2. Die Bindung der Rechtsprechung an Recht und Gesetz (Art. 20 Abs. 3 GG) führt nicht dazu, daß das Bundesverfassungsgericht Gerichtsentscheidungen auf ihre Übereinstimmung mit einfachem Recht überprüft. Das Bundesverfassungsgericht greift erst ein, wenn die Begründung der Entscheidung eindeutig erkennen läßt, daß sich das Gericht aus der Rolle des Normanwenders in die einer normsetzenden Instanz begeben hat, also objektiv nicht bereit war, sich Recht und Gesetz zu unterwerfen.
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Beschluß | |
des Ersten Senats vom 3. November 1992
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-- 1 BvR 1243/88 -- | |
in dem Verfahren über die Verfassungsbeschwerde 1. des Rechtsanwalts P... - Bevollmächtigter: Rechtsanwalt Wolfgang Schrammen, Gerichtsstraße 3, Bielefeld 1-, 2. des Rechtsanwalts S... gegen a) den Beschluß des ![]() ![]() | |
Entscheidungsformel:
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Die Verfassungsbeschwerde des Beschwerdeführers zu 2) wird verworfen, die des Beschwerdeführers zu 1) wird zurückgewiesen.
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Gründe: | |
A. | |
Die beschwerdeführenden Rechtsanwälte wenden sich gegen die Versagung einer Erörterungsgebühr für die Wahrnehmung einer arbeitsgerichtlichen Güteverhandlung.
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1. Nach § 31 Abs. 1 Nr. 4 der Bundesrechtsanwaltsgebührenordnung (BRAGO) erhält der Rechtsanwalt eine volle Gebühr unter anderem "für die Erörterung der Sache, auch im Rahmen eines Versuchs zur gütlichen Beilegung (Erörterungsgebühr)". Entsteht in demselben Rechtszug hinsichtlich desselben Gegenstandes eine Verhandlungsgebühr (§ 31 Abs. 1 Nr. 2 BRAGO), so werden beide Gebühren aufeinander angerechnet (§ 31 Abs. 2 BRAGO). Die Regelung gilt sinngemäß auch für das arbeitsgerichtliche Verfahren (§ 62 Abs. 1 BRAGO). Die Erörterungsgebühr steht deswegen nach nahezu einhelliger Auffassung in Rechtsprechung und Literatur dem Rechtsanwalt für die Wahrnehmung des arbeitsgerichtlichen Gütetermins (§ 54 Arbeitsgerichtsgesetz -- ArbGG) zu. Dieser Meinung tritt die 8. Kammer des Landesarbeitsgerichts Hamm in ständiger Rechtsprechung entgegen. Auch in den angegriffenen Beschlüssen wird die Festsetzung einer Erörterungsgebühr abgelehnt.
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2. Die Erörterungsgebühr ist durch Gesetz vom 20. August 1975 (BGBl. I S. 2189) auf Vorschlag des Rechtsausschusses des Deutschen Bundestages eingeführt worden. Den Anstoß dazu hatte der Deutsche Anwaltverein gegeben. Er hatte in einer Stellungnahme zum Gesetzesvorhaben die "immer mehr um sich greifende Gerichtspraxis" beanstandet, daß "die Gerichte den Anwälten in zunehmendem Umfang zumuten, in dem zur mündlichen Verhand ![]() ![]() | |
Im Gesetzgebungsverfahren war die Höhe der Gebühr für den arbeitsgerichtlichen Gütetermin umstritten. Das Bundesarbeitsministerium und der Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung des Deutschen Bundestages hatten die Auffassung vertreten, dem Charakter und Zweck des arbeitsgerichtlichen Güteverfahrens entspreche eine halbe Gebühr. Der Rechtsausschuß hielt jedoch an der Einführung einer vollen Gebühr für die Erörterung der Sache fest. Im Ausschußbericht heißt es, durch die Streichung des § 62 Abs. 2 ArbGG werde erreicht, daß der Rechtsanwalt für die Güteverhandlung nach § 54 ArbGG eine volle Gebühr erhalte (BTDrucks. 7/3243, S. 9). Der Berichterstatter legte ergänzend dar, für eine angemessene Entschädigung der Arbeit des Prozeßbevollmächtigten reiche die Hälfte der regulären Verhandlungsgebühr im arbeitsgerichtlichen Güteverfahren nicht aus. Aus der Angleichung dieser Gebühr an die des § 31 Abs. 1 BRAGO dürfte ein verstärkter Anreiz zur Beilegung des Rechtsstreits im Güteverfahren erwartet werden mit der rechtspolitisch erwünschten Folge, daß dem rechtsuchenden Bürger künftig in vielen Fällen mehr als bisher die mit streitiger Fortsetzung des Rechtsstreits verbundenen weiteren Kosten erspart blieben (Protokoll der 152. Sitzung des Deutschen Bundestages -- 7. Wahlperiode -- vom 27. Februar 1975, S. 10592).
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3. Die beschwerdeführenden Rechtsanwälte waren Prozeßbevollmächtigte in einem Kündigungsschutzverfahren vor dem Arbeitsgericht. Der Beschwerdeführer zu 1) wurde dem Kläger im Wege der Prozeßkostenhilfe als Rechtsanwalt beigeordnet. Das Verfahren endete durch einen im Gütetermin nach Erörterung der Sach- und Rechtslage geschlossenen Vergleich.
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Auf Antrag des Beschwerdeführers zu 1) setzte der Urkundsbe ![]() ![]() | |
In mehreren veröffentlichten Entscheidungen hat das Landesarbeitsgericht Hamm seine Auffassung im wesentlichen wie folgt begründet: Der Gebührentatbestand in § 31 Abs. 1 Nr. 4 BRAGO sei unbestimmt und bedürfe deshalb einer einschränkenden Auslegung. Der Gesetzgeber habe die Erörterungsgebühr nur für die Fälle geschaffen, in denen nach der früheren Rechtslage eine Verhandlungsgebühr nicht habe entstehen können, weil die Gerichte eine Antragstellung vor Erörterung der Sach- und Rechtslage verhindert hätten. Dies treffe für die arbeitsgerichtliche Güteverhandlung nicht zu, die grundsätzlich nicht zur streitigen Verhandlung bestimmt sei. Für den arbeitsgerichtlichen Gütetermin passe der Gebührentatbestand des § 31 Abs. 1 Nr. 4 BRAGO auch nicht. Die anwaltliche Leistung im arbeitsgerichtlichen Gütetermin werde mit einer Erörterungsgebühr überbewertet. Der Arbeitsgerichtsprozeß diene wichtigen sozialpolitischen Zwecken. Dem prozeßbeteiligten Arbeitnehmer dürfe kein zu hohes Kostenrisiko aufgebürdet werden. Der Gesetzgeber sei zwar davon ausgegangen, daß mit der Streichung des früheren § 62 Abs. 2 BRAGO auch für die arbeitsgerichtliche Güteverhandlung eine volle Gebühr anfalle. Dies beruhe aber auf der irrigen Annahme, daß im Gütetermin überhaupt eine Verhandlungsgebühr entstehen könne (Beschlüsse vom 16. September 1976, ![]() ![]() | |
4. Mit ihrer Verfassungsbeschwerde rügen die Beschwerdeführer eine Verletzung ihrer Rechte aus Art. 1 Abs. 1, Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3, Art. 3 Abs. 1, Art. 12 Abs. 1, Art. 19 Abs. 4, Art. 101 Abs. 1 Satz 2 und Art. 103 Abs. 1 GG. Das Rechtsstaatsprinzip sei verletzt, weil der Ansatz der Erörterungsgebühr offensichtlich rechtsgrundlos verweigert werde. Die 8. Kammer des Landesarbeitsgerichts Hamm setze sich als einziges Arbeitsgericht über eine eindeutig entgegenstehende Sach- und Rechtslage hinweg. Der Beschwerdeführer zu 2) fühlt sich als Mitglied der Anwaltssozietät durch die angegriffenen Entscheidungen betroffen. Diese seien nicht vom gesetzlichen Richter erlassen worden, weil sie erkennbar gegen geltendes Recht verstießen.
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5. Zur Verfassungsbeschwerde hat sich nur die Bundesrechtsanwaltskammer geäußert. Sie hält die Verfassungsbeschwerde des Beschwerdeführers zu 2) für unzulässig, weil nicht er, sondern nur der Beschwerdeführer zu 1) beigeordnet gewesen sei. Dessen Verfassungsbeschwerde sei begründet, weil ihn der angegriffene Beschluß des Landesarbeitsgerichts in seinem Grundrecht aus Art. 3 Abs. 1 GG verletze. Das Gericht habe § 31 Abs. 1 Nr. 4 BRAGO willkürlich fehlerhaft angewendet. Die Begründung sei unter keinem rechtlichen Gesichtspunkt vertretbar. Sie widerspreche dem vom Gesetzgeber verfolgten Zweck, für jede gerichtliche Erörterung -- auch in der Güteverhandlung vor dem Arbeitsgericht -- die Erörterungsgebühr anfallen zu lassen. Für die Auffassung des Landesarbeitsgerichts gebe es im Gesetz keinen Anhaltspunkt.
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Die Verfassungsbeschwerde des Beschwerdeführers zu 2) ist unzulässig. Er wird durch die angegriffenen Entscheidungen nicht beschwert, weil nur der Beschwerdeführer zu 1) beigeordnet war. Aus dem Sozietätsverhältnis kann er keine eigene Beschwer herleiten. ![]() | |
1. Die Verfassungsbeschwerde des Beschwerdeführers zu 1) ist zulässig, soweit er vorträgt, die den angegriffenen Entscheidungen zugrundeliegende Rechtsauffassung finde im Gesetz keine Stütze. Dieses Vorbringen läßt eine Verletzung von Art. 3 Abs. 1 GG und Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG) als möglich erscheinen.
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Weitere Grundrechtsverletzungen hat der Beschwerdeführer zu 1) nicht hinreichend substantiiert geltend gemacht. Inwiefern sein Anspruch auf rechtliches Gehör durch die angegriffenen Entscheidungen verletzt sein soll, läßt sich der Beschwerdeschrift nicht entnehmen. Seine Rüge, die Begründung sei floskelhaft und inhaltslos, ergibt nicht, daß konkretes Vorbringen des Beschwerdeführers übergangen worden wäre. Eine Verletzung des Rechts auf den gesetzlichen Richter (Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG) kann nicht mit der Behauptung gerügt werden, das Gericht habe offensichtlich fehlerhaft entschieden.
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a) Die angegriffenen Entscheidungen verstoßen nicht gegen Art. 3 Abs. 1 GG.
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Abweichende Auslegungen derselben Norm durch verschiedene Gerichte verletzen das Gleichbehandlungsgebot nicht. Richter sind unabhängig und nur dem Gesetz unterworfen (Art. 97 Abs. 1 GG). Ein Gericht braucht deswegen bei der Auslegung und Anwendung von Normen einer vorherrschenden Meinung nicht zu folgen. Es ist selbst dann nicht gehindert, eine eigene Rechtsauffassung zu vertreten und seinen Entscheidungen zugrunde zu legen, wenn alle anderen Gerichte -- auch die im Rechtszug übergeordneten -- den gegenteiligen Standpunkt einnehmen. Die Rechtspflege ist wegen der Unabhängigkeit der Richter konstitutionell uneinheitlich (BVerfGE 78, 123 [126]).
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Ebensowenig verletzen die angegriffenen Entscheidungen den allgemeinen Gleichheitssatz in seiner Bedeutung als Willkürverbot. Willkürlich ist ein Richterspruch nur dann, wenn er unter keinem denkbaren Aspekt rechtlich vertretbar ist und sich daher der Schluß ![]() ![]() | |
Die angegriffenen Entscheidungen sind danach nicht willkürlich. Sie verweisen zu ihrer Begründung auf die ständige Rechtsprechung des Landesarbeitsgerichts Hamm. Das ist keine inhaltsleere Floskel, wie der Beschwerdeführer meint, sondern ein zum Verständnis ausreichender Hinweis auf eine Reihe von veröffentlichten Beschlüssen, in denen der Standpunkt des Gerichts ausführlich dargelegt wird. Das Gericht geht von einer kritischen Würdigung des Gesetzeswortlauts aus, erörtert eingehend die Entstehungsgeschichte des § 31 Abs. 1 Nr. 4 BRAGO und zieht Konsequenzen aus der sozialen Funktion des Arbeitsgerichtsprozesses für den objektiven Gehalt der Norm. Die Gesetzgebungsmaterialien werden ausgewertet. Mit den in der Literatur gegen seine Auffassung erhobenen Einwänden setzt sich das Gericht auseinander.
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b) Ein Verstoß gegen die Bindung des Richters an Recht und Gesetz (Art. 20 Abs. 3 GG), der zu einer Verletzung der allgemeinen Handlungsfreiheit des Beschwerdeführers (Art. 2 Abs. 1 GG) führen könnte, liegt ebenfalls nicht vor.
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Nach Art. 20 Abs. 3 GG ist die Rechtsprechung an Recht und Gesetz gebunden. Grundgesetz, Gerichtsverfassung und Prozeßordnungen sichern die Gesetzesbindung ab und treffen zugleich Vorsorge gegen richterliche Fehlentscheidungen.
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Das Grundgesetz setzt diese Ordnung voraus. Es hat dem Bundesverfassungsgericht nicht die Aufgabe übertragen, Gerichtsentscheidungen auf ihre Übereinstimmung mit einfachem Recht in ![]() ![]() | |
Ein solcher Fall liegt hier nicht vor. Die angegriffenen Entscheidungen fußen auf einer Spruchpraxis des Landesarbeitsgerichts, die erkennbar um eine zutreffende Auslegung des § 31 Abs. 1 Nr. 4 BRAGO bemüht bleibt. Die dagegen von den Beschwerdeführern erhobenen Einwände sind zwar gewichtig. Die an der Kostenrechtsprechung des Landesarbeitsgerichts in der Fachliteratur geäußerte Kritik leuchtet ein. Manches deutet darauf hin, daß die Spruchpraxis des Gerichts von eigenen rechtspolitischen Überzeugungen beeinflußt ist. Doch reichen diese Anhaltspunkte für die Feststellung, daß es sich über seine Bindung an Recht und Gesetz hinweggesetzt und das Gesetz nicht angewendet, sondern in Wahrheit seinen Inhalt verändert hat, noch nicht aus.
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Das Landesarbeitsgericht geht davon aus, daß der Gebührentatbestand des § 31 Abs. 1 Nr. 4 BRAGO unbestimmt ist und einer einschränkenden Auslegung bedarf. Der Begriff "Erörterung der Sache" ist gewiß auslegungsbedürftig. Ob sich daraus offene Auslegungsfragen hinsichtlich der Rechtsfolgen einer Erörterung im arbeitsrechtlichen Gütetermin ergeben, bleibt allerdings zweifelhaft. Seine Auffassung, daß eine Erörterungsgebühr durch die Wahrnehmung eines arbeitsgerichtlichen Gütetermins im allgemeinen nicht entstehen kann, begründet das Landesarbeitsgericht vor allem mit der Entstehungsgeschichte dieser Norm. Der federführende Rechtsausschuß habe mit der Erörterungsgebühr nur die von der Anwaltschaft beklagte Praxis der Gerichte unterbinden wollen, ![]() ![]() ![]() ![]() | |