericht hat bereits ausgesprochen, daß auch bei freiwilliger Beteiligung an der Sozialversicherung "der Anspruch auf die Versicherungsleistung bei Eintritt des Versicherungsfalles und die als Anwartschaft bezeichnete Position bis zu diesem Zeitpunkt ... zu den öffentlich-rechtlichen Vermögenspositionen (gehören), für die der Schutz des Art. 14 GG nicht schlechthin, sondern nur dann in Anspruch genommen werden kann, wenn sie die konstituierenden Merkmale des Eigentumsbegriffes tragen" (BVerfGE 11, 221 [226]; vgl. auch BVerfGE 1, 264 [278 f.]; 2, 380 [402]; 4, 219 [241]). Was dort für bestehende Versicherungsansprüche und für Anwartschaften gesagt worden ist, gilt naturgemäß auch für die jetzt in Rede stehende, vor dem Ablauf der Wartezeit liegende Position der Selbstversicherten.
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2. Die Gewährleistung des Eigentums ergänzt die Handlungs- und Gestaltungsfreiheit. Demgemäß ist in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (vgl. schon BVerfGE 1, 264 [277/278]) ausgesprochen, daß, was der einzelne durch eigene Leistung erworben hat, in besonderem Sinne als sein Eigentum anzuerkennen und gegenüber Eingriffen als schutzwürdig anzusehen ist. ![]() ![]() | |
3. Die hier in Rede stehende Position der Selbstversicherten ist dadurch gekennzeichnet, daß ihnen bei Eintritt des Versicherungsfalles - von dem seltenen Fall des § 1263 RVO a.F. abgesehen - noch keine Rentenansprüche zugestanden hätten, ja daß angesichts der Ungewißheit, ob und wie viele Beiträge bei Fortführung der Selbstversicherung entrichtet worden wären, sogar dahinstand, ob sie je solche Ansprüche erworben haben würden. Ihre Rechtsposition umfaßt drei verschiedene Elemente: den engbegrenzten Versicherungsschutz aus § 1263a RVO a.F., die Berücksichtigung der geleisteten Beiträge bei einem etwaigen künftigen Rentenverfahren und die "Erwerbsberechtigung". Freilich können diese Elemente nicht derart losgelöst voneinander behandelt werden, als wären sie selbständige Ansprüche; vielmehr muß die gesamte Rechtsposition gewürdigt werden (vgl. BVerfGE 11, 221 [226 ff.]; in gleichem Sinne das Bundessozialgericht z.B. in BSGE 5, 40 [44]; 3, 77 [81 f.]; 14, 133 [137]). Das schließt aber nicht aus, daß die Richtung des gerügten gesetzlichen Eingriffs auf das eine oder andere ihrer Elemente in Verbindung mit deren Rechtsgrund und Bedeutung im Rahmen der Gesamtposition entscheidend sein kann. Dabei ist unter Berücksichtigung der Auffassungen und Interessen der Beteiligten zu ermitteln, wo der Schwerpunkt der Rechtsposition liegt.
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4. Für die Frage, ob die beeinträchtigte Rechtsposition "Eigentum" ist, können der Versicherungsschutz aus § 1263a RVO a.F. und die Berücksichtigung geleisteter Beiträge bei künftiger Rentenberechnung vernachlässigt werden. Beide Positionen bleiben erhalten, falls die Beiträge nicht zurückgefordert werden. Sie sind aber auch für die Versicherten ohne irgend wesentliches Interesse. Schon der Eintritt eines der in § 1263a RVO a.F. vorgesehenen Versicherungsfälle ist verhältnismäßig selten. Zudem wurde die Rente aus § 1263a RVO a.F. nur nach den entrichteten Beiträgen ![]() ![]() | |
5. Den Schwerpunkt der Rechtsposition sehen die Selbstversicherten wie die Versicherungsträger in der Erwerbsberechtigung. Die Chance, durch Entrichtung weiterer Beiträge die Voraussetzungen für den künftigen Erwerb von Anwartschaften und Rentenansprüchen zu schaffen, bestimmt also den Charakter der beeinträchtigten Rechtsposition.
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Die Erwerbsberechtigung aber beruhte nicht auf eigener Leistung der Versicherten, sondern auf staatlicher Gewährung.
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Die Möglichkeit freiwilliger Selbstvorsorge im Rahmen der Sozialversicherung war vom Staat allen Deutschen eingeräumt, die das 40. Lebensjahr noch nicht vollendet hatten. Sie hing nicht davon ab, ob und wie viele Beiträge geleistet waren. Die Unterscheidung der Erwerbsberechtigung vor und nach Begründung der Selbstversicherung gibt für das Problem der Enteignung nichts her; denn das Recht, eine Selbstversicherung durch den ersten freiwilligen Beitrag zu beginnen, und das Recht, sie durch weitere Beitragsleistungen fortzusetzen, sind inhaltlich gleich. Man kann in diesem Zusammenhang nicht in Parallele zum privaten Versicherungsvertrag die Bedeutung der Erwerbsberechtigung vor und nach "Vertragsabschluß" differenzieren; denn die Privatversicherungsträger unterliegen keinem Kontrahierungszwang, so daß vor Vertragsabschluß von einer Erwerbsberechtigung überhaupt keine Rede sein kann, während es den Sozialversicherungsträgern nicht freisteht, ob, mit wem und zu welchen Bedingungen sie ein Versicherungsverhältnis eingehen wollen. Auch "erkauft" ![]() ![]() | |
II.
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Auch das Rechts- und Sozialstaatsprinzip ist nicht verletzt.
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Was die Selbstversicherung vor und nach ihrem Beginn unterscheidet, ist nicht eine Inhaltsänderung der Erwerbsberechtigung, sondern der im Vertrauen auf das Gesetz gefaßte und durch Beitragsleistung bekräftigte Entschluß des Versicherten, Vorsorge gerade auf dem Wege der freiwilligen Selbstversicherung zu treffen und andere Möglichkeiten der Vorsorge ungenützt zu lassen. Das wirft die Frage nach einer Verletzung des Verfassungsprinzips der Rechts- und Sozialstaatlichkeit (vgl. z.B. BVerfGE 3, 225 [237]; 3, 377 [381]; 6, 32 [41]; 7, 89 [92 f.]) auf, die auch in den Stellungnahmen aus der Sozialgerichtsbarkeit und der Wissenschaft im Mittelpunkt steht. Der Gesichtspunkt, unter dem vor allem das Rechtsstaatsprinzip vielfach als verletzt angesehen wird, ist die Rückwirkung von Gesetzen in Verbindung mit dem Vertrauensschutz des Bürgers.
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1. Für die Beurteilung der Rückwirkung kann außer acht bleiben, daß die am 23. Februar 1957 verkündeten Neuregelungsgesetze bereits mit Wirkung ab 1. Januar 1957 in Kraft getreten sind; denn die Frage, ob die Fortführung einer nach dem 31. Dezember 1955 begonnenen Selbstversicherung versagt werden durfte, würde sich genauso stellen, wenn die Neuregelungsgesetze erst mit oder nach ihrer Verkündung in Kraft getreten wären. ![]() | |
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3. Aus dem rechtsstaatlichen Prinzip der Rechtssicherheit ergeben sich jedoch verfassungsrechtliche Grenzen auch bei "unechter Rückwirkung" (BVerfGE 11, 139 [145/146]), d.h. für Normen, die zwar unmittelbar nur auf gegenwärtige, noch nicht abgeschlossene Sachverhalte für die Zukunft einwirken, damit aber zugleich die betroffene Rechtsposition nachträglich im ganzen entwerten. Für den Bürger bedeutet Rechtssicherheit in erster Linie Vertrauensschutz (BVerfGE 13, 261 [271] und 13, 215 [224]), und es ist auch in Fällen unechter Rückwirkung durchaus denkbar, daß der Vertrauensschutz verletzt wird, wenn das Gesetz einen entwertenden Eingriff vornimmt, mit dem der Staatsbürger nicht rechnen, den er also bei seinen Dispositionen ![]() ![]() | |
4. Bei dem gerügten Eingriff handelt es sich um einen Fall unechter Rückwirkung. Die Versicherten haben die Selbstversicherung begonnen, weil sie darauf vertrauten, das Versicherungsverhältnis bis zum Erwerb von Rentenansprüchen, zumindest bis zum Erwerb der Anwartschaften auf Invaliditäts- und Altersrenten fortführen zu dürfen. Dadurch, daß diese Möglichkeit beseitigt worden ist, wird den Selbstversicherten der für sie entscheidende Teil ihrer - öffentlich-rechtlichen - Rechtsposition genommen; sie verlieren in aller Regel nachträglich jedes Interesse an der Selbstversicherung überhaupt.
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5. Diese unechte Rückwirkung kann nicht damit gerechtfertigt werden, daß die betroffenen Versicherten bei Aufnahme der Selbstversicherung mit ihrer nachträglichen Beseitigung hätten rechnen können. Zwar mag die interessierte Öffentlichkeit schon im Laufe des Jahres 1956 aus Berichten über den Regierungsentwurf und über die Arbeit des Sozialpolitischen Ausschusses haben entnehmen können, daß mit der Rentenreform auch die Tendenz verfolgt wurde, die freiwillige Versicherung stark einzuschränken. Das Bundesverfassungsgericht hat jedoch wiederholt den Grundsatz ausgesprochen, daß das Vertrauen des Bürgers in den Bestand des geltenden Rechts erst von dem Zeitpunkt ab nicht mehr schutzwürdig ist, in dem der Bundestag ein in die Vergangenheit zurückwirkendes Gesetz beschlossen hat (vgl. insbesondere BVerfGE 13, 261 [273]; ferner 8, 274 [304/305]; 13, 206 [213]). Im vorliegenden Fall ist die Beschlußfassung des Bundestages am 21. Januar 1957 erfolgt. Nicht nur bei der Klägerin des Ausgangsverfahrens, sondern auch in allen dem Bundesverfassungsgericht bekanntgewordenen Parallelfällen liegt dieser Tag nach der Begründung der Selbstversicherung.
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6. Es muß deshalb davon ausgegangen werden, daß in der Tat das Vertrauen der betroffenen Selbstversicherten auf den Bestand ihrer Rechtsposition enttäuscht worden ist. In Einzelfällen mag dies als besondere Härte empfunden worden sein, namentlich ![]() ![]() | |
7. Davon geht auch das Bundessozialgericht in der Äußerung zu diesem Verfahren aus. Doch müßten, so führt es aus, die Versicherten sich darauf verlassen dürfen, daß ihnen aus der gutgläubigen Benutzung einer von der Rechtsordnung bereitgestellten öffentlichen Einrichtung wenn schon nicht der in Aussicht gestellte Vorteil, so doch jedenfalls kein unvorhersehbarer Nachteil erwachse. Das geschehe hier: denn wer sich erst nach Beseitigung der Selbstversicherung privat versichern wolle, müsse nun unter Umständen schlechtere Bedingungen hinnehmen, als wenn er das früher getan hätte. Hier komme hinzu, daß die Selbstversicherten im allgemeinen wirtschaftlich schwachen und deswegen besonders schutzwürdigen Bevölkerungsschichten angehörten, so daß die beanstandete Gesetzesvorschrift auch gegen das Prinzip der Sozialstaatlichkeit verstoße.
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Der Gesetzgeber selbst hat solchen Erwägungen insoweit Rechnung getragen, als er für die vor dem 1. Januar 1956 begonnenen Selbstversicherungen die Fortsetzung zuließ. Nur für die seitdem, also in den letzten 14 Monaten vor Verkündung des Gesetzes begonnenen Selbstversicherungen hat er den Bestandsschutz versagt.
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Dem Gedanken, daß um der Rechtssicherheit willen für den Bürger durch unvorhergesehene Gesetzesänderung jedenfalls kein Nachteil erwachsen dürfe, ist grundsätzlich zuzustimmen. Dennoch bildet die hier gerügte Vertrauensverletzung keine ausreichende Basis für die Feststellung einer Verletzung des ![]() ![]() | |
8. Bei der Beseitigung der Selbstversicherung griff der Gesetzgeber auf Bedenken zurück, die von Anfang an gegen diese Einrichtung vorgebracht worden waren. Schon in den Kommissionsberatungen des Jahres 1889 wurde geltend gemacht, daß durch die Selbstversicherung ein äußerst unsicheres Element in die Invalidenversicherung eingeführt würde und die Versicherungsanstalt ein Risiko übernehmen müßte, für das sie wahrscheinlich keine genügende Deckung finden würde; was man den freiwillig Versicherten zuwenden würde, müßten die Zwangsversicherten tragen, "und die Arbeiter zu belasten zugunsten der selbständigen Gewerbetreibenden erscheine in der Tat unmöglich" (RT 1888/89 Drucks. Nr. 141 S. 978). Erst in der zweiten Beratung nahm der Reichstag einen Änderungsantrag an, der die Selbstversicherung für engbegrenzte Ausnahmefälle zuließ (RT 1888/89 Prot. S. 1158 ff. [1162 ]).
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In den Neuregelungsgesetzen hat sich jetzt die Ansicht durchgesetzt, "daß die Selbstversicherung ein Fremdkörper innerhalb der Versichertengemeinschaft der unselbständigen Arbeitnehmer sei. Die Rentenversicherung der Arbeiter ist in ihrem Aufbau und in ihren Leistungen auf die Verhältnisse der unselbständigen Arbeitnehmer zugeschnitten. Personen, die nicht zu den Arbeitnehmern gehören und deren Versicherungsbedürfnisse weitgehend anders geartet sind, können deshalb nicht in eine solche Versichertengemeinschaft einbezogen werden. Zudem würde die Beibehaltung der Selbstversicherung zu einer Häufung der 'schlechten Risiken' führen und einen Nachteil der Pflichtversicherten bedeuten" (BT II/1953, zu Drucks. 3080, Bericht des Sozialpoliti ![]() ![]() | |
Nun ist geltend gemacht worden, daß diese Erwägungen wohl die Beseitigung der Selbstversicherung für die Zukunft rechtfertigen könnten, nicht aber die Beseitigung der nach dem 31. Dezember 1955 bereits begonnenen; denn zahlenmäßig wären diese nicht ins Gewicht gefallen, hätten also keine nennenswerte finanzielle Mehrbelastung der Versicherungsträger mit sich gebracht; dies um so mehr, als der Gefahr, daß im Verhältnis zu geringem Beitragsaufwand hohe Rentenleistungen erzielt würden, durch die neue Rentenformel zum Teil begegnet werde, da sie - mehr als die frühere Berechnungsweise - auf die Beitragsleistung abstelle (so z.B. Äußerung des 4. Senats des Bundessozialgerichts zu dem Parallelverfahren 1 BvL 9/62). Demgegenüber wird von an ![]() ![]() | |
Der Ausschuß vertrat mit Mehrheit den Standpunkt, daß derjenige, der bereits vor dem 1. Januar 1956 in die Selbstversicherung eingetreten war, diese fortsetzen könne, nicht dagegen derjenige, der sich erst im abgelaufenen Jahre 1956 selbstversichert habe.
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Es liegt jedoch auf der Hand, daß die Sorge vor einem unverhältnismäßig großen Zustrom von Selbstversicherten kurz vor Toresschluß den Gesetzgeber zu der gerügten Bestimmung veranlaßt hat. Auch die Bundesversicherungsanstalt für Angestellte geht in ihrer Äußerung zu dem Parallelverfahren 1 BvL 14/58 mit Selbstverständlichkeit davon aus, daß der Gesetzgeber sich aus diesem Grunde zu der Übergangsregelung entschlossen hat.
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Nun war das Ausmaß solcher Zugänge naturgemäß ziffernmäßig nicht zu überblicken. Ob sie wirklich ins Gewicht fallen und die Versichertengemeinschaft beträchtlich belasten würden oder nicht, war zur Zeit der Beratung des Gesetzes nicht abzusehen. Immerhin beruhte diese Besorgnis auf verständigen Erwägungen. Bei der Bewertung eines solchen Zustromes ist zu bedenken, daß die Selbstversicherungsverhältnisse ihrer Natur nach häufig eine sehr lange Laufzeit haben und daß beim Eintritt von Rentenfällen die Solidargemeinschaft möglicherweise noch in vielen Jahren über die eingezahlten Beiträge der Selbstversicherten hinaus erhebliche Mittel aufwenden müßte, die nun für die ![]() ![]() | |
Das Bundessozialgericht hat weiter darauf hingewiesen, daß der Gesetzgeber einer unerwünschten Häufung freiwilliger Beitritte "kurz vor Toresschluß" auch durch das mildere Mittel einer vorläufigen Beitrittssperre hätte entgegenwirken können. Auch eine solche Maßnahme hätte aber nur durch Gesetz erfolgen können. Da nicht feststeht, daß es in kurzer Zeit hätte erlassen werden können, wären vermutlich die gleichen unerwünschten Auswirkungen eingetreten. Auch konnte der Gesetzgeber mit Recht von einer vorläufigen Regelung absehen, solange die endgültige Rechtsgestaltung gerade in diesem Punkte noch völlig offen war. Angesichts dieser Unsicherheiten lassen sich gegen das Vorgehen des Gesetzgebers durchgreifende verfassungsrechtliche Einwendungen nicht erheben.
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Die strittige Übergangsbestimmung dient demnach dem gemeinen Wohl, indem sie sich dem legitimen Bestreben des Gesetzgebers einfügt, eine homogene Versichertengemeinschaft zu schaffen, der die von ihr aufgebrachten Mittel in voller Höhe auch wieder zugute kommen.
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9. Der Vertrauensschaden der seit dem 1. Januar 1956 der Selbstversicherung Beigetretenen hat bei der in der Sozialversicherung gebotenen generalisierenden Betrachtung, insbesondere angesichts der bisherigen kurzen Beitragszeit, kein erhebliches Gewicht.
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Die gezahlten Beiträge werden auf Antrag zurückerstattet. Für die Abschätzung des Vertrauensschadens kommt es also allein darauf an, ob sich der Versicherungswillige durch den Beitritt zur Sozialversicherung in seinen Dispositionen so sehr festgelegt hatte, daß er andere ihm zur Zeit des Beitritts offenstehende Möglichkeiten der Selbstvorsorge nicht mehr oder nur unter finanziell unzumutbar erhöhten Opfern ausnutzen könnte. Dabei kommt wiederum dem Zeitablauf eine entscheidende Bedeutung zu; denn die Wahrscheinlichkeit eines Vertrauensschadens wird ![]() ![]() | |
Nach der beanstandeten Gesetzesbestimmung waren vom Beitritt in die Selbstversicherung bis zur Verkündung der Neuregelungsgesetze im ungünstigsten Fall knapp 14 Monate verstrichen; meist wird eine erheblich kürzere Zeitspanne anzusetzen sein; im vorliegenden Fall sind es 2 Monate und 17 Tage. Von der Gefahr des Eintritts eines irgend beträchtlichen Vertrauensschadens in dem oben bezeichneten Sinne kann hiernach - auf die Gesamtheit der in Frage kommenden Selbstversicherungen bezogen - nicht ernstlich gesprochen werden. Bei einem Alter von weniger als 40 Jahren ist im Laufe von 14 Monaten in aller Regel nicht mit einer Gesundheitsverschlechterung zu rechnen, die eine Privatversicherung erschwert. Auch kann die Erhöhung der Versicherungsprämie durch den Ablauf von höchstens 14 Monaten nur unbedeutend sein; zudem kann der Versicherungspflichtige sie vermeiden, wenn er unter Zuhilfenahme der zurückerstatteten Sozialversicherungsbeiträge die Prämien der Privatversicherung für die Zeit seit Abschluß der Selbstversicherung nachzahlt. Das Bedürfnis nach einem Vertrauensschutz ist daher in der konkreten Lage nur sehr gering zu bewerten.
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10. Wenn der Gesetzgeber dem Allgemeininteresse gegenüber der Gefahr eines jedenfalls nur unbeträchtlichen Vertrauensschadens der erst kurzfristig Selbstversicherten den Vorrang eingeräumt hat, so liegt das im Rahmen seiner Gestaltungsfreiheit, auch wenn man in Rechnung stellt, daß viele der Selbstversicherten sozial schutzbedürftigen Schichten der Bevölkerung angehö ![]() ![]() | |
III.
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Art. 3 Abs. 1 GG ist ebenfalls nicht verletzt. Weder das vom Gesetzgeber gewählte Differenzierungsprinzip noch der konkrete Stichtag geben unter dem Blickwinkel des allgemeinen Gleichheitssatzes zu Beanstandungen Anlaß. Der Gesetzgeber hat bei dem Schutz des Besitzstandes der Selbstversicherten nach der Dauer der bisherigen Versicherungszugehörigkeit differenziert. Diese Differenzierung ist sachgerecht; denn bei kürzerer Zugehörigkeit zur Versichertengemeinschaft ist es eher vertretbar und angezeigt, die Fortführung der Selbstversicherung auszuschließen, als bei einer längeren Zugehörigkeit.
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Die Abgrenzung nach der Dauer des Versicherungsverhältnisses erfordert naturgemäß die Bestimmung eines Stichtags. Dabei sind in jedem Fall gewisse Härten unvermeidbar (vgl. BVerfGE 3, 58 [148]; 3, 288 [340]). Schon der Aufdruck der Jahreszahl auf den Beitragsmarken, aber auch die gesamte Organisation der Sozialversicherung legte es nahe, den Stichtag auf einen Jahresbeginn zu legen. Mit einer Festlegung auf den 1. Januar 1957, der nur wenige Wochen vor der Beschlußfassung des Bundestages lag, wäre dem Gesetzeszweck nicht gedient gewesen. Ein anderer Stichtag als der 1. Januar 1956, der nächste zurückliegende Jahresbeginn, kam praktisch nicht in Betracht. Der Gesetzgeber hat sich also bei der Differenzierung von sachgerechten Erwägungen leiten lassen.
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IV.
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Schließlich ist auch Art. 2 Abs. 1 GG nicht verletzt.
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Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist ein Verstoß gegen die Garantie der allgemeinen Handlungsfreiheit dann zu verneinen, wenn die zu prüfende Norm als Bestandteil der verfassungsmäßigen Ordnung angesehen werden kann, die jene Freiheit begrenzt. Die Frage, ob die Übergangsregelung für die Selbstversicherung in Art. 2 § 4 (§ 5) Abs. 1 Satz 1 ArVNG ![]() ![]() ![]() |