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Bearbeitung, zuletzt am 16.03.2020, durch: A. Tschentscher | |||
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2. Zur verfassungsrechtlichen Beurteilung von Imagewerbung mit gesellschaftskritischen Themen (Benetton-Werbung). |
Urteil |
des Ersten Senats vom 12. Dezember 2000 aufgrund der mündlichen Verhandlung vom 8. November 2000 |
-- 1 BvR 1762/95 , 1 BvR 1787/95 -- |
in den Verfahren über die Verfassungsbeschwerden der G... AG & Co. KG -- Bevollmächtigter: Professor Dr. Gunnar Folke Schuppert, Unter den Linden 6, Berlin -- gegen a) das Urteil des Bundesgerichtshofs vom 6. Juli 1995 -- 1 BvR 1762/95 --, b) das Urteil des Bundesgerichtshofs vom 6. Juli 1995 -- I ZR 110/93 -- 1 BvR 1762/95 -. |
Entscheidungsformel: |
Die Urteile des Bundesgerichtshofs vom 6. Juli 1995 - I ZR 180/94 und I ZR 110/93 - verletzen die Beschwerdeführerin in ihrem Grundrecht aus Artikel 5 Absatz 1 Satz 2 erste Alternative des Grundgesetzes. Sie werden aufgehoben. |
Die Sachen werden an den Bundesgerichtshof zurückverwiesen. |
Die Bundesrepublik Deutschland hat der Beschwerdeführerin die notwendigen Auslagen zu erstatten. |
Gründe: | |
A. | |
Die Beschwerdeführerin, ein Presseunternehmen, wendet sich mit den Verfassungsbeschwerden gegen zwei Urteile des Bundesgerichtshofs, durch die ihr die Veröffentlichung von Werbeanzeigen der Firma Benetton wegen eines Verstoßes gegen die guten Sitten (§ 1 des Gesetzes gegen den unlauteren Wettbewerb; im Folgenden: UWG) untersagt wird.
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I. | |
In der von der Beschwerdeführerin herausgegebenen Illustrierten "Stern" wurden drei Anzeigen der Firma Benetton veröffentlicht, die weltweit Textilien vertreibt. Eine Anzeige zeigt eine auf einem ![]() ![]() | 2 |
Die Zentrale zur Bekämpfung unlauteren Wettbewerbs e.V. forderte die Beschwerdeführerin auf, die Veröffentlichung dieser Anzeigen zu unterlassen, und rief, als diese ablehnte, die Gerichte an. Das Landgericht gab den Klagen statt. Die Sprungrevisionen der Beschwerdeführerin blieben beim Bundesgerichtshof ohne Erfolg. Die Firma Benetton selbst hatte sich gegen eine entsprechende Abmahnung ebenfalls vergeblich vor den Zivilgerichten gewehrt (vgl. BGHZ 130, 196), hat aber keine Verfassungsbeschwerde eingelegt.
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II. | |
Der Bundesgerichtshof begründet die angegriffenen Entscheidungen wie folgt:
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1. Bei den beiden ersten Anzeigen (ölverschmutzte Ente, Kinderarbeit) handele es sich aufgrund ihrer bekanntheitssteigernden Werbewirkung um eine § 1 UWG unterliegende Wettbewerbshandlung. Der Vorwurf der Sittenwidrigkeit liege im Kern darin begründet, dass das werbende Unternehmen mit der auf sie selbst hinweisenden Darstellung von Elend bei einem nicht unerheblichen Teil der Verbraucher Gefühle des Mitleids und der Ohnmacht wecke, sich dabei als gleichermaßen betroffen darstelle und damit eine Solidarisierung der Einstellung solchermaßen berührter Verbraucher mit dem Namen und zugleich mit der Geschäftstätigkeit ihres Unternehmens herbeiführe. Wer im geschäftlichen Verkehr mit der Darstellung schweren Leids von Menschen oder Tieren Gefühle des Mitleids ohne sachliche Veranlassung zu Wettbewerbszwecken ausnutze, verlasse, auch bei produktunabhängigen Werbemaßnahmen, die guten Sitten im Wettbewerb. ![]() | 5 |
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Einem Gewerbetreibenden stehe wie jedermann das Recht zu, sich zum Elend der Welt frei zu äußern und darüber zu informieren. Dabei seien aber die Gesetze zum Schutz des lauteren Wettbewerbs zu beachten, die im Lichte der Grundrechte auszulegen seien. Die Meinungsäußerung eines Gewerbetreibenden liege nicht schon deshalb außerhalb des Schutzbereichs von Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG, weil sie Wettbewerbszwecken diene. Habe sie wirtschaftliche, politische, soziale und kulturelle Probleme zum Gegenstand, denen in der öffentlichen Auseinandersetzung ein nicht unerheblicher Stellenwert zugemessen werde, so sei im Rahmen der Anwendung des § 1 UWG in eine Abwägung der wechselseitigen Rechtsgüter - Lauterkeit des Wettbewerbs einerseits, Meinungsäußerungsfreiheit andererseits - einzutreten.
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Gewerbetreibende dürften öffentlich zu gesellschaftlich bedeutsamen Ereignissen Stellung nehmen, um ihre Bekanntheit oder ihr Ansehen im geschäftlichen Interesse zu steigern. Wettbewerbsrechtlich könne ein solches Verhalten grundsätzlich nicht beanstandet werden. Anders falle die wettbewerbsrechtliche Beurteilung jedoch aus, wenn die öffentliche Äußerung zur Auseinandersetzung über das aufgezeigte Thema nichts Wesentliches beitrage, sondern nur darauf abziele, beim Verbraucher eine mit dem werbenden Unternehmen solidarisierende Gefühlslage zu schaffen, die der Steigerung des Ansehens des Unternehmens diene und damit letztlich zu kommerziellen Zwecken eingesetzt werde. So verhalte es sich im ![]() ![]() | 8 |
Mit der Veröffentlichung der Anzeigen habe die Beschwerdeführerin selbst eine Wettbewerbshandlung vorgenommen. Erfahrungsgemäß mache sich ein Presseunternehmen gesellschaftskritische oder politische Botschaften in Werbeanzeigen nicht zu Eigen. Deren Inhalt werde daher nicht zum maßgeblichen, die Wettbewerbsförderungsabsicht verdrängenden Beweggrund der Veröffentlichung. Zwar hafte das publizierende Unternehmen im Interesse der Pressefreiheit nur bei grob und erkennbar wettbewerbswidrigen Werbemaßnahmen, um die es hier nicht gehe. Das Unterlassungsgebot sei jedoch nach den Grundsätzen der Erstbegehungsgefahr begründet. Eine Erstbegehungsgefahr bestehe, weil das Unternehmen sich trotz einer dem Unterlassungsbegehren entsprechenden einstweiligen Verfügung des Landgerichts im Rechtsstreit weiterhin berühme, die beanstandete Wettbewerbshandlung vornehmen zu dürfen, ohne dabei deutlich zu machen, dass dies nur zum Zwecke der Verteidigung im laufenden Prozess geschehe.
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2. In seinem Urteil zu der dritten Anzeige (H.I.V. POSITIVE) bekräftigt der Bundesgerichtshof die vorstehenden Grundsätze zur Auslegung des § 1 UWG und fügt ergänzend hinzu, im vorliegenden Streitfall nutze die Werbeanzeige nicht nur Mitleidsgefühle aus, sondern verstoße in grober Weise gegen die Grundsätze der Wahrung der Menschenwürde, indem sie den AIDS-Kranken als "abgestempelt" und ausgegrenzt darstelle. Eine derartige Werbung lasse sich nicht mehr als eine nur geschmacklose Werbung klassifizieren, die als solche von den Gerichten nicht beanstandet werden könnte. Sie müsse mindestens von Personen, die selber H.I.V.-positiv seien, als grob anstößig und ihre Menschenwürde verletzend angesehen werden. Dieser Wirkung könne sich auch ein mit der AIDS-Krankheit oder AIDS-Kranken nicht konfrontierter Betrachter nicht entziehen. Einer Abstumpfung gegen die Diskriminierung leidgeplagter Menschen und einer aufkeimenden Mentalität des "Abstem ![]() ![]() | 10 |
Da die Tragweite des Wettbewerbsverstoßes ohne weiteres erkennbar gewesen sei, sei es auch nicht zu beanstanden, dass das Landgericht aus der Missachtung der Verpflichtung, die Werbeanzeige nicht zu veröffentlichen, eine Haftung der Beschwerdeführerin hergeleitet habe.
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III. | |
Mit ihren Verfassungsbeschwerden rügt die Beschwerdeführerin eine Verletzung von Art. 5 Abs. 1 Satz 1 und 2 GG durch die Revisionsurteile.
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1. Im Verfahren 1 BvR 1787/95 (ölverschmutzte Ente und Kinderarbeit) trägt die Beschwerdeführerin vor, das angegriffene Urteil beeinträchtige die Presse- und Meinungsfreiheit der Beschwerdeführerin nachhaltig und entfalte Einschüchterungseffekte. Es beruhe auf einer grundsätzlich unrichtigen Anschauung von der Bedeutung des Art. 5 GG, indem es einer Äußerung mit offensichtlich politisch-sozialem Gehalt und hoher Gemeinwohlaktualität wegen ihres kommerziellen Zwecks den Schutz dieses Grundrechts nicht zubillige und einer Abwägung mit kollidierenden Rechtsgütern nicht zugänglich mache.
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Die untersagte Betätigung liege im Schutzbereich sowohl der Presse- als auch der Meinungsfreiheit. Beurteilungsmaßstab sei im Hinblick auf den Inhalt der von der Firma Benetton gestalteten Anzeige die Meinungsfreiheit, infolge der pressemäßigen Verarbeitung durch die Beschwerdeführerin aber zugleich die Pressefreiheit. Letztere schütze auch die Verbreitung von Werbeaussagen und Abbildungen in Anzeigen, und zwar sowohl wegen ihres kommunikativen Inhalts als auch wegen ihrer wirtschaftlichen Bedeutung für die Presse.
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Der Eingriff sei rechtswidrig, weil der Bundesgerichtshof den Werbezweck der Anzeige derart gewichte, dass der politisch-soziale ![]() ![]() | 15 |
Für die ersten beiden Anzeigen seien Fotos von realem Geschehen und aktueller Thematik verwendet worden. Diese Themen würden auch von anderen Personen und Organisationen - zum Teil ebenfalls im Zusammenhang mit kommerziellen Interessen - aufgegriffen. Der Inhaber der Firma Benetton habe zu seinen Intentionen erklärt: "Das... Konzept beruht darauf, dass wir als privates Unternehmen Fragen aufgreifen, die sonst von den jeweiligen Staaten oder Gesellschaften behandelt werden. Rassismus, Krieg, AIDS lassen die Menschen nicht indifferent". Diese Aussage gewinne zusätzliche Plausibilität, wenn bedacht werde, dass Benetton nicht nur erfolgreicher Geschäftsmann sei, sondern zugleich aktiv als Politiker wirke.
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Auch unter Berücksichtigung des Wandels der Werbung in der modernen Medien- und Freizeitgesellschaft könne der Charakter einer Anzeige als Beitrag zur öffentlichen Meinungsbildung nicht bereits aufgrund des anzeigentypischen Werbezwecks verneint werden. In vielen Bereichen habe eine Vernetzung der Freizeitgesellschaft mit der Wirtschaftskommunikation stattgefunden. Die Werbung nutze das Interesse des Publikums an Themen, die keinen Produktbezug hätten. Der Grundrechtsschutz der kommunikativen Gehalte werde durch den eigennützigen Zweck nicht gemindert.
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Auch bei der Konkretisierung des § 1 UWG habe der Bundesgerichtshof die Bedeutung des Art. 5 Abs. 1 GG verkannt. § 1 UWG ![]() ![]() | 18 |
Die Erwägungen des Bundesgerichtshofs ließen den Bezug zu einem wettbewerbsbezogenen Schutzgut oder zur Gefährdung der Funktionsbedingungen des Wettbewerbs vermissen. Welcher gesetzlich oder verfassungsrechtlich legitimierte Zweck verfolgt werde, bleibe unklar. Der vorliegende Sachverhalt passe auch zu keiner der bisher zu § 1 UWG entwickelten Fallgruppen. Er sei mangels eines funktionalen Zusammenhangs zwischen den erzeugten Gefühlen und der Verbraucherentscheidung insbesondere nicht der gefühlsbetonten Werbung zuzuordnen. Werde die Generalklausel in einer solchen Situation angewandt, so treffe sie der Vorwurf mangelnder Bestimmtheit.
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Gefühlsbetonte Werbung sei als solche jedoch keineswegs wettbewerbswidrig. Moderne Werbung transportiere und nutze Lebensgefühle, Statuswünsche und Phantasien, entwerfe Lebenswelten, Genuss- und Illusionswerte. Sie verzichte häufig auf einen Produktbezug und ziele auf einen Übertragungseffekt zwischen einem Lebensgefühl und dem Firmen- beziehungsweise Markennamen ab. In Kampagnen würden Themen mit Gemeinwohlbezug aufgegriffen, um Aufmerksamkeit und Sympathien auf das Unternehmen zu lenken. Eine solche Vorgehensweise habe die Firma Benetton zum Kernelement ihrer Werbekampagne gemacht. Allerdings gehe es dabei nicht wie sonst um eine Flucht aus der Realität durch Verweis ![]() ![]() | 20 |
Schließlich habe der Bundesgerichtshof die Pressefreiheit auch durch die Annahme einer Erstbegehungsgefahr verletzt. Das Presseprivileg dürfe nicht allein deshalb versagt werden, weil die Vorinstanz bereits die Wettbewerbswidrigkeit der Anzeigen bejaht habe. Jedenfalls in neuartigen und umstrittenen Fällen wie dem vorliegenden lasse sich daraus die Wettbewerbswidrigkeit nicht mit hinreichender Sicherheit entnehmen. Wenn der Bundesgerichtshof anstelle einer Prüfung der Erkennbarkeit im Einzelfall die Erstbegehungsgefahr in solchen Fällen allgemein fingiere, so sei dies ein nicht erforderlicher Eingriff in Art. 5 GG. Der Eingriff sei unangemessen, da er eine Obliegenheit zur Abgabe einer überzeugungswidrigen Erklärung begründe. Insoweit liege auch ein verfassungswidriger Eingriff in die durch Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG geschützte negative Kommunikationsfreiheit vor.
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2. Im Verfahren 1 BvR 1762/95 (H.I.V. POSITIVE) führt die Beschwerdeführerin ergänzend aus, das Foto mache auf ein politisch-soziales Problem der realen Welt aufmerksam, nämlich die Situation der H.I.V.-Infizierten. Der aus dem Namen des Unternehmens ersichtliche Werbezweck trete hinter das eindringliche Bild zurück.
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Der Bundesgerichtshof verletze die Beschwerdeführerin in ihren Rechten aus Art. 5 Abs. 1 GG auch dadurch, dass er einen Verstoß gegen die Menschenwürde annehme und darauf die Pressehaftung der Beschwerdeführerin stütze. Er benutze den Begriff der Menschenwürde, ohne seinen Gehalt in einsichtiger Weise zu erläutern, und vermische bei der Konkretisierung empirische und normative Elemente. Die kritische Reaktion eines französischen AIDS-Kranken könne angesichts durchaus auch positiver Reaktionen anderer ![]() ![]() | 23 |
Der Bundesgerichtshof belege nicht, dass die Betroffenen durch die Anzeige in menschenverachtender Weise zum bloßen Objekt oder Instrument der Verfolgung kommerzieller Interessen gemacht würden. Dass die Darstellung für sich genommen - also ungeachtet der Firmenbenennung - gegen die Menschenwürde verstoße, habe der Bundesgerichtshof nicht ausgeführt. Allein durch den Hinweis auf das werbende Unternehmen könne ein solcher Verstoß nicht begründet werden. Durch die Verknüpfung des aufrüttelnden Bildes mit einem Werbezweck werde die soziale Stigmatisierung der Gruppe der AIDS-Kranken nicht verstärkt.
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Der Anzeige könne eine Deutung gegeben werden, bei der eine Verletzung der Menschenwürde ausscheide. Ein Bild dieses Typs könne verwendet werden, um auf die Situation der vom H.I.V.-Virus Betroffenen öffentlich aufmerksam zu machen. Eine solche Deutung der Anzeige in einem für die Betroffenen positiven Sinne entfalle nicht schon deshalb, weil die Anzeige zugleich für Werbezwecke eingesetzt werde.
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IV. | |
Zu den Verfassungsbeschwerden haben sich - schriftlich und in der mündlichen Verhandlung - geäußert: der Kläger des Ausgangsverfahrens, das Bundeskartellamt, die Deutsche Vereinigung für gewerblichen Rechtsschutz und Urheberrecht e.V., der Deutsche Industrie- und Handelstag, der Zentralverband der Deutschen Werbewirtschaft ZAW e.V. sowie die Arbeitsgemeinschaft der Verbraucherverbände e.V. Das Bundesministerium der Justiz hat namens der Bundesregierung von einer Stellungnahme abgesehen.
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1. Der Kläger des Ausgangsverfahrens hält die Verfassungsbeschwerden für unbegründet. Die Werbung der Firma Benetton widerspreche dem Leitbild des Leistungswettbewerbs, indem sie das dargestellte Leid und die beim Betrachter zwangsläufig provozierte Aufmerksamkeit ausnutze, um den Firmennamen bekannt zu machen. Die Anzeigen stellten aufgrund ihrer psychischen Wirkungen Eingriffe in die Privatsphäre der Beworbenen dar. Die Anzeige ![]() ![]() | 27 |
In den letzten Jahrzehnten habe keine Werbung so viele Beschwerden ausgelöst wie die Benetton-Werbung, die auch von den Zivilgerichten einmütig untersagt worden sei. Alle Motive dieser Werbung, die Tabu-Bereiche berührten, seien mit Erfolg beanstandet worden.
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2. Das Bundeskartellamt meint, eine Überspannung des Unlauterkeitsbegriffs könne zur Folge haben, dass die Wettbewerbsfreiheit über Gebühr eingeengt werde. Die Werbung habe eine wichtige Funktion im Rahmen der Offenhaltung der Märkte. Die bloße Neuheit eines Anzeigenmotivs dürfe bei der Beurteilung ihrer wettbewerbsrechtlichen Zulässigkeit nicht zu Lasten des Werbenden gehen. Nicht unproblematisch sei es, Imagewerbung per se einer strengeren Beurteilung zu unterwerfen als produktbezogene. Für Bekleidung im unteren bis mittleren Preissegment sei Imagewerbung nahe liegend und werde durch die Tendenz zu europa- oder weltweiten Vermarktungsstrategien begünstigt.
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Bei der Würdigung des Umstands, dass Gefühle angesprochen werden sollten, müsse die Rolle des Verbrauchers berücksichtigt werden. Welche Kriterien für seine Auswahlentscheidung relevant seien, solle zunächst ihm selbst überlassen bleiben. Ein Zusatznutzen könne in einem dem Produkt beigegebenen Image liegen. Im Rahmen seiner Kaufentscheidung treffe der Verbraucher auch eine inhaltliche Bewertung der in der Werbung geäußerten Positionen des anbietenden Unternehmens.
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3. Die Deutsche Vereinigung für gewerblichen Rechtsschutz und Urheberrecht e.V. trägt vor, bei der Anwendung des § 1 UWG sei zwischen der Wertigkeit des Grundrechts, hier der Meinungsfreiheit, und den Schutzzwecken des UWG abzuwägen.
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Die schockierende Werbung der Firma Benetton weise die Besonderheit auf, dass die dem Verbraucher gezeigten Bilder diesen nicht unmittelbar für die Wahl eines beworbenen Produkts motivierten. Eine solche Werbung wolle, losgelöst vom angebotenen Erzeugnis, ![]() ![]() | 32 |
4. Der Deutsche Industrie- und Handelstag hält die Verfassungsbeschwerden für unbegründet. Zwar genössen auch Äußerungen zu Zwecken des Wettbewerbs und der Werbung grundsätzlich den unverkürzten Schutz der Meinungsfreiheit. Bei der rechtlichen Beurteilung im Rahmen des § 1 UWG sei aber eine Abwägung der widerstreitenden Interessen erforderlich. Die Abwägung des Bundesgerichtshofs sei aus verfassungsrechtlicher Sicht nicht zu beanstanden. Reichweite und Schutzwürdigkeit der Meinungsfreiheit könnten von den Motiven und Begleitumständen der streitigen Äußerung nicht unbeeinflusst bleiben. Wer die Kundgabe seiner angeblichen Überzeugung in erster Linie zu kommerziellen Zwecken einsetze, gebe unwiderleglich zu erkennen, dass es ihm nicht nur um eine freie Äußerung seiner Meinung, sondern auch um die Beeinflussung der wettbewerblichen Verhältnisse gehe. Er habe dann eine stärkere Einschränkung der Meinungsfreiheit in Kauf zu nehmen als bei einer rein ideellen Meinungsäußerung.
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Im Fall "H.I.V. POSITIVE" habe der Bundesgerichtshof zutreffend einen Verstoß gegen die Menschenwürde von AIDS-Kranken angenommen. Das Leid H.I.V.-Infizierter werde zum bloßen Vehikel für die Förderung kommerzieller Interessen benutzt. Damit werde der betroffene Personenkreis zum Objekt werblichen Handelns herabgewürdigt. An dieser Würdigung ändere auch die Behauptung der Beschwerdeführerin nichts, dass die Werbeanzeige ![]() ![]() | 34 |
5. Der Zentralverband der Deutschen Werbewirtschaft ZAW e.V. teilt mit, über das von der Firma Benetton veröffentlichte Anzeigenmotiv "H.I.V. POSITIVE" hätten sich beim Deutschen Werberat 289 Personen beschwert. Dies sei mit Abstand die höchste Zahl von Beschwerden, die den Deutschen Werberat seit seiner Gründung im Jahre 1972 in Bezug auf eine einzelne Werbemaßnahme erreicht hätten. Weitere acht Beanstandungen richteten sich gegen die Abbildung der "ölverschmutzten Ente".
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Der Deutsche Werberat habe eindringlich zur Rücksichtnahme auf die Interessen und Gefühle anderer auch in der Werbung aufgerufen. Dem widerspreche das Ausbeuten von menschlichem Elend und Leid für kommerzielle Zwecke. Durch den Ausschluss extremer Emotionalisierung in der Wirtschaftswerbung würden Wettbewerber und Konsumenten gleichermaßen geschützt. Das Recht der Unternehmen, zu politischen und gesellschaftlichen Vorgängen Stellung zu nehmen, werde beim Missbrauch für betriebswirtschaftliche Zwecke verwirkt.
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6. Die Arbeitsgemeinschaft der Verbraucherverbände e.V. meint, wer Werbeaussagen oder Darstellungen verbreite, die keinerlei Bezug zu Leistungen des werbenden Unternehmens hätten, entferne sich so weit von dem Gedanken des Leistungswettbewerbs, dass an die Beurteilung der Sittenwidrigkeit strengere Maßstäbe angelegt werden müssten. Wenn nur die Aufmerksamkeit des Verbrauchers auf ein Unternehmen gelenkt werden solle, verböten sich drastische, anstößige Darstellungen und Formulierungen. Als Leitmotiv müsse der Grundsatz gelten, dass mit dem Leid anderer keine Geschäfte gemacht werden sollten.
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B. | |
Die Verfassungsbeschwerden sind begründet. Die beiden von der Beschwerdeführerin angegriffenen Urteile des Bundesgerichtshofs verletzen sie in ihrer durch Art. 5 Abs. 1 Satz 2 erste Alternative GG gewährleisteten Pressefreiheit. ![]() | 38 |
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1. Der Schutzbereich der Pressefreiheit umfasst den gesamten Inhalt eines Presseorgans, darunter auch Werbeanzeigen (vgl. BVerfGE 21, 271 [278 f.]; 64, 108 [114]). Soweit Meinungsäußerungen Dritter, die den Schutz des Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG genießen, in einem Presseorgan veröffentlicht werden, schließt die Pressefreiheit diesen Schutz mit ein: Einem Presseorgan darf die Veröffentlichung einer fremden Meinungsäußerung nicht verboten werden, wenn dem Meinungsträger selbst ihre Äußerung und Verbreitung zu gestatten ist. In diesem Umfang kann sich das Presseunternehmen auf eine Verletzung der Meinungsfreiheit Dritter in einer gerichtlichen Auseinandersetzung berufen. Das gilt auch in einem Zivilrechtsstreit über wettbewerbsrechtliche Unterlassungsansprüche.
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Der - hier in den Schutz der Pressefreiheit eingebettete - Schutz des Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG erstreckt sich auch auf kommerzielle Meinungsäußerungen sowie reine Wirtschaftswerbung, die einen wertenden, meinungsbildenden Inhalt hat (vgl. BVerfGE 71, 162 [175]). Soweit eine Meinungsäußerung - eine Ansicht, ein Werturteil oder eine bestimmte Anschauung - in einem Bild zum Ausdruck kommt, fällt auch dieses in den Schutzbereich von Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG (vgl. BVerfGE 30, 336 [352]; 71, 162 [175]).
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Alle drei streitigen Werbefotos entsprechen diesen Voraussetzungen. Sie veranschaulichen allgemeine Missstände (Umweltverschmutzung, Kinderarbeit, Ausgrenzung von H.I.V.-Infizierten) und enthalten damit zugleich ein (Un-)Werturteil zu gesellschaftlich und politisch relevanten Fragen. Es sind sprechende Bilder mit meinungsbildendem Inhalt. Davon gehen auch die angegriffenen Urteile aus, wenn in ihnen ausgeführt wird, die Anzeigen prangerten das Elend der Welt an. Meinungsäußerungen, die dies bezwecken und damit die Aufmerksamkeit des Bürgers auf allgemeine Missstände lenken, genießen den Schutz des Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG in besonderem Maße (vgl. BVerfGE 28, 191 [202]).
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Daran ändert es nichts, dass die Firma Benetton die genannten Themen im Rahmen einer reinen Imagewerbung aufgreift, auf jeden Kommentar verzichtet und sich nur durch das Firmenlogo zu erkennen gibt. Dadurch kann zwar der Eindruck entstehen, dass es dem ![]() ![]() | 42 |
2. Das in den angegriffenen Urteilen bestätigte Verbot, die umstrittenen Anzeigen der Firma Benetton in der illustrierten Wochenzeitschrift "Stern" erneut abzudrucken, schränkt die Beschwerdeführerin in ihrer Pressefreiheit ein. Da das Verbot mit der Androhung eines Ordnungsgeldes in Höhe von bis zu 500.000 DM - ersatzweise Ordnungshaft - oder Ordnungshaft von sechs Monaten für den Fall eines Verstoßes verbunden ist, ist sie faktisch an einer künftigen Veröffentlichung dieser Anzeigen gehindert.
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3. Dieses Verbot ist verfassungsrechtlich nicht gerechtfertigt.
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a) § 1 UWG, auf den der Bundesgerichtshof das Veröffentlichungsverbot stützt, ist ein allgemeines Gesetz im Sinne des Art. 5 Abs. 2 GG (vgl. BVerfGE 62, 230 [245]; 85, 248 [263]). Es dient dem Schutz der Konkurrenten, der Verbraucher und sonstigen Marktbeteiligten sowie der Allgemeinheit (vgl. Baumbach/Hefermehl, Wettbewerbsrecht, 21. Aufl. 1999, UWG Einl., Rn. 42, 51, 55; Emmerich, Das Recht des unlauteren Wettbewerbs, 5. Aufl. 1998, S. 13). Die Freiheit der wirtschaftlichen Betätigung darf nicht dazu führen, dass Einzelne sich durch unzulässige Praktiken Vorteile im Wettbewerb verschaffen. Diese Ziele stehen mit der Wertordnung des Grundgesetzes in Einklang (vgl. BVerfGE 32, 311 [316]).
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b) Soweit die Beschwerdeführerin rügt, § 1 UWG sei nicht bestimmt genug oder einer Auslegung für Fälle der vorliegenden Art von vornherein nicht zugänglich, kann dem nicht gefolgt werden. ![]() | 46 |
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c) Ebenso wenig greifen die von der Beschwerdeführerin im Verfahren 1 BvR 1787/95 dagegen erhobenen Bedenken durch, dass sie zur Unterlassung einer künftigen Veröffentlichung der beiden Anzeigen verpflichtet wurde, weil sie deren wettbewerbsrechtliche Unbedenklichkeit bis zum Abschluss des Verfahrens geltend gemacht und sich insoweit des Rechts berühmt hat, sie auch künftig zu veröffentlichen. Die Beschwerdeführerin sieht darin eine Verletzung ihrer Pressefreiheit, weil ihr damit auch in Zweifelsfällen eine Unterwerfung unter die Rechtsansicht des Prozessgegners beziehungsweise der Vorinstanz auferlegt werde.
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Durch die Herleitung einer "Erstbegehungsgefahr" aus dem prozessualen Verhalten des Presseunternehmens wird die Pressefreiheit nicht verletzt. Die Anwendung dieser zu § 1004 BGB entwickelten Lehre trägt in Fällen der vorliegenden Art dem Umstand Rechnung, dass Presseunternehmen Anzeigen nur auf grobe Wettbewerbsverstöße hin zu prüfen brauchen. Mit dieser Beschränkung der Prüfungspflicht nimmt die Rechtsprechung auf die pressespezi ![]() ![]() | 49 |
d) Mit Erfolg macht die Beschwerdeführerin jedoch geltend, der Bundesgerichtshof habe bei seiner wettbewerbsrechtlichen Bewertung der Anzeigen Bedeutung und Tragweite der Meinungsfreiheit verkannt.
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aa) Berührt eine zivilrechtliche Entscheidung die Meinungsfreiheit, so fordert Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG, dass die Gerichte der Bedeutung dieses Grundrechts bei der Auslegung und Anwendung des Privatrechts Rechnung tragen (vgl. BVerfGE 7, 198 [206 ff.]; 86, 122 [128 f.]; stRspr). Die angegriffenen Urteile beruhen auf § 1 UWG, einer Vorschrift des bürgerlichen Rechts. Dessen Auslegung und Anwendung auf den einzelnen Fall ist Sache der Zivilgerichte. Das Bundesverfassungsgericht kann nur eingreifen, wenn Fehler erkennbar werden, die auf einer grundsätzlich unrichtigen Anschauung von der Bedeutung eines Grundrechts, insbesondere vom Umfang seines Schutzbereichs, beruhen und auch in ihrer materiellen Bedeutung für den konkreten Rechtsfall von einigem Gewicht sind (vgl. BVerfGE 18, 85 [92 f.]; stRspr). Das ist hier der Fall.
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bb) Der Bundesgerichtshof hat zwar zutreffend erkannt, dass es sich bei den Anzeigen um Meinungsäußerungen handelt, die wirt ![]() ![]() | 52 |
Einschränkungen des für eine freiheitliche demokratische Staatsordnung schlechthin konstituierenden Rechts der freien Meinungsäußerung (vgl. BVerfGE 20, 56 [97]; stRspr) bedürfen grundsätzlich einer Rechtfertigung durch hinreichend gewichtige Gemeinwohlbelange oder schutzwürdige Rechte und Interessen Dritter. Das gilt für kritische Meinungsäußerungen zu gesellschaftlichen oder politischen Fragen in besonderem Maße. Dazu geben die angegriffenen Urteile jedoch keine Hinweise. Auch sonst ist dazu nichts ersichtlich.
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aaa) Nach Auffassung des Bundesgerichtshofs untersagt § 1 UWG ein Werbeverhalten, das mit der Darstellung schweren Leids von Menschen und Tieren Gefühle des Mitleids erweckt und diese Gefühle ohne sachliche Veranlassung zu Wettbewerbszwecken ausnutzt, indem der Werbende sich dabei als gleichermaßen betroffen darstellt und damit eine Solidarisierung der Verbraucher mit seinem Namen und seiner Geschäftstätigkeit herbeiführt.
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Dieses vom Bundesgerichtshof in Auslegung des § 1 UWG formulierte Sittenwidrigkeitsurteil ist als Anstandsregel durchaus billigenswert und dürfte als solche von weiten Teilen der Bevölkerung akzeptiert werden. Dahinter steckt der Wunsch, in einer Gesellschaft zu leben, in der auf Leid nicht mit gefühllosem Gewinnstreben, sondern mit Empathie und Abhilfemaßnahmen, also in einer primär auf das Leid bezogenen Weise reagiert wird. Ob damit zugleich hinreichend gewichtige öffentliche oder private Belange geschützt werden, ist jedoch nicht ohne weiteres erkennbar.
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bbb) Dass von den Anzeigen eine nennenswerte Belästigung des Publikums ausgehen könnte, wie der Kläger des Ausgangsverfahrens meint, nimmt der Bundesgerichtshof selbst wohl nicht an. Verletzungen des guten Geschmacks oder eine schockierende Gestaltung von Anzeigen hält er nicht für sittenwidrig im Sinne von § 1 ![]() ![]() | 56 |
Soweit der Kläger des Ausgangsverfahrens die Anzeigen als zudringlich und belästigend einstuft, weil sie mit suggestiver Kraft an Gefühle der Verbraucher appellieren, die mit den Produkten des werbenden Unternehmens oder seiner Geschäftstätigkeit in keinem Zusammenhang stehen, kann dem nicht gefolgt werden. Ein Großteil der heutigen Werbung ist durch das Bestreben gekennzeichnet, durch gefühlsbetonte Motive Aufmerksamkeit zu erregen und Sympathie zu gewinnen. Kommerzielle Werbung mit Bildern, die mit suggestiver Kraft libidinöse Wünsche wecken, den Drang nach Freiheit und Ungebundenheit beschwören oder den Glanz gesellschaftlicher Prominenz verheißen, ist allgegenwärtig. Es mag zutreffen, dass der Verbraucher diesen Motiven gegenüber "abgehärtet" ist, wie der Kläger des Ausgangsverfahrens vorträgt. Ein solcher Gewöhnungseffekt rechtfertigt es jedoch nicht, einem Appell an das bisher weniger strapazierte Gefühl des Mitleids belästigende Wirkungen zuzuschreiben.
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ccc) Belange der Wettbewerber oder Grundsätze des Leistungswettbewerbs sind ebenfalls nicht betroffen. Der Bundesgerichtshof hebt dies ausdrücklich hervor. Dazu ist auch nichts ersichtlich. Produktunabhängige Imagewerbung hat sich eingebürgert, ohne dass der Leistungswettbewerb darunter erkennbar gelitten hat. Wettbewerber, die eine vergleichbare Werbung für geschäftsfördernd erachten, können davon ebenso Gebrauch machen wie die Firma Benetton. ![]() | 58 |
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eee) Gemeinwohlbelange sind nicht betroffen. Der Umweltschutz, der durch Art. 20 a GG in den Rang eines Staatsziels erhoben worden ist, wird durch die dieses Thema betreffende Anzeige (ölverschmutzte Ente) offensichtlich nicht beeinträchtigt. Dass kommerzielle Werbung, die inhumane Zustände anprangert (Kinderarbeit, Abstempelung von H.I.V.-Infizierten), Verrohungs- oder Abstumpfungstendenzen in unserer Gesellschaft fördern und einer Kultur der Mitmenschlichkeit im Umgang mit Leid abträglich sein könnte, lässt sich jedenfalls mit Bezug auf die streitigen Anzeigen nicht feststellen.
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cc) Insgesamt rechtfertigt allein das vom Bundesgerichtshof als Bestandteil der guten kaufmännischen Sitte bezeichnete Prinzip, dass Mitgefühl mit schwerem Leid nicht zu Werbezwecken erweckt und ausgenutzt werden dürfe, den Unterlassungsausspruch im Lichte des Grundrechts aus Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG nicht. Gemeinwohlbelange oder schutzwürdige Interessen Privater werden, wie gezeigt wurde, nicht berührt.
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Auf der anderen Seite wird die Meinungsfreiheit hier in schwerwiegender Weise beeinträchtigt. Die Anzeigen weisen auf gesellschaftlich und politisch relevante Themen hin und sind auch geeignet, diesen öffentliche Aufmerksamkeit zu verschaffen. Der besondere Schutz, unter den Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG gerade solche Äußerungen stellt, wird nicht dadurch gemindert, dass sie, wie der Bundesgerichtshof meint, zur Auseinandersetzung über das aufgezeigte Elend nichts Wesentliches beitragen. Auch das (bloße) Anprangern eines Missstandes kann ein wesentlicher Beitrag zur freien geistigen Auseinandersetzung sein. Ob eine Äußerung weiterführend ist oder ob sie sich eines Lösungsvorschlages enthält, beeinflusst den Grund ![]() ![]() | 62 |
Die anprangernde, gesellschaftskritische Wirkung der Anzeigen wird durch den Werbekontext nicht in Frage gestellt. Eine Thematisierung gesellschaftlicher Probleme in Werbeanzeigen ist zwar unüblich und kann durch den Zusammenhang mit dem Unternehmensgegenstand der Firma Benetton in der Tat befremdlich wirken. Doch wird dadurch auch für den unbefangenen Betrachter die Ernsthaftigkeit der Botschaft nicht in Frage gestellt. Wäre es anders, könnte sie bei diesem kein Mitleid hervorrufen.
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dd) Nach allem hat der Bundesgerichtshof mit der seiner Entscheidung zugrunde gelegten Lauterkeitsregel § 1 UWG in einer Weise ausgelegt, die einer Prüfung im Lichte der Meinungsfreiheit nicht standhält. Schon deshalb kommt die genannte Vorschrift in dieser Auslegung als Grundlage für einen Eingriff in die Pressefreiheit der Beschwerdeführerin nicht in Betracht. Das allein auf die Auslegung des § 1 UWG im Sinne der genannten Regel gestützte Urteil zu 1 BvR 1787/95 (ölverschmutzte Ente, Kinderarbeit) ist daher aufzuheben. Die Sache ist an den Bundesgerichtshof zurückzuverweisen.
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ee) Das angegriffene Urteil in der Sache 1 BvR 1762/95 beruht nicht allein auf der bereits erörterten Auslegung des § 1 UWG. Der Bundesgerichtshof hält die diesem Verfahren zugrunde liegende Anzeige (H.I.V. POSITIVE) vielmehr auch deshalb für wettbewerbswidrig, weil sie in grober Weise gegen die Grundsätze der Wahrung der Menschenwürde verstoße, indem sie den AIDS-Kranken als "abgestempelt" und damit als aus der menschlichen Gesellschaft ausgegrenzt darstelle.
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aaa) Dieser Begründung ist im Ansatz beizupflichten. Eine Auslegung des § 1 UWG dahin, dass eine Bildwerbung sittenwidrig ist, die die Menschenwürde abgebildeter Personen verletzt, ist verfassungsrechtlich unbedenklich. Sie trägt einem Schutzgut Rechnung, das Beschränkungen der Meinungsfreiheit auch in dem besonders ![]() ![]() | 66 |
bbb) Die Anwendung dieser Grundsätze auf die diesbezügliche Anzeige (H.I.V. POSITIVE) hält jedoch einer Prüfung am Maßstab des Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG nicht stand. Grundsätzlich unterliegt die Deutung von Äußerungen, die durch Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG geschützt sind, nur insofern der Nachprüfung durch das Bundesverfassungsgericht, als es die Beachtung der verfassungsrechtlichen Anforderungen zu gewährleisten hat. Es ist nicht Aufgabe des Bundesverfassungsgerichts, den Sinn einer umstrittenen Äußerung abschließend zu bestimmen oder eine unter Beachtung der grundrechtlichen Anforderungen erfolgte Deutung durch eine andere zu ersetzen, die es für treffender hält. Zu den grundrechtlichen Anforderungen gehört aber, dass die Äußerung unter Einbeziehung ihres Kontextes ausgelegt und ihr kein Sinn zugeschrieben wird, den sie objektiv nicht haben kann. Bei mehrdeutigen Äußerungen müssen die Gerichte sich im Bewusstsein der Mehrdeutigkeit mit den verschiedenen Deutungsmöglichkeiten auseinander setzen und für die gefundene Lösung nachvollziehbare Gründe angeben (vgl. BVerfGE 94, 1 [10 f.]).
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Der Bundesgerichtshof deutet die "H.I.V. POSITIVE"-Anzeige dahin, dass sie den AIDS-Kranken als "abgestempelt" und damit als aus der menschlichen Gesellschaft ausgegrenzt darstelle. An anderer Stelle heißt es, die Anzeige stigmatisiere den AIDS-Kranken in seinem Leid und grenze ihn gesellschaftlich aus. Einer aufkeimenden Mentalität des "Abstempelns" bestimmter Mitglieder der Gesellschaft sei entgegenzuwirken. Zumindest von H.I.V.-Infizierten selbst müsse die Anzeige als grob anstößig und ihre Menschenwür ![]() ![]() | 68 |
In diesem Sinne eindeutig ist die Anzeige jedoch nicht. Sie zeigt kommentarlos einen Menschen, der als "H.I.V. POSITIVE" abgestempelt erscheint. Dass damit der skandalöse, aber nicht realitätsferne Befund einer gesellschaftlichen Diskriminierung und Ausgrenzung H.I.V.-Infizierter bekräftigt, verstärkt oder auch nur verharmlost wird, drängt sich nicht auf. Mindestens ebenso nahe liegend ist die Deutung, dass auf einen kritikwürdigen Zustand - die Ausgrenzung H.I.V.-Infizierter - in anklagender Tendenz hingewiesen werden soll. Mit dem Foto könnte, wie die Beschwerdeführerin zutreffend anmerkt, auch für einen AIDS-Kongress geworben werden.
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Die Bildsprache ist zwar reißerisch und in einem konventionellen Sinne ungehörig. Von dem abgebildeten Menschen sieht man nichts als die obere Hälfte des nackten Gesäßes, auf dem in schwarzen Großbuchstaben die Abkürzung "H.I.V." und darunter, schräg versetzt, das Wort "POSITIVE" wie aufgestempelt erscheinen. Allein daraus lässt sich aber weder Zynismus noch eine affirmative Tendenz ablesen. Die Darstellung ist, dem Medium einer Werbeanzeige entsprechend, darauf angelegt, die Aufmerksamkeit des Betrachters zu fesseln.
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Eine Deutung der Anzeige im Sinne eines kritischen Aufrufs wird auch durch den Werbekontext nicht in Frage gestellt. Dass ein Unternehmen der Textilbranche Imagewerbung mit ernsthaften gesellschaftspolitischen Themen betreibt, ist ungewohnt und steht in auffallendem Kontrast zur branchenüblichen Selbstdarstellung der Wettbewerber. Dies mag Zweifel an der Ernsthaftigkeit der kritischen Absicht nähren und im Sinne des vom Bundesgerichtshof formulierten Lauterkeitsgebots als anstößig empfunden werden. Der Eindruck indes, dass die Anzeige ihrerseits die H.I.V.-Infizierten stigmatisiere oder ausgrenze, wird auch durch den Werbekontext nicht hervorgerufen. Ihre kritische Tendenz, ihre aufrüttelnde Wirkung bleiben unübersehbar. Anders wäre es vielleicht, wenn mit der Anzeige für ein konkretes Produkt geworben würde; in der Verknüpfung mit bestimmten Gebrauchsgegenständen und Dienstlei ![]() ![]() | 71 |
ff) Das mit der Verfassungsbeschwerde 1 BvR 1762/95 angegriffene Urteil (H.I.V. POSITIVE) genügt damit nicht den Anforderungen, die zum Schutz der Meinungsfreiheit an die Deutung von Meinungsäußerungen zu stellen sind. Der Bundesgerichtshof hat die nahe liegende Möglichkeit verkannt, dass mit der Anzeige die öffentliche Aufmerksamkeit in kritischer Absicht auf eine tatsächlich anzutreffende Diskriminierung und Ausgrenzung AIDS-Kranker gerichtet werden sollte. In dieser Deutung liegt eine Verletzung der Menschenwürde von AIDS-Kranken nicht vor. Bei seiner erneuten Befassung mit der Sache wird der Bundesgerichtshof der aufgezeigten Deutungsalternative nachzugehen haben.
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II. | |
Da die angegriffenen Urteile schon wegen einer Verletzung von Art. 5 Abs. 1 Satz 2 erste Alternative GG aufzuheben sind, braucht auf den von der Beschwerdeführerin ebenfalls gerügten Verstoß gegen den allgemeinen Gleichheitssatz sowie auf die Möglichkeit einer Verletzung von Art. 5 Abs. 3 GG nicht eingegangen zu werden.
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Papier, Kühling, Jaeger, Hömig, Steiner, Hohmann-Dennhardt![]() | |
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